Paul-Henri Campbell: Zu William S. Merwins Gedicht „Herzland“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu William S. Merwins Gedicht „Herzland“ aus William S. Merwin: Der Schatten des Sirius. –

 

 

 

 

WILLIAM S. MERWIN

Herzland

Von Beginn an gehörte es der Ferne
wie die blaue Farbe des Berges

und obwohl es irgendwo auf einer Karte existierte
und durch Zufall entdeckt werden könnte
und gelegentlich vielleicht
sogar wiedererkannt

überlebte es jenseits
dessen was damals gewusst werden konnte
in seiner archaischen
nicht unterrichteten Sprache
die die Bienen zum Rosmarin bringt

viele Jahre nachdem es gefunden worden war
blieb sein wahrer Name
auf der anderen Seite des Wissens

doch es war noch immer da
wie eine Jahreszeit die gewechselt hat
aber im Licht erscheint

am ungesprochenen Morgen

 

Wie man über die Provinzen spricht,

während Rom brennt, sagt einiges über den Charakter des Sprechers. Ist das platte Land das „Heartland“ oder „Flyover Country“? Doch obwohl W.S. Merwin (geb. 1927) schon zahlreiche hochpolarisierte Jahre in Amerika – wie die Zeit des Vietnamkriegs – durchlebt hat, gehört die Dichotomie Stadt-Land wohl weniger zu den Streitständen seiner Poesie. Umgekehrt: Merwin entwirft in diesem Spätgedicht, das sich in dem herrlich übersetzten Band Der Schatten des Sirius findet, eine Phänomenologie Arkadiens. Heartland, das immer jungfräuliche, weil unentdeckbare Land. Während Gedichte aus Büchern wie The Lice (1967) alle agitierte Sorge um die Zukunft des amerikanischen Charakters aufnahmen und in kräftigen Bildern hinstanzten, so scheinen mir diese späten Texte, wie etwa „Herzland“, milde Liebkosungen zu sein, ein Hinüberschweifen des Blickes eines neunzigjährigen Auguren, der immer mehr das Unzerstörbare am Menschen sieht, als die „slings and arrows of outrageous fortune“, worüber sich die blassbebrillten jungen Zauderer echauffieren mögen. Im Gedicht „Heartland“ dominiert der Eindruck eines Locus amoenus, gleichwohl öffnet der Text mit „Von Beginn an gehörte es der Ferne / wie die blaue Farbe des Berges“. Geht es hier um eine optische Illusion oder um eine Naturerscheinung, um den durch wässrigen Dunst noch mehr entrückten Berg? Hat dieses „Herzland“ einen doppelten Boden? Woher kommt „die blaue Farbe des Berges“ bei W.S. Merwin? Meinen diese Zeilen z.B. die mittelalterliche Malstrategie, die auf das Verblauen von Hintergrundlandschaften setzte, oder die später entwickelte Technik des Sfumato, das den Hintergrund wie verschwommen unscharf darstellt? So hätte das Gedicht „Heartland“ die augenblickliche Idylle des Hinterlandes gleich getrübt in einer Erinnerung an ihre idealisierende Gemachtheit. William Carlos Williams etwa wurde in seiner Essaysammlung In the American Grain (1925) nie müde, den fiktionalen Charakter der Landschaft zu betonen. Das, was über sie zu wissen war, bleibt erfunden, schrieb Williams in dem Essay über die „Entdeckung“ Kentuckys. Ihre Unentdeckbarkeit, ihre ständige, namenlose Potenz – „die die Bienen zum Rosmarin bringt“.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2018

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