Peter Bekes und Wilhelm Große: Zu Ernst Meisters Gedicht „Die Erzählung…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Meisters Gedicht „Die Erzählung…“ aus dem Band Jan Hans, Uwe Herms, Ralf Thenior (Hrsg.): Lyrik-Katalog Bundesrepublik. –

 

 

 

 

ERNST MEISTER

Die Erzählung
von dem, das war,
ist nur enthalten
im Zerfall.

Die Toten nämlich,
unfähig sind sie
der umständlichen
Fabel ihrer selbst.

Dabei
wäre das Grab
gerade der Ort
von Erzählen.

 

Meister veröffentlichte sein titelloses Gedicht

„Die Erzählung…“ zunächst in dem Lyrik-Katalog (1978), dann in seiner Lyriksammlung Wandloser Raum (1979). Extreme Kürze, Schlichtheit der Sprache, Behutsamkeit in den Formulierungen und Sparsamkeit in der Anwendung poetisch-lyrischer Mittel sind die ersten Eindrücke, die sich dem Leser bereits nach flüchtiger Lektüre aufdrängen. Die Dominanz des Gedanklichen und die lakonische Sprechhaltung rücken den Text in die Traditionslinie der Spruchdichtung und Gedankenlyrik ein. Die Verbundenheit des Textes mit dieser Tradition mag Anlaß geben, die kritischen Vorbehalte, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gegen diese Form der Lyrik ins Feld geführt wurden, auch gegenüber diesem Text auszuspielen, verzichtet er doch offensichtlich auf jene unmittelbare Gefühlsaussprache eines evozierten lyrischen Ich und damit auf jenes lyrische Konstituens, das gemeinhin als conditio sine qua non der Lyrik gilt. Dennoch wirkt der Text lyrisch, was am besten dadurch demonstriert werden kann, daß man versuchsweise den durch Zeile und Strophe gegliederten Gedicht-Text in die lineare Anordnung eines Prosatextes unter Beibehaltung des Wortbestandes umsetzt und beide Versionen miteinander vergleicht:

Die Erzählung von dem, das war, ist nur enthalten im Zerfall. Die Toten nämlich, unfähig sind sie der umständlichen Fabel ihrer selbst. Dabei wäre das Grab gerade der Ort von Erzählen.

Durch die Gegenüberstellung wird die Leistung der lyrischen Form einsichtig. Die Gliederung des Textes und das Gebot, nach den einzelnen Textschritten pausierend innezuhalten, werden durch den Parallelismus von Satz- und Strophenführung akzentuiert. Die Anordnung der Zeilen als Artikulationseinheiten staut den fließenden Prosarhythmus, setzt markante Einschnitte in den Text, wodurch einzelne Wörter (z.B. „Dabei“) und Wort komplexe (z.B. „Die Erzählung“) ein besonderes Gewicht und eine deutlichere Konturschärfe erhalten, die in der Prosafassung weitgehend verlorengehen. Während in ihr die argumentative Logik des Textes wesentlich klarer durchscheint, verdunkelt die häufige Brechung des Textflusses durch das von Meister streng eingehaltene Prinzip der Kurzzeile dessen Logizität, lockert seine Konsistenz und bringt ihn dadurch in die Schwebe. Aus der Kurzzeiligkeit, dem häufigen Enjambement und der Verwendung der Inversion in der 2. Strophe resultiert eine Dehnung einzelner Wörter bzw. Wortkomplexe, die dem Textganzen die Dynamik nimmt und eher den Eindruck von Getragenheit, fast Preziosität, hinterläßt. Diese Bewegungslosigkeit wird durch den vorherrschenden Nominalstil, den fast völligen Verzicht auf das Vollverb zugunsten des blassen, statischen Hilfsverb („sein“) und dessen Flexionsformen („war“, „ist“, „sind“, „wäre“) noch unterstützt. Selbst dort, wo Meister sich für die Wortart des Verbums entscheidet, transponiert er dieses in die grammatischen Formen des abgeleiteten Verbalsubstantivs („im Zerfall“) bzw. des Gerundiums („von Erzählen“).
Es ist das Kompositionsprinzip der einzelnen Strophen, auf jeweils unterschiedliche Weise die beiden leitmotivischen Komplexe „Erzählen“ und „Zeitlichkeit“ miteinander zu variieren und untereinander zu verschränken. Eine deutliche Akzentsetzung erhalten beide Begriffe durch ihre Plazierung in der ersten bzw. letzten Zeile einer jeden Strophe, wobei nur die letzte Strophe geringfügig von diesem Prinzip abweicht. Die Rahmenbildung der einzelnen Strophen besitzt ihr Korrelat in der vom Text beschriebenen Kreisfigur: Der Autor vollzieht eine Reflexion, an deren Anfang und Ende die poetologische Kategorie der „Erzählung“ bzw. des „Erzählens“ steht. Innerhalb dieses Kreises legt Meister das Bedingungsgefüge zwischen den Leitbegriffen Erzählen/Zeitlichkeit offen. Die an anderer Stelle gemachte Beobachtung von der statischen Anlage des Textes wird durch die Analyse der inhaltlichen Implikationen von dessen Rahmen- und Binnengliederung bestätigt: Der Textverlauf bestimmt keine fortschreitende Reflexion, er variiert und differenziert ein identisch bleibendes Thema.
Die ersten vier Zeilen formulieren die These. In ihnen wird behauptet, daß die „Erzählung“ Moment eines Zerfallsprozesses sei. Es verwundert der Ausschließlichkeitsgrad („nur“), mit dem diese These vorgetragen wird. Dieser erschließt sich allein durch die den beiden Leitbegriffen der Strophe („Erzählung“, „Zerfall“) eingeschriebenen Formen der Zeitlichkeit und deren Verhältnis zueinander: Den Lebenden gilt die Erzählung als eine Möglichkeit, vergangenes Geschehen zu aktualisieren; in ihr wird Vergangenes fixiert und objektiviert. Diese grundlegenden Funktionen des Erzählens werden in den ersten beiden Zeilen der ersten Strophe in allgemeinster Form konstatiert. Dabei setzt die Erzählung als ein in sich geschlossenes Gebilde Anfang und Ende voraus, so daß sich eine Geschichte nur dann erzählen läßt, wenn man ihr Ende kennt. Da Lebende, wenn sie Vergangenes erzählen, immer noch der Geschichte angehören, die sie erzählen, ist die Erzählung den Lebenden strenggenommen nicht möglich. Eben auf diesen Zusammenhang spielen die letzten beiden Zeilen der Strophe in aller Vorläufigkeit an. Die Bedingung der Möglichkeit von Erzählen ist nach Meister demnach verknüpft mit dem Austritt des Erzählers aus der die Erzählung bestimmenden Zeitlichkeit. Erst der Sprung aus der personengebundenen, erlebten Zeitlichkeit in den nach Maßgabe physikalischer Gesetzmäßigkeiten ablaufenden materiellen Zerfallsprozeß erlaubt das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, das heißt: nur die Toten können sich ihre eigene Lebensgeschichte schreiben. Damit formuliert die erste Strophe ein Paradox, dessen Unauflöslichkeit die zweite Strophe verschärfend thematisiert: Die Toten allein wären in der Lage, sich ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Aber gerade sie sind „unfähig […] der umständlichen Fabel ihrer selbst“ (Z. 6 ff.). Damit rechtfertigt sich die schwer durchschaubare, satzlogische Verknüpfung zwischen der ersten und zweiten Strophe durch das erklärende „nämlich“.
In der zweiten Strophe enthüllt sich deutlicher die in der ersten nur angespielte metaphorische Verwendung des Wortes „Erzählung“. Die „Fabel ihrer selbst“ ist synonym mit dem Begriff der Lebensgeschichte. Sie ist „umständlich“, weil sich der Lebensprozeß nie linear und überschaubar dem Lebenden präsentiert. Es wäre gerade die Leistung des Erzählens, in jene Umständlichkeit des Lebens aus dem Wissen von dessen Anfang und Ende retrospektiv Einheit, Sinn und Zusammenhang einzuschreiben. Solches Ideal zu Verwirklichen bleibt jedoch – worauf bereits die erste Strophe in ihrer paradoxen Aussage verwies – unmöglich.
Die elegisch-melancholische Trauer darüber formuliert die dritte Strophe. Was die erste Strophe im Modus des Indikativs thematisiert, wiederholt die letzte im irrealen Konjunktiv mit der gleichen Ausschließlichkeit („Dabei“, „gerade“). Die konjunktivische Formulierung verleiht den Zeilen die sehnsüchtige Gestimmtheit, die jedoch im selben Augenblick im Wissen darum, daß das Objekt der Sehnsucht nicht eingeholt werden kann, schon wieder durch Melancholie getrübt wird, wobei die verhaltene Trauer am Ende des Gedichts sprachlich sinnfällig durch die mildernde Abtönung der Todesthematik gemacht wird: „Zerfall“ wirkt hart und streng, die in der zweiten Zeile der 3. Strophe gewählte Vokabel „Grab“ dagegen weicher.

Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel und Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982

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