Per Olov Enquist: Zu Lars Gustafssons Gedicht „Die Brüder Wright besuchen Kitty Hawk“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Lars Gustafssons Gedicht „Die Brüder Wright besuchen Kitty Hawk“ aus dem Band Lars Gustafsson: Ein Vormittag in Schweden. –

 

 

 

 

LARS GUSTAFSSON

Die Brüder Wright besuchen Kitty Hawk

In einem bewegten Traum sah ich alles erklärt:

Feierlich schwebt Otto Lilienthal im Gleitflugzeug
den steilen Hügel bei Großlichterfelde hinab.

Ein heftiger Wind blies, wie für Drachen,
und jemand sprach eintönig von der „gnostischen Finsternis“.

Es war eine Warnung, ein Flüstern, das kam und ging.

Bakunin geht an Bord des Frachters Andrew Steer,
an einem Frühlingstag, im Hafen von Nikolajew, zwischen Schuppen und Buden.

Im 19. Jahrhundert riecht das Meer oft faulig bei Windstille.
Die Revolutionen werden vorbereitet. Das Meerleuchten sprüht.

Und Milton Wright, Bischof in der Kirche der Vereinigten Brüder,
schenkt seinen Söhnen Wilbur und Orville eines von Pénauds Modellen:

nicht unähnlich einem mißgestalteten Vogel mit kurzem Hals.
Windkanalexperimente an der langgestreckten Fahrradfabrik

und der trockene Sand, der in eigensinnigem Wind stiebt.
Was ist gut oder böse an einem Drachen? Er flattert,

steigt in einem jähen Rausch, doch mit einer toten Bewegung
in dem Augenblick, da er die Schnur fast zerrissen hätte,

die allzu kurze Schnur. In Afrika rosten die Lokomotiven,
und der Dampfer „Savannah“ mit flatternden Wimpeln

über das unwirklich blaue Meer. Feierlicher Rauch.
Die Natur ist immer handgreiflich: das Schiffsruder und der Propeller.

Dresden. Hanoi. Und „die gnostische Finsternis“.

(Übersetzung von Hanns Grössel)

 

Die Technik beschwören

Lars Gustafssons Gedicht „Die Brüder Wright besuchen Kitty Hawk ist in der gleichnamigen Gedichtsammlung enthalten, die 1968 veröffentlicht wurde, es ist also das Titelgedicht.
Der engere Rahmen der Entstehung ist leicht zu zeichnen, Lars Gustafsson hat ihn mir in einem Brief beschrieben. Er verbringt einen Sommertag im Juni 1967 damit, daß er mit seinen Kindern spielt und mit Drachen segelt. Am Abend liest er David Irvings The Destruction of Dresden, ein dokumentarisches Werk über die Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945, die bekanntlich eine der größen Katastrophen der Kriegsgeschichte verursachten, über 100.000 getötete Zivilpersonen während des zwei Tage langen Feuersturms. Das Spiel mit den Drachen und die Lektüre von David Irving führten zu dem Artikel „Die Kunst, mit Drachen zu segeln“, der zuerst in Expressen veröffentlicht wurde, später in dem gleichnamigen Buch, und eine rein technische Beschreibung der Kunst des Drachensegelns bietet, außerdem aber noch die Problematik, die in dem Gedicht enthalten ist, aufgreift. Einen Tag nach der Niederschrift des Artikels verfaßt er dieses Gedicht. Es geht sehr schnell, „ich glaube, ich brauchte zehn Minuten dazu. Dann fühlte ich eine Erleichterung, als ob ich die Verantwortung für irgend etwas abgelehnt hätte.“
Den größeren und weiteren Rahmen des Entstehens kennen wir alle. Die Diskussion über den Vietnamkrieg erreicht in diesem Jahr ihren Höhepunkt, die Antikriegsbewegungen spüren Wind in den Segeln, die Proteste sind zahlreich. Im Juni 1967, als das Gedicht geschrieben wurde, haben die Amerikaner die Bombardierungen von Hanoi nach einem vorläufigen Bombenstopp wiederaufgenommen.
Lars Gustafsson selbst war gerade von einer Reise nach Polen zurückgekommen, und in seinem Brief erwähnt er, daß er dort auch Fragmente von Splitterbomben aus Plastik in der Hand gehabt habe, die die USA in Vietnam verwendeten. Sie waren in Kanister gefüllt und für menschliche Ziele gedacht und konnten durch Röntgenaufnahmen im Körper nicht entdeckt werden.
So ist die politische Situation. Hier beginnt das Gedicht und auch sein Thema.

Einige rein sachliche Informationen sind leicht zu geben.
Otto LilienthaI war bekanntlich einer der Pioniere der Flugkunst; ein klassisches Foto zeigt ihn bei Großlichterfelde in seiner Konstruktion schweben. Bei einem seiner ersten Versuche stürzte er ab und kam ums Leben. Den alten Revolutionär und Anarchisten Bakunin hat Lars Gustafsson schon früher in einer Novelle behandelt; im Gedicht besteigt er an einem Maitag 1861 im Hafen von Nikolajew den Frachter Andrew Steer, nachdem er die lange Flucht den Fluß Amur hinunter beendet hat. Mit Andrew Steer fährt er nach Japan, dann reist er nach San Francisco und New York, dann nach London. Die Lokomotive in Afrika findet sich im ersten Kapitel von Joseph Conrads Roman Das Herz der Finsternis wieder – man kann die Metapher angemessen wohl mit „Krebsschaden des Imperialismus“ übersetzen. Der Dampfer „Savannah“ ist dagegen eine ganz persönliche Anspielung, die man ohne Hilfe des Autors nicht identifizieren kann. Er sah die Abbildung des Dampfers, eines Raddampfers im naiven Stil vor dem Hintergrund eines unwirklich blauen Meeres, beim Rektor des Hamilton College in New York – man muß hinzufügen, daß dieses Gedicht zu einer Gruppe mit dem Motiv „Aus der Neuen Welt“ gehört. Alphonse Pénaud ist ebenfalls ein Pionier der Flugkunst. Er zeigte als erster eine Konstruktion, die stabil war, und seine Lösung bei Ruder und Leitwerk nahm spätere Lösungen des Stabilitätsproblems vorweg. Sein erster „Planophor“ wurde von einem rückwärts angebrachten Propeller nach dem Gummibandprinzip angetrieben und flog erfolgreich 1871 vor Publikum. 1880 beging er Selbstmord aus bitterer Enttäuschung, da er aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Unterstützung seiner Experimente zu Untätigkeit verurteilt war. 1878 schenkte Milton Wright jedem seiner beiden Söhne ein Exemplar von Pénauds Modellen, was nach der zugänglichen Fachliteratur „auf die kleinen Buben einen unauslöschlichen Eindruck machte“. Kitty Hawk ist der Name des Platzes, an dem die Brüder Wright ihre ersten Flugversuche unternahmen.
All das kann man teils aus Nachschlagewerken erfahren, teils, indem man dem Autor schreibt und ihn fragt. Es ist gut, wenn man dieses Wissen hat, es ist aber für das Verständnis des Gedichts nicht nötig.

Es gibt aber in dem Gedicht einen Ausdruck, der so zentral ist, daß er erklärt werden muß, um ihn dreht sich das ganze Gedicht. Es ist der Ausdruck „die gnostische Finsternis“.

Ich glaube, daß man dies auf eine einfache Art erklären kann. Ich werde das Ganze vereinfachen und mich an eine Deutung halten, die mir Lars Gustafsson selbst in einem Brief gegeben hat. Die gnostische Finsternis „ist also die Finsternis, aus welcher der Demiurg nach der Gnosis unsere Welt schafft, die also eine untere Welt ist. Hier: die Finsternis hinter dem Menschen, die Finsternis hinter Gut und Böse. Vergleiche Theodor Lessings Wort: das Sinnlose sinnvoll machen. Die Werte existieren in der Welt des Menschen, hinter ihr liegt die amoralische Natur, und sie ist die Finsternis. An dieser Grenze spielen sich unsere wissenschaftlichen Entdeckungen ab, z.B. die des Flugzeugs.“
Soweit also seine eigene Verwendung des Ausdrucks.
Mit diesen Voraussetzungen wollen wir vorläufig das Gedicht paraphrasieren und sehen, wohin wir gelangen.
Das Gedicht beschreibt eine vom Menschen gesteuerte Entwicklung, eine Entwicklung der Natur und der Technik. Es beginnt mit dem Flug des Drachen, einer ästhetischen Erfahrung von außerordentlicher Kraft (siehe den Artikel in Expressen). Es geht mit Experimenten immer komplizierterer Art weiter, über die Brüder Wright und technische Verbesserungen bis zu der äußersten Vervollkommnung, Konsequenz und Verwendung der Technik: die Bombardierungen von Dresden, die Bombardierungen von Hanoi.
Das Gedicht sagt: die Natur und die Technik sind immer greifbar.
Sie entsprechen augenblicklich den Wünschen des Menschen. Der Technik fehlt an sich Moral, der Mensch fügt aus seiner Welt der Natur Moral zu, oder Unmoral. In der Sekunde, in der der Mensch die Natur verwendet, bekommt er immer, was er will: Drachensegeln oder Bombenflugzeug, Ästhetik oder Vernichtung. Und in Weiterführung davon gibt es den unausgesprochenen, aber unausweichlichen Gedanken an die Forschung als etwas Unreines. Die Forschung kann nie rein sein, sie wird angewendet. Die Natur ist unschuldig, aber in dem Augenblick, in dem jemand die Grenze zwischen der oberen oder der unteren Welt überschreitet, die Technik oder die Natur anwendet oder ausnützt, in dem Augenblick antwortet immer die Natur, sie wird unrein oder besser gesagt: sie verwandelt sich von amoralischer Finsternis zu etwas, das von den Werten des Menschen geprägt ist.
Bisher hat die Beschreibung den Eindruck eines philosophischen Lehrgedichts, das in den politisch gefärbten sechziger Jahren geschrieben wurde, vermittelt. Die Aussage des Gedichts muß aber nicht so eindeutig wirken. Ich will dies zu erklären versuchen.
In der ersten Zeile des Gedichts wird das Ganze als „ein Traum“ beschrieben, ein Traum, in dem der Autor alles erklärt sieht. So kann man natürlich auch die Stimmung des Gedichts beschreiben. Dennoch scheint es mir richtiger und treffender, am Gedichtcharakter der Beschwörung festzuhalten. „Feierlich“ schwebt Otto Lilienthal in seinem Fahrzeug. Ein „heftiger Wind“ bläst. „Jemand spricht eintönig“ von der gnostischen Finsternis, eine Eintönigkeit, die an eine Messe, ein Ritual denken läßt. „Eine Warnung, ein flüstern, das kam und ging.“ Und während dies wie eine rituelle Hintergrundstimmung über dem Gedicht liegt, treten Bilder hervor: das Meer, das bei Windstille faul riecht, der trockene Sand, der zerstiebt, die ganze Zeit hindurch Bilder von Gerüchen, aufsteigendem Rauch, Zeremonie, Messe. Der Dampfer „Savannah“ über dem „unwirklich“ blauen Meer. „Feierlicher Rauch“ ist eine Wiederholung, als ob die Bilder Teile eines zeremoniell brennenden Weihrauchs wären.
In dem Brief, den er mir schrieb, gibt es eine Zeile, die jetzt deutlicher wird. Er verfaßte das Gedicht in zehn Minuten, „dann fühlte ich eine Erleichterung, als ob ich die Verantwortung für irgend etwas abgelehnt hätte“.
Das Gedicht als Beschwörung? Als Befreiung von einem quälenden Bewußtsein? Als verzweifeltes Gebet? Ich glaube, daß jetzt zwei Hauptlinien des Gedichts sehr deutlich hervortreten. Die eine beschreibt das Verhältnis des Menschen zu Natur, Technik und Wissenschaft. Die andere Hauptlinie ist undeutlicher und schwerer zu erklären, die schimmert durch die Form des Gedichts und durch die Wortwahl, und sie ist etwas fundamental anderes. Ich glaube, es handelt sich darum, die Technik zu beschwören.
Hier an diesem Punkt kann man den Versuch aufgeben, das Gedicht zu beschreiben, und zu Wertungen, Kritik und seiner Anwendung übergehen. Ein Marxist würde sicher Einwände gegen den beschwörenden Charakter des Gedichts vorbringen und sagen, daß dieser das Gedicht untauglich oder gefährlich macht: die Technik lasse sich nie mit Beschwörungen beherrschen, und die Flucht, die die Beschwörung bedeute, sei nie real, sondern nur scheinbar, sie sei eine falsche Sicherheit. Ich kann der Kritik zustimmen. Ein anderer würde sagen, in einer Zeit tiefer Verzweiflung und geringer Hoffnung sei dies die Aufgabe der Literatur. Für mich ist es dennoch klar, daß diese Doppelheit des Gedichts ihm seinen Wert verleiht. Es verwandelt „Die Brüder Wright besuchen Kitty Hawk“ von einem Lehrgedicht in ein eigentümlich drohendes, verschlossenes, im Grunde ironisches Gedicht, dessen innerste Grundhaltung sehr schwer zu fassen ist. In seinem Schwanken zwischen Mystik und Scharfblick läßt es den Leser, wo immer er stehen mag, ganz allein.
Ist es ein optimistisches Gedicht?
Ich selbst fasse es als überaus pessimistisch auf, obwohl es offensichtlich viele Ströme und Gegenströme im Gedicht selbst gibt. Es beginnt im 19. Jahrhundert, das Ausgangspunkt einer neuen Epoche der technischen Entwicklung und einer revolutionären Weltbewegung war. Während aber die vom Menschen gesteuerte technische Entwicklung in grader Linie vom Drachensegeln zur Massenbombardierung Dresdens oder Hanois führt, hat die politische Entwicklung einen anderen Weg eingeschlagen. „Revolutionen werden vorbereitet. Das Meerleuchten sprüht“ – und Bakunin flieht. 1967 war noch ein Jahr der Hoffnung, das Jahr vor 1968. Pessimismus oder Optimismus? Es hängt vom politischen Standpunkt, der geographischen Lage und der Zeit des Lesens ab. Gelesen im Februar 1970, ist es ein ganz im Inneren nicht resigniertes, aber tief pessimistisches Gedicht.

Per Olov Enquist, Lyrik i tid och otid. Lyrikanalytiska Studier tillägnade Gunnar Tideström, 7.2.1971

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