Paul-Henri Campbell: Zu Serhij Zhadans Gedicht „Aus: Antenne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Serhij Zhadans Gedicht „Aus: Antenne“ aus Serhij Zhadan: Antenne

 

 

 

 

SERHIJ ZHADAN

Aus: Antenne

Und davon eben will ich erzählen:
vom grünen Auge des Dämons am farbigen Himmel.
Vom Auge, das aus den Kulissen
aaaaaaaaaaeines Kindertraums schaut.
Vom Auge des Freaks, in dem
aaaaaaaaaaAngst und Entzücken wechseln.

Alles hat mit Musik angefangen,
mit den Narben, die der Gesang hinterließ
bei Gleichaltrigen auf Hochzeiten im Herbst.

Erwachsene, die Musik machten.
Erwachsensein, bestimmt von der Fähigkeit,
aaaaaaaaaaMusik zu machen.
Als mischte sich eine weitere Note in die Stimme,
die Glück birgt,
als wäre in Männern dieser Instinkt angelegt:
Jäger und Chorsänger zu sein.

Musik, das ist der Karamellatem der Frauen,
das Tabakhaar der Männer, die sich widerwillig
rüsten zum Messerkampf mit dem Dämon,
der ungebeten auf der Hochzeit erscheint.
Musik hinterm Friedhofszaun.
Blumen, die den Frauen aus der Tasche wachsen,
Schüler, die in die Öfen des Todes schauen.

Am tiefsten ausgetreten sind die Pfade
aaaaaaaaaazum Friedhof und zum Wasser.

 

Der in der im äußersten Osten der Ukraine

gelegenen Luhansk-Region geborene Dichter Serhij Zhadan (*1974) ist ein vielfarbiges Chamäleon. Kaum einen jungen Menschen gibt es in seiner Heimat, der oder die nicht seine eingängigen Texte kennt und oft auch auswendig vor sich hin summt. Mit seiner Band Sobaky w kosmossi (Hunde im Kosmos) schruppt er krasse Rockkonzerte herunter und schenkt seinen Landsleuten, die gerade ihre eigene Identität zwischen Russland und Europa für sich entdecken und – wehrhaft – gegen die illegale Beschneidung und Besetzung ihres Landes zu verteidigen wissen, Visionen einer möglichen Zukunft. Zugleich ist dieser sonderbare Mensch, der z.B. eine Organisation zum Schutz junger Displaced Persons aus den ostukrainischen Kriegsgebieten ins Leben gerufen hat und zahlreiche karitative Initiativen unterstützt, ein Übersetzer von Paul Celan und ein intimer Kenner des ukrainischen Futurismus. Er ist ein Dichter, der nicht bittet, sondern handelt. In seinen Romanen (etwa Depeche Mode, 2007) oder dem Kriegsbericht in Prosa und Lyrik Warum ich nicht im Netz bin (2016) entwickelte er Erzählformen, die die Gegenwart der ukrainischen Erfahrung zwischen ruinösem Postsozialismus und nationaler Selbstbestimmung zur Sprache bringen. Aber verwunderlich ist es nicht, dass dieser aktivistische Mensch auch Texte schreibt, wie diesen Auszug aus seinem 2020 erschienenen, von Claudia Dathe in eine atemberaubende Poesie übersetzten Band Antenne. Einmal sagte er zu mir: „Da war ich auf einem Friedhof und schaute die Grabsteine an. Fast zu allen Leuten da konnte ich irgendetwas sagen.“ Seine „Antenne“ nimmt auch die verrauschtesten Signale aus dem Jenseits wahr und entwirft ein zartes, oft auch humorvolles, immer empathisches Requiem für seinen verstorbenen Vater. Dabei entdeckt er auch sich neu, denn, wie Serhij Zhadan selbst zu diesen Texten anmerkt: „Das Schreiben verrät uns, es personifiziert uns. Aber es entpersönlicht uns auch. Wenn wir keine Erfahrung haben und nicht richtig damit umgehen, uns das Schreiben nicht dienstbar machen können, verlieren wir einfach unsere Intonation, verlieren wir unsere Stimme, wir fabrizieren Buchstaben, fügen sie zu Wörtern, bilden daraus Sätze, bilanzieren die Zeit, die bis auf das Wetter keine Anhaltspunkte bietet.“

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 4, 2020

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