Paul Michael Lützeler: Zu Hermann Brochs Gedicht „Diejenigen, die im kalten Schweiß“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Brochs Gedicht „Diejenigen, die im kalten Schweiß“ aus Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Band 8. Gedichte. –

 

 

 

 

HERMANN BROCH

Diejenigen, die im kalten Schweiß

Diejenigen, die im kalten Schweiß der Hinrichtung
täglich, nächtlich erbleichten,
die höllenhaft Fiebernden
hätten heute ein Recht zu singen,
und wenn sie es täten,
sie täten es in fürchterlich neuer Sprache,
in der kein Wort dem andern
mehr ähnelt.

Aber sie schweigen; sie tragen
den Knebel des Schicksals
weiter in ihren Mündern zwischen den schmerzenden Kiefern,
denn was sie zu sagen hätten wäre uns
stumm, ein schrilles Glucksen der Zerstörung;
darum hat uns, die wir es hören müßten,
das Schicksal die Ohren verstopft.

Wir starren sie an, sie starren uns an:
die Augen, die ihren, die unsern,
vermögen noch zu blicken
und sich vorzulügen,
daß sie die Menschengestalt sehen.

Wehe, wenn einer spricht.

 

Die Sprache der Opfer

New York 1940: Zwei Jahre war es her, daß Broch – trotz anfänglicher Haft – aus dem anschlußberauschten Wien nach England und wenige Monate später in die Vereinigten Staaten entkommen konnte. Über die Todesängste und die Verzweiflung, die ihn während seiner Gefängniszeit und der Fluchtvorbereitung überkamen, hat er nur in Andeutungen berichtet, aber sein gesamtes Exilwerk ist indirekter und direkter Ausdruck davon, sich dieser Ängste und – das vor allem – ihrer Ursachen zu erwehren. Dieses Gedicht entstand Jahre vor Auschwitz und spricht doch schon vom Holocaust. Broch hatte seit 1933 vorausgesehen, worauf Hitlers Politik hinauslief. Das zeigen nicht nur seine Briefe, sondern auch sein Roman Die Verzauberung (1935) und seine Völkerbund-Resolution (1936/37). Seit Mitte der dreißiger Jahre befand er sich in dem Dilemma, als Schriftsteller zu erkennen, daß Literatur und Kunst unangemessene Mittel im Kampf gegen den Hitlerismus waren (daher seine zahlreichen Arbeiten zur Theorie der Demokratie, zum Massenwahn des Faschismus, zu den Menschenrechten). Aber gleichzeitig weiß er, daß nur die dichterische Sprache in der Lage wäre, den Schmerz, die Verzweiflung, das bisher ganz unvorstellbare Grauen in Hitlers Kerkern und Konzentrationslagern auszudrücken. Nur in der authentischen Sprache der Dichtung vermag man – mit Broch zu sprechen – die „neuen Realitäten“ zu artikulieren, Realitäten, denen mit zweckrationalen Sprachmitteln (etwa denen der Wissenschaft) nicht beizukommen ist.
Doch gelangt auch die Dichtung angesichts des Terrors und des Mords der Hitlerzeit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Aber sie schweigen: die Ängste und Qualen der Hingerichteten können von den Lebenden oder den Überlebenden niemals vermittelt werden. Brochs Gedicht erinnert an die Opfer. Er sucht nicht, das Unsagbare ihrer Leiden sprachlich „angemessen“ zum Ausdruck zu bringen. „Das Wehe, wenn einer spricht“ am Schluß ist doppelsinnig: es bezieht sich auf die Opfer, deren Sprache den Lebenden unerträglich wäre, aber es meint auch die Versuche der Überlebenden, die Leiden der Opfer dichterisch erfaßbar zu machen. Seinen eigenen Todesängsten hat Broch im Roman Tod des Vergil Ausdruck verliehen, aber er hätte es als vermessen bezeichnet, die Sprache der hingerichteten Opfer sprechen zu wollen. Dantes Inferno ist Literatur einer vergangenen Zeit. Anspielungen darauf in diesem Gedicht wie auch im Tod des Vergil vermögen nicht annähernd zu verdeutlichen, was eine Sprache ist, „in der kein Wort dem andern / mehr ähnelt“.
Es ist wohl nur Paul Celan gelungen, die Stimmen der Toten des Holocaust zu hören und eine Ahnung ihrer „fürchterlich neuen Sprache“ zu vermitteln. Wer sich darauf mit seiner ganzen Existenz einläßt, wird zum Grenzgänger zwischen Tod und Leben, steht in der ständigen Gefahr, „sich vorlügen“ zu müssen, den Menschen noch in „Menschengestalt“ zu sehen.

Paul Michael Lützeleraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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