Paulus Böhmer: WERICHBIN

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paulus Böhmer: WERICHBIN

Böhmer-WERICHBIN

Wie Hugin und Munin dem Odin,
wie Inquisition, Verachtungen, Rachen,
die quälenden, wegschleuderten Exsudate,
die Erinnerungen auf meinen Kuppen, die
Kritzeleien auf der Kopfinnenhaut, die
in dem Sud, vondem ich umgeben, sich
wie ein Hauch, Hauch um Hauch, auflösen
wie Hugin und Munin dem Odin
flüstern Exsudate, Verachtungen, Rachen, der Sud,
von dem ich umgeben, mir zu:
Verschwinde!

 

 

 

Paulus Böhmers Geheimer Pakt mit dem Unbegrenzten

Wenn es heute noch die fließende Kraft der Suggestion in der Literatur gibt, dann versteht es Paulus Böhmer, sie für sein Schreiben zu benutzen. Jenseits seichter, an irgendeine Mode angepaßter Schreiberei baut er Texttürme à la Gaudi, dessen Bauweise sogar in unserer Zeit noch nicht ganz entschlüsselt werden konnte, weshalb es immer noch rätselhaft bleibt, warum die Türme letztendlich nicht zusammenfallen. Auch in den langen Gedichten von Paulus Böhmer kann man in merkwürdigen Gerüsten herumsteigen und begreift nie genau, wodurch die „Verkettungen der Worte“ garantiert sind, wodurch Silben und Buchstaben zusammenhalten, Bögen bilden und uns in Irrgänge hineinführen, auch in die „Architektur der Maulwurfsbauten“. Sogar hier gibt es eine geheime Ordnung.
Der lange Atem des Dichters beginnt nirgends – und endet nirgends. Er konzentriert sich und transportiert Silben, löst Beziehungsgeflechte der Sprache auf, verwandelt Klänge und Bedeutungen. Der lange Atem des Dichters riecht an den Dingen, der Mund verschlingt sie und spuckt sie wieder aus. Nach welchen Kriterien wird der Evolutionsmüll durchforstet? Warum bleibt dieses Ding oder jener Name hängen im „Stoffwechselreigen“ seiner Gedichte? Sind das die Halluzinationen eines Apokalyptikers, der vor seiner Bilderwelt keine Angst hat und seit Jahrzehnten an ihnen weiterbaut? Die Böhmersche Schreibweise kann man in keinem Creative-Writing-Kurs erlernen. Sie fügt sich nirgends locker ein. Irgendein Literaturwissenschaftler wird es vielleicht einmal zu seiner Aufgabe machen, das Raffinement zu entschlüsseln, vielleicht wenn man die Texte mit der Chaostheorie in Verbindung bringt oder mit der Theorie des Rhizoms. Man braucht sich ja nur dieses Wurzelgeflecht vor Augen zu führen mit all seinen Verzweigungen und Gängen, das von einem Knoten zum anderen wuchert und in seiner Vielfalt vor allem verwirrt. Gilles Deleuze empfiehlt eine experimentelle Eroberung des rhizomatischen Textes, was immer das sein mag. Die psychoanalytische Deutung von Bildern zumindest ist langweilig geworden.
Manchmal platzen die Wörter auf und zerfransen, sammeln sich wieder zu Litaneien – oder wuchernden Serien – und werden in die Hirnschale zurückgedrückt, aber in einer anderen Formation. Natürlich bleiben sie dort nicht, sondern brechen in neuen Verzweigungen bald wieder auf zu anderen Universen, wo Schrecken und Schönheit dicht beieinander liegen. Wörter auf der Flucht? Paul Celan würde das vielleicht „Partikelgestöber“ nennen. Alles verläuft nach dem energetischen Prinzip: Einfangen und Flucht, oder man könnte auch sagen: Ansaugen und Abstoßen.
Metamorphosen vibrieren und verwandeln sich, ehe sie zu Partikeln zerfallen oder einfach zu etwas Klebrigem, Feuchtem. Das Paradox von Stillstand und Bewegung wird deutlich. Alles ist Körpermaterial. Daraus entsteht Wortmaterial. Der Prozeß der körperlichen Auflösung geht mit der Auflösung der Sprache einher. Gerade aus diesem Auflösungsprozeß heraus jedoch entsteht etwas Neues und ständig Veränderbares. Wir befinden uns inmitten eines Textkörpers, der wie eine fragmentarische Körperlandschaft wirkt. In diesen Textkörper haben sich die Albträume der Epoche eingeschrieben.
Und plötzlich dockt dieses wuchernde Wortchamäleon an die Texte seines Verwandten Lautréamont an, in dessen Gesängen des Maldoror man 187 Tiermetamorphosen gezählt hat. „Unter meiner rechten Achselhöhle lebt ein Chamäleon“, sagt Lautréamont, „Tiere kriechen aus vielen hundert Metern Menschentiefe“, sagt Paulus Böhmer. Lautréamonts immer wieder angerufener Ozean ähnelt der sexuellen Präsenz des Böhmerschen Meeres. Die spekulative Phantasie und schier unendliche Assoziationskraft jenes schwarzen Romantikers führt direkt in die Böhmerschen Sprechgesänge hinein. Beide sind so modern und rätselhaft, wie eben die Wirklichkeit der Literatur sein kann.
Das Menschentier will in den Gedichten Böhmers auch Menschenpflanze werden, Mineral oder ein Partikelhaufen. Manchmal gönnt uns der Dichter den Blick auf ein zartes Stück Fleisch. Aber das ist nur eine Täuschung. In Wirklichkeit handelt es sich um eine klaffende Wunde. Körpermetamorphosen verwirren uns, und wir können selten am Ende einer Zeile ausruhen. Gerade explodiert wieder eine Zelle mitten hinein in eine Körperfauna.
Sagen wir statt Metamorphose: Verwandlung. Und das bedeutet, daß Wortabfolgen, die von Intensitäten durchzogen sind, sich verwandeln und ihren eigenen Fluchtlinien folgen. Fast unnötig, festzustellen, daß auf diesen Wegen immer wieder Grenzen überschritten werden und sich ins Extreme, fast Endlose hinein verschieben. Kein Wunder, wenn das Weltall für Paulus Böhmer eine „platzende Metastase“ ist. Wortarmut ist wirklich nicht seine Sache.
Oft taucht der Dichter in seinem Langgedicht unter. Er hält höflichen Abstand zu uns, und doch verfolgen uns seine ruhelosen Wörter, setzen uns nach wie winzige Pfeile. Angeritzt, getroffen vom Wort „Kaddish“, trauern wir über Irre, Verlorene und Verlierer, aber wir trauern nicht nur. Wir wollen Teil seines liturgischen Sprechgesangs werden und verhaspeln uns. Das hochgradig aufgeladene, zeremonielle Wort Kaddish läßt uns immer wieder zusammenzucken. Trotzdem ist dieses Wort Kaddish wie ein Fels in der Brandung. Hunderte Male manisch wiederholt, sammelt es in seiner Aura immer neue Wörter, durchdringt sie mit Nervenfäden, bewegt uns. Schon lange stellen wir fest: Wir befinden uns auf einer beunruhigenden Wortreise, steigen immer höher hinauf in den Böhmerschen Wortturm, werden, nur noch in Gesellschaft der Wörter, schwindelig. Giftige Gedanken lagern in den Wörtern und Schönheit. Bildvisionen erstehen und zerfallen. Unklare wuchernde Gebilde entschlüpfen uns immer wieder, bilden andere Serien. Das Verlangen, nicht zu enden, verknüpft die Wortketten. Immerhin gibt es auch einen Kaddish für die „porösen Topographien der Dichtung“.

Ria Endres, Nachwort

 

Paulus Böhmer

umgreift permanent den Kosmos vom Zenith bis zum Erdmittelpunkt. Worum es geht? Es geht eben um alles. Wir werden in eine Bilderflut gerissen, in eine Traumwelt, in der es an Fürchterlichem nicht mangelt. Doch der Tonfall wird immer wieder ins Tröstende gezogen, die Gegenwart klingt mokant und scheint im melancholischen Blick dieses wortmächtigen, wortreichen und wortvirtuosen Dichters auf. Aber in der grotesken Überzeichnung dieser Realität blitzt der Böhmersche Humor hervor, und seine Nüchternheit kommt beschwingt, ja tänzelnd auf dem Parkett der Paradoxien daher.

Edition Faust, Klappentext, 2014

 

Das blitzende Ich

– Im Wort-Universum des Dichters Paulus Böhmer. –

Paulus Böhmer ist der Dichter der großen Worte und der langen Rede. Im Grunde sind all seine Langgedichte Ausschnitte aus einem einzigen Gedicht, das, wenn es nur möglich wäre, das gesamte Universum vom kleinsten Kleinen bis zur Unendlichkeit umfassen würde. Jedes seiner Gedichte will die ganze sprachlich fassbare Welt festhalten, jedes einzelne Wort reckt und streckt sich lustvoll der Gesamtsprache entgegen. Böhmers Gedichte fangen irgendwo an und hören irgendwo auf, aber das ist nur ihrer unausweichlichen Verhaftetheit in der Zeit geschuldet. Sie zielen immer auf Alles, sind Rausch, orgiastische Feier des Daseins, des Lebens und des Sterbens, Gebete ohne Gott, die im Überschwang auch mit einem „Amen“ oder einem schlichten „Ja“ enden können, weil sie nun mal enden müssen.
Paulus Böhmer, ist, vom Kleinen her betrachtet, ein hessischer Lyriker. Jahrelang hat er das Hessische Literaturbüro in Frankfurt geleitet und unterdessen unverdrossen seine Gedichtbände publiziert. Weil sie lang sind, diese Wort-Delirien, hat man ihn immer wieder als deutschen Vertreter der Beat-Poetry bezeichnet, als Nachfolger von Allen Ginsberg oder William Burroughs. Aber sein hymnisches Sprechen, in dem Natur und Dingwelt und Menschendasein ineinander versinken, verweist auch auf die Weltgesänge Walt Whitmans.
Das Eintauchen in die ursuppenhafte Weite des Kosmos erinnert gelegentlich an Gottfried Benn, wenn Böhmer naturwissenschaftlich kühle Betrachtungen mit großen Gefühlen und der Sehnsucht nach Transzendenz kurzschließt. Dabei besitzt seine Sprache in all ihrer chirurgischen Präzision auch eine unmittelbar körperliche, geradezu sexuelle Dimension. Auch Inger Christensen ist mit ihrem Alphabet nicht weit entfernt, weil auch Böhmer die Welt von A bis Z durchbuchstabiert und aus der Sprache erschafft.
Das Gedicht als Schöpfungsakt: Das ist in einem kleinen Band mit zwei Langgedichten nachzulesen, die zwar beide schon einmal vor 15 Jahren erschienen sind, jetzt aber als komplementäre Teile eines Ganzen beieinander stehen und die Methode Böhmers deutlich werden lassen. Der titelgebende erste Teil „Wer ich bin“ besteht aus drei Abschnitten, die rhetorisch aus Wie-, aus So- und aus Dass-Sätzen gebaut sind. Der Wie-Teil handelt davon, wie die Welt beschaffen ist, und staunt darüber. Der So-Teil führt in der So-und-so-ist-es-Bewegung ins Erkennen hinein. Der Dass-Teil formuliert Wünsche, dass es so wäre, und benennt die Konsequenzen aus Staunen und Wissen:

Dass nichts,
was in uns ist, nicht auch
außen
ist, außen, dass
es rasierte und unrasierte Achselhöhlen gibt,
dass manchmal, auf der Rückseite von Tafeln,
Verse von Boccaccio stehen.

Böhmers Lyrik ist hochgradig narzisstisch, auch wenn vom Ich gar nicht die Rede ist. Aber das Ich ist unverzichtbar, weil es der Ausgangspunkt des Sprachstroms ist. Zugleich arbeitet es sich daran ab, die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, ja, die Subjekt-Objekt-Spaltung grundsätzlich aufzuheben. Dieses Ich ist nichts als Sprache, und es besteht nur so lange; wie die Sprache durch es hindurchströmt und etwas entstehen lässt.
Dieses rauschhafte, lyrische „Wer ich bin“ wird durch den zweiten Teil gekontert, das lehrbuchhafte „Über das Zusammenfügen von Teilen“. Es führt vom Ich zur Welt und vom Einzelnen zum Ganzen, das aber wiederum nichts ist als ein Geteiltes, als Teilung, Teileinheit, Teilfläche:

Abfolgen und Rhythmen ordnen das Teilen,
das Zusammenfügen von Teilen, das
Teilen. Knochen
brauchen mehr Zeit als
durchblutete Teile

Diese Teil-Bewegung ist auch eine Hommage an den amerikanischen Meister des Langgedichts, Wallace Stevens, der seinerseits die „Teile einer Welt“ auseinandergenommen hat.
Böhmer weiß sehr viel und muss das unentwegt beweisen. Verweise auf griechische Mythologie stehen neben Zitaten aus der Pop-Kultur und den Naturwissenschaften, und auch die Literaturgeschichte ist präsent, wenn William Faulkners Flem Snopes Kaugummi kaut oder es plötzlich mit einem Romantitel von Siegfried Lenz heißt: „Habichte sind in der Luft“. Vielleicht sind das aber auch nur biografische Einsprengsel, Erinnerungen an Leseerfahrungen, die der 1936 geborene Böhmer in den 1950er Jahren gemacht haben mag.
Seine Dichtung funktioniert als Überfluss-Produktion. Wo es um alles geht, gibt es von allem zu viel. Doch in diesem unendlichen, manchmal auch ermüdenden Meer der Worte leuchten immer wieder Erkenntnisblitze, erhellende Wahrnehmungen auf. Das auf Dauer gestellte Sprechen ist die Voraussetzung, um zu diesen Lichtstellen zu gelangen. So tritt der Böhmer-Leser eine Schiffsreise an, von Insel zu Insel, vom Ich in die Welt und darüber hinaus, vom Wort zur Sprache und im Sprechen zurück zum Ich. So, sagt er, „entsteht neben der Zeit, die wir kennen, eine andere Zeit.“ Und das ist es schließlich, worauf es ankommt in der Dichtung.

Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 16.4.2015

 

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Matthias Friedrich: Teilchen vernichten einander im Blitz
literaturkritik.de, März 2015

 

 

Filmgespräch – Gunter Deller im Gespräch mit Lydia Böhmer über den Film INSELN VON DUNKELHEIT, INSELN VON LICHT – DER DICHTER PAULUS BÖHMER

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Steffen Popp: Ein Werk wie ein Wal
Welt, 20.9.2016

Paulus Böhmer mit Monika Rinck und Orsolya Kalász
haus-fuer-poesie.org, 12.10.2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG + Kalliope +
Peter-Huchel-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne SchleyerKeystone-SDA +
Brigitte Friedrich AutorenfotosGalerie Foto Gezett
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Nachrufe auf Paulus Böhmer:

Hessisches Literaturforum im Mousonturm
facebook.com, 7.12.2018

Christoph Schröder: Radikal ausufernd
Journal Frankfurt, 7.12.2018

Beate Tröger: Das Universum in uns
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2018

Harry Oberländer: No home
faustkultur.de, 10.12.2018

Alban Nikolai Herbst: Ein Unbeugsamer
Die Dschungel.Anderswelt, 7.12.2018

In Erinnerung an Paulus Böhmer: Gespräch des Monats Mai 2019 im Haus für Poesie

 

 

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