Paul-Henri Campbell: Zu Szilárd Borbélys Gedicht „1. [Allegorie I.]“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Szilárd Borbélys Gedicht „1. [Allegorie I.]“ aus Szilárd Borbély: Berlin Hamlet

 

 

 

 

SZILÁRD BORBÉLY

1. [Allegorie I.]

Das durchbohrte Herz, an das die Liebenden
glauben, gemahnt mich an meine
Aufgabe. Nach einem Führer sehnte ich mich

immer. Der Geist meines Vaters erzog mich
zur Grausamkeit. Was er im Leben versäumt,
wollte er im Tod nun nachholen. Meine

Erziehung fand ich nicht zufriedenstellend.
Der Geist unserer Zeit ist zu freizügig
mir. Meine Verachtung gilt den Schwachen.

 

Die Leiden Marias

verbildlicht die christliche Ikonographie nicht selten mit dem „durchbohrten Herz“. Dieses Symbol ist so kitschig, dass es nicht nur zu einer beliebten Tätowierung avancierte, sondern so manche religiöse Kleinarchitektur ziert. Der ungarische Schriftsteller Szilárd Borbély (1963–2014) ist sich jedoch in diesem Poem aus Berlin Hamlet (2000) nicht zu schade, auch das Klischee des Dantesken Seelenführers sowie Shakespeares Geist des Vaters („majesty of buried Denmark“) gleich als weiteren Gemeinplatz nachzuschieben. Doch das Gedicht trägt eine Genrebezeichnung als Titel: Allegorie. Diese Gedichte, wie die Übersetzerin Heike Flemming in einem detaillierten Nachwort informiert, entstehen, nachdem der Vater des Autors wenige Monate vorher verstorben war: Dieser Vater hatte zuvor nur knapp einen Anschlag überlebt, bei dem seine Frau (also Borbélys Mutter) durch einen Axthieb ermordet worden war. Borbély bearbeitet diesen Stoff mehr allegorisch als psychologisch. Er schlachtet nicht seine Biografie aus, sondern abstrahiert, universalisiert. In seinen Reflexionen zum Zyklus schreibt Borbély: „Mord [ist] überall anwesend: Krimis, Action-, Horror- und Fantasyfilme, aber auch [in den] Nachrichten. […] Die Welt lebt im Bann des Mordes, das Opfer aber ist entweder ein zufälliges Opfer oder es hat den Tod verdient oder es ist einfach böse.“ Als Konsequenz positioniert Borbély das literarische Werk als Gegenentwurf, als „ein sehr starkes Symbol […], ein sehr stark wirkendes, tiefgreifendes Geschehen, […] eine Art Muster“. Dem Mord die Sinnlosigkeit zu nehmen, dem Tod des Ermordeten einen Sinn zu geben, das versucht dieses fast 50 Sequenzen umfassende Allegorien-Spiel.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00