Paulus Böhmer: Aktionen auf der äußeren Rinde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paulus Böhmer: Aktionen auf der äußeren Rinde

Böhmer: Aktionen auf der äußeren Rinde

AUF KÄFERSCHULTERN
(Für meine Hagia Sofia Lydia)

du niobe auf meinem kühler
du wüste tier aus hüftenland
mein salz mein tropfsteinhöhlenelf
rundschülterchen aus estragon
bestückt mit propheten und klimpernden brüsten
netzt du den durst mit haarspringflut
du wolkenlamm aus karamell
du bundeslade ganz aus süß
du kückenlust
du duftmamsell
du irritiertes tierchen: raupe
mit glitzernden behutsamen
bewegungen die den
zärtlichkeiten deiner fasern entsprechen
jiff jiff

purpureuter lümmeln sich auf
den feldern
ach
träumen von löschpapierstädten aus denen sie
mit seiner fidel einst moische vertrieb
und überhaupt!
totgeglaubt
erwürgt von verirrten lieferscheinen
angefallen von drei wahlgängen
aber auf einmal
kantapper kantapper
aus dem dschungel gerollt
reitet der auf käferschultern
über den see genezareth und läßt
giftige psalmen mit hummeln vermischt
auf uns los
nicht nur den purpureutern nein auch der schnapsmaus
gerinnt
(vergleichsweise)
das wälsungenblut

fintierte blitze und alleskleber summieren
sich um die worte
bahnhofsköpfe aus eingeweichtem papier
verhalten sich umgekehrt bei den frauen
allahs flügel drehen sich knarrend in ihren gelenken
wie ein selbstgemachtes gedicht
die köpfe halten es nicht mehr aus unter den jodtropfenden
gebüschen
eine flotte blutunterlaufener augen kentert
von den quietschlauten die die himmel
lakritzstangen gebärend
ausstoßen
und dann biegt genau um 12 uhr eine
entsetzlich schöne end-
vierzigerin in meinen selbst-
bedienungsladen ein

stelzchen stelzchen hoch
glitzerndes feines metällchen
stelzchen stelzchen
ach federchen federchen
hinunter
herunter
strudelstille
stille
libellen jagen die gedanken
und lassen sie niederregnen auf
lauernde wasser
spanlange haartiere
wispern
aufbäumen
saurier trampeln weit unten
oh schöne ernte der propheten
komm darwin komm!

 

 

 

Paulus Böhmer

demontiert die „Wirklichkeit“ (und Langeweile) der klassischen Story. Seine Geschichte benutzt freie Lyrik, um Erzählung und Dokumentation zu verbinden, die außerordentlichen Assoziationen und Bilder kommen mit einer Leichtigkeit einher wie das „Inside ist out und outside is in“ der Beatles. Modische Begriffe wie Trivialliteratur, Collage, Cutup etc. fallen bei diesem Text nur Betrachtern der komplizierten Typographie ein. Lesern leuchtet der Text ein.

März Verlag, Klappentext, 1972

 

Körper-Obsessionen und Mittelachsen-Poeme

Nach Abschluß seiner Lehre im Jahre 1965 versuchte sich Böhmer endgültig als freier Schriftsteller und Künstler zu etablieren, zunächst ein knappes Jahr in München, seit 1966 wieder in Frankfurt am Main, wo er bis zu seinem Tode lebte. Doch konnte er weiterhin von seiner Kunst nicht leben und blieb noch fast drei Jahrzehnte lang auf die verschiedensten Nebentätigkeiten zum Broterwerb angewiesen. Das begann noch 1966 mit einer kuriosen, bis 1973 gelebten Spagat-Existenz: drei Tage in der Woche arbeitete er in seinem Kindheitsort Nieder-Ofleiden als Teilhaber einer Stauden- und Ziergras-Gärtnerei, die restliche Zeit widmete er sich in Frankfurt seiner Kunst. Die wichtigsten literarischen Arbeiten dieser Jahre versammelte er in dem 1972 im Frankfurter März-Verlag (von dem noch die Rede sein wird) erschienenen Buch Aktionen auf der äußeren Rinde 1966–1969.1
Es handelt sich um eine lockere, durch zehn eher absurd-willkürliche Kapitelüberschriften gegliederte Text-Bild-Collage.2 In den Text-Partien wechseln kürzere Prosa-Passagen ab mit dokumentarisch eingefügten Lesefrüchten aus Zeitungsausschnitten sowie mehreren, teils figürlich gesetzten Gedichten und Langgedichten. Unterbrochen werden die Texte von mehreren, auffällig kontrastarmen und vergrauten Schwarzweiß-Abbildungen, die offenbar einer gemeinsamen, älteren Vorlage entnommen sind, möglicherweise einer Art medizinischem Lehr- und Handbuch. Darin sind Pflegerinnen oder Krankenschwestern zu sehen, die, gewandet in steifleinerne Kittel, Schürzen und Hauben, mehr oder weniger unbekleidete Patienten verarzten, indem sie ihnen Bäder bereiten, Wunden verbinden oder Prothesen anlegen. Natürlich meint die im Titel des Buches genannte „äußere Rinde“ die Haut des menschlichen Körpers. Und die „Aktionen“ sind die Zurichtungen, Traktierungen und Folterungen, die ihm in Alltag, Sport, Medizin und Sexualität angetan werden, und zwar nicht nur in diesen Abbildungen, sondern auch in den Texten, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Dazu gehören neben Prosaskizzen auch mehrere längere Gedichte, die hier erstmalig eine für das weitere lyrische Schaffen Böhmers kennzeichnende äußere Form aufweisen, nämlich die Zentrierung der Zeilen um eine Mittelachse, wie in dem folgenden, titellosen Gedicht.

früher bestand das weibliche hirn aus juckreiz
früher schwebte das weibliche wesen
schußwundengleich in den morgen
früher hirnten die weiblichen reize mit juck
die schüsse schwebten über den wunden
die tage bestanden aus juckenden weibern
oh
früher
begann das weibliche hirn mit schußreiz
über dem erdboden schwebend bestand es aus
juckenden wunden
früher
begann der schußtag mit weib
das weib mit juck
der juck mit reiz
über dem erdboden schwebend reizten die weiblichen
hirne den schuß
die schwimmende erde bestand aus weiblichen hirnen

die menschlichen wesen bestanden aus reizenden wunden
die erde aus schwebenden morgen
früher begann der tag mit weib während
der juckreiz über dem hirn schwebte und
das menschliche wesen mit hirn begann und
der morgen über reizenden wesen in
einer schußwunde schwamm
früher
bestand das weiblicher wesen aus einem schuß der
als juckreiz begann früher
schwebten die schußwunden über dem hirn
während die erde aus wunden bestand und
der tag
wie ein menschliches wesen
am hirn sich juckte
früher schwammen die schußwunden
wie juckreize ins weibliche hirn
über der weiblichen wunde
schwebte der tag
er bestand aus beginnendem schuß
aus schwimmenden hirnen die
über die schußwunden schwammen die
wie menschlichre wesen begannen wie
reize aus schwebenden wunden
und
der morgen
bestand aus wundwundem hirn
aus schüssen
die wie menschen begannen
(noch früher
bestand der tag

aus menschlichen wesen die
aus weiblichen hirnen bestanden die
aus menschlichen wunden bestanden)
aus juckreizen schwebte das hirn
in menschen kurz vor dem schuß
die erde begann mit weiblichem juckreiz
darüber schwebten die wesen
die hirne bestanden aus weiblichem schuß
die schüsse juckten wie weiber
die weiber begannen
wie bestehende menschen zu jucken
und schwebten sogleich
schußwundengleich
in den juck
früher bestand die erde aus wesen
die aus reizen bestanden die
in weibliche wunden schwebten
schußreiz juckte das hirn
die hirnschüsse juckten die weiber
das weibliche hirn
bestand aus schwebender erde
die erde hirnte die tage
wie wesen schwebten die wesen
mit hirnschuß
in weibliche tage
.3

In der äußeren Form schließt sich Böhmer schon in diesen frühen Gedichten, wie bewußt auch immer, an das Vorbild des naturalistischen Form-Experimentierers Arno Holz an, der schon Ende des 19. Jahrhunderts von einer dezidiert „modernen“ Lyrik gefordert hatte, daß ihr zentrales Gestaltprinzip der „Rhythmus“ sein müsse, der sich bei Abschaffung der traditionellen Formelemente Reim und Strophe in dieser Mittelachsen-Zentrierung niederschlage. Aber nicht nur in diesem Druckbild, auch in der extremen Länge seiner Gedichte mit ihrer enzyklopädisch-lautspielerischen Wortlust und ihrer thematischen Entgrenzung ins Kosmisch-Universale scheint Böhmer, zumal in seinem Spätwerk, die Impulse von Holz aufzugreifen.4

Hält man sich die geradezu zwanghaft auf den Körper und die Sexualität fixierten literarischen und bildnerischen Arbeiten Böhmers aus den sechziger Jahren vor Augen, erscheint es nicht nur nachvollziehbar, sondern nachgerade konsequent, daß er, nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen, eine Zeitlang auch in der um 1970 gerade in Frankfurt boomenden Pornografie-Welle mitmischte, wie sie wesentlich von den Verlagen Melzer und März getragen wurde.
Der 1958 von Joseph Melzer in Köln gegründete, später in Düsseldorf residierende Joseph Melzer Verlag hatte vor allem Judaica und von den Nationalsozialisten verbotene Bücher wieder zugänglich gemacht. Als sich zeigte, daß sich der Verlag mit der äußerst verdienstvollen, aber wenig verkaufsträchtigen fünfbändigen Ludwig-Börne-Ausgabe (1964–68) finanziell überhoben hatte, trat 1965 der umtriebige Jörg Schröder (geb. 1938), der zuvor als Grafiker und Typograph unter anderem bei Kiepenheuer & Witsch gearbeitet hatte, in den Verlag ein, und zwar als Chef, Lektor und Hersteller in einer Person.5 Nach der Übersiedlung nach Darmstadt begann Schröder den Verlag in doppelter Weise umzustellen. Einerseits griff er die Nachfrage der Studentenbewegung und der Neuen Linken auf und veröffentlichte etwa einen Nachdruck von Victor Klemperers LTI;6 andererseits erkannte er den sich anbahnen Markt nach mehr oder minder „anspruchsvollen“ pornografischen Literatur und brachte 1967 die erste deutsche Übersetzung des einschlägig berüchtigten Romans Geschichte der O von Pauline Réage [d.i. Anne Declos] heraus, der den Verlag endgültig zu sanieren schien.7 Es kam jedoch zu Differenzen mit dem Inhaber, Schröder stieg aus und gründete im März 1969 seinen eigenen März-Verlag, in dem er seine Programm-Strategie ungehindert mit hohem output und großem, wenn auch kurzfristigem Erfolg realisierte. Er verlegte wichtige Nachdrucke linker Klassiker wie etwa Siegfried Bernfelds Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Willi Münzenbergs Propaganda als Waffe oder Franz Fanons Für eine afrikanische Revolution, aber auch Rolf Dieter Brinkmanns und Ralf-Rainer Rygullas einflußreiche Beat- und Subkultur-Anthologie Acid – Neue amerikanische Szene, Günter Amendts antiautoritäre Aufklärungsfibel Sexfront und nicht zuletzt Bernward Vespers nachgelassenes autobiographisches Romanfragment Die Reise – fast alles Texte, die auch Böhmer beeinflußt haben dürften und insgesamt ein Programm, das Karl Heinz Bohrer 1972 veranlaßte, den März-Verlag als „den kulturrevolutionären Verlag“ der BRD zu bezeichnen.8 Finanziell getragen aber wurde der März-Verlag im Wesentlichen von der ihm angegliederten Olympia Press, deren Namen und Programm Schröder dem gleichnamigen, von Maurice Girondas 1953 in Paris gegründeten, von 1967 bis 1974 in New York ansässigen Verlag erotischer Belletristik entlieh, in dem neben Henry Millers Quiet Days in Clichy, Vladimir Nabokovs Lolita und William S. Burroughs’ Naked Lunch auch die englische Erstausgabe der Story of O erschienen war. In Schröders Olympia Press erschienen nun in monatlicher Folge literarisch nicht eben anspruchsvolle, aber verkaufsträchtige pornografische Titel, meist Übersetzungen honorarfreier anonymer „Klassiker“ aus dem viktorianischen England, aber auch mit einem Pseudonym zeichnender deutscher Gegenwartsautoren. Gleichwohl ging der mit einem Mitbestimmungsmodell organisierte März-Verlag schon im Jahre 1973 in Konkurs; daraufhin gründete Schröder ihn 1974 als GmbH neu, in Kooperation mit dem Zweitausendeins Verlag, der den Vertrieb übernahm, bis auch dieses Unternehmen nach sechs Jahren am Ende war.
Für Böhmer ist der März-Verlag nicht nur deshalb von Interesse, weil hier 1972 sein oben erwähntes Buch Aktionen auf der äußeren Rinde erschien, sondern auch, weil auf Schröders kurzfristiges Erfolgsmodell der Olympia Press nun der Sohn seines ehemaligen Firmeninhabers, Abraham Melzer, ebenfalls in Frankfurt mit einem Konkurrenzunternehmen reagierte, der Zero Press, die ein ähnliches Programm bot. Deren mit über 90.000 verkauften Exemplaren erfolgreichste Publikation nämlich war der bereits 1970 erschienene Band Softgirls mit farbigen Fotos von Gunter Rambow und Texten von Paulus Böhmer, gezeichnet mit dem Pseudonym Jean Lou Verrou.9
Der Band enthielt mehrere eindeutige Fotostrecken, deren Hauptrolle die auch aus zahlreichen einschlägigen Filmen bekannt gewordene Actrice Rosemarie Heinikel übernahm, die 1971 unter dem Titel Rosy Rosy ihre inhaltlich und formal belanglose Selbstdarstellung veröffentlichte.10 Dennoch setzte sich der Band von der schmuddeligen Massenware durch die gepflegten Arrangements und vor allem durch die sorgfältigen Fotografien ab, die von dem Grafikdesigner und Fotografen Gunter Rambow (geb. 1938) stammten, der sich später durch mehrere Fotobücher und Plakatserien u.a. zu Literatur und Theater einen durchaus seriösen Namen machen sollte und von 1974 bis 2003 Professuren in Kassel und Karlsruhe innehatte. Offensichtlich um Seriosität bemüht waren auch die zum Teil hymnisch-lyrischen, als Rollenprosa den Akteuren in den Mund gelegten Texte Böhmers, die dennoch kaum über das Niveau einer schieren Blütenlese entsprechender „Stellen“ aus der erotischen Belletristik hinausragten, die Böhmer aber, wie der Spiegel behauptete, ein Honorar von 20.000 DMark eingebracht haben sollen.11
Um 1973 beendete Böhmer den strapaziösen Teilzeit-Job als Stauden- und Ziergraszüchter in Nieder-Ofleiden und versuchte sich über die ganzen siebziger Jahre bis 1983 mit wechselnden Gelegenheitsarbeiten in Frankfurt über Wasser zu halten. Einerseits verdingte er sich noch als „Reizwarenlieferant“, wie er gern formulierte, wohinter sich jedoch schlicht eine automobile Vertriebstätigkeit für Erotik-Shops in der ganzen Republik verbarg, andererseits konnte er seine sprachlichen Fähigkeiten als Werbetexter zu Geld machen, unter anderem für die renommierte Frankfurter Werbeagentur J. Walter Thompson GmbH, der er so bekannte und erfolgreiche Slogans wie „Jacobs Kaffee… wunderbar!“, „Der Miracoli-Tag“ oder „Pepsi ist Musik“ lieferte.12 Zugleich versuchte sich Böhmer mit verschiedenen Arbeiten im Literaturbetrieb zu etablieren. Für seinen langjährigen Freund Peter O. Chotjewitz illustrierte er zwei 1972 und 1973 im Fackelträger-Verlag erschienene Kinderbücher mit zahlreichen ganzseitigen Collagen,13 und ebenfalls mit Chotjewitz und Uve Schmidt schrieb er fünf Hörspiele, die zwischen 1972 und 1976 im Norddeutschen und im Hessischen Rundfunk gesendet wurden.14 Daneben setzte er mit zwei Veröffentlichungen im Friedberger Verlag der Galerie Draier seine Text-Bild-Arbeiten fort. Zunächst mit der 1977 erschienenen Mappe unter dem Titel Air Mail, die vier kurze Briefe von Paulus Böhmer mit lithographierten Miniaturen von Bernhard Jäger enthielt.15 Gewichtiger aber war der schon erwähnte Text-Bild-Band Des Edelmannes Ernst muß Luxus sein. Das mit der Widmung an seine Frau und seinen Sohn „In Liebe für Lydia und Daniel-Dylan“ versehene Buch enthält neben den schon oben erwähnten Collagen der späten 70er und frühen 80er Jahre die vielleicht am wenigsten verschlüsselten persönlichen Bekenntnisse, die Böhmer geschrieben hat. Der kurze Prosatext „Dem Schwesterchen vom Brüderchen: Aus der Ursuppenzeit“ beginnt mit folgenden Sätzen:

Meine Kindheit war eine hermaphroditische Kammer. Ich war da. Ich war nicht da. Orthopädische Kniewickler, Klavieranweisungen summten, Wälsungenblut brunstete. Heimweh ließ mich Tabellen erfinden, Fernweh stieß meinen Wasserkopf gegen Gatter. Strumpfkocher, Tantenfürze, Sanellatage, Lederhosengerüche. Der Kaplan hatte Tb, hinter dem Hochalter gurgelte Spucke, psst, wie die Mädchen im Beichtstuhl nach Maikäfer rochen, psst. Ich war da, ich war nicht da, nie war Winnetou mein Bruder.16

Autobiographisches tönt auch aus den vier in dem Band enthaltenen Gedichtzyklen, einem sechsteiligen auf die Stadt Frankfurt am Main, einem dreiteiligen auf Freunde und Freundinnen (darunter auf Uve Schmidt), einem sechsteiligen mit dem Titel „Westerwälder Sucht-Elegien“ (darunter wieder auf seine Frau Lydia und seinen Sohn Daniel-Dylan), sowie einem dreiteiligen mit dem Titel „Die Sprache des Vaters im Körper der Mutter. 3 Versuche zum Thema aus wechselnder Nähe“.17 Nach den beiden ersten, das sanft-passive mütterliche Wesen und den sexuell aggressiven väterlichen Körper beschreibenden Gedichten trägt das dritte den Titel „Für jede Eurydike“ und endet mit folgenden Versen:

Mein Archipel
mein Lapislazuli!
Du Entenfett, Du
Brombeerschnäuzchen!
Du Wimpernmaul
Du Schamhaarcantos,
mein Lullaby, mein
Eingeweide,

Du
meine Dunkelziffer,
meine Republik!
Ach, Eurydike, ach:
Nie gestillt
von ungenügender Durchdringung
paralysiert sich die Bewegung.
(Wenigstens Worte
sind manchmal absolut bi.)
Eurydike:
Du bist schön wie eine Million Waggons!
18

Von Kurt Schwitters’ Liebeserklärung an Anna Blume, an die man sich erinnert fühlen mag, unterscheidet sich das Gedicht nicht nur durch die fehlende Zurichtung auf das Lautgedicht, sondern vor allem durch die in der Bilderhäufung umkreiste Thematik. Es kann daher nicht überraschen, daß gerade dieser zwischen psychogenetischer Selbsterforschung und ihrer sprachspielerischen Auflösung in einen unendlichen Assoziationsraum von Begriffen und Requisiten des Alltags pendelnde Zyklus Böhmers auch die professionelle Sozialpsychologie und Hermeneutik interessierte. So übernahm der mit Böhmer befreundete Germanist und Psychoanalytiker Rolf Haubl, später Direktor des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, den Titel und den Text dieses Zyklus in einen gleichnamigen, 1984 im Anabas-Verlag von ihm mit herausgegebenen Sammelband mit dem Untertitel „Literarischer Sinn und Schreibprozeß.“19 Schon in seiner Einleitung zu Böhmers Buch Des Edelmannes Ernst muß Luxus sein hatte Haubl sich von dessen Lyrik auf seine Weise inspiriert gezeigt:

Paulus Böhmer ist groß und ein Alchemist unter den Lyrikern geworden. Er schreibt Ursuppenlyrik, verrührt körpereigene Substanzen, um zu ergründen, was alles hätte sein können, wenn es nicht anders gekommen wäre. Sein einsames Fest, zelebriert als eine chymische Hochzeit: Werden soll Haut, goldglänzend, die Haut des androgynen Helden – in der Stadt mit den goldenen Giebeln, die Frankfurt nicht ist. Auch die Haut der Ware schimmert wie von Gold. Die umworbenen Körper von Menschen und Sachen sind entwertet, vielleicht auf ewig. Das posierende Genitale wandert und wird bestaunt. Ihm die Gefolgschaft verweigern. Wäre das schön.20

Martin Rector, aus Martin Rector: Paulus Böhmer. Malerpoet und Lyriker des Großformats (1936–2018), Wehrhahn Verlag, 2019

 

DAS EINFACHSTE: SIE MEIDEN DIE VERGLEICHE.
Sie jubeln über größte Poesie,
Sie loben, preisen und sie feiern die,
Die sich im Hauptfeld wähnen, selten bleiche

Und blutleere Gedichtattrappen, starre
Gebilde ohne Trotz und Sprachverlangen,
Im Blick: die Ausreißer nie einzufangen,
Verfolge das schon über zwanzig Jahre.

Warum gelangt mit den Gedichten niemand
In meine Top Einhundertfünfunddreißig,
Ich hätte jetzt so gerne Gernhardt hier,

Auch Hacks und Heine, deren Sachverstand,
Auf Netzwerke und auf das Hauptfeld scheiß ich
Und lebe wohl: Am Meer. An Land. Bei mir.

(für Paulus Böhmer)

Thomas Kunst

 

Moritz Gause liest ein Gedicht für Paulus Böhmer.

 

Filmgespräch – Gunter Deller im Gespräch mit Lydia Böhmer über den Film INSELN VON DUNKELHEIT, INSELN VON LICHT – DER DICHTER PAULUS BÖHMER

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Steffen Popp: Ein Werk wie ein Wal
Welt, 20.9.2016

Paulus Böhmer mit Monika Rinck und Orsolya Kalász
haus-fuer-poesie.org, 12.10.2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne SchleyerKeystone-SDA +
Brigitte Friedrich AutorenfotosGalerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口

Nachrufe auf Paulus Böhmer:

Hessisches Literaturforum im Mousonturm
facebook.com, 7.12.2018

Christoph Schröder: Radikal ausufernd
Journal Frankfurt, 7.12.2018

Beate Tröger: Das Universum in uns
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2018

Michael Braun: Ein Rhapsode der Schöpfung
Badische Zeitung, 10.12.2018

Harry Oberländer: No home
faustkultur.de, 10.12.2018

Alban Nikolai Herbst: Ein Unbeugsamer
Die Dschungel.Anderswelt, 7.12.2018

In Erinnerung an Paulus Böhmer: Gespräch des Monats Mai 2019 im Haus für Poesie

 

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