Peter Bekes: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Selbstporträt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „ Selbstporträt“ aus dem Band Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Selbstporträt

Wie ich höre, hast du lange nicht von dir selbst
aaaaagesungen, Onkelchen?!
Die Menschheit muß ja allmählich denken,
aaaaasie ist unter sich –
Wieviele Reiche haben inzwischen
aaaaaihren Besitzer gewechselt?
Das Bewußtsein ist siebenmal umgeschlagen.
Da schnei ich nun herein
aaaaamit lauter letzten Fragen.

Darf man eintreten, Platz nehmen,
aaaaafragen, wie man wieder nach draußen kommt?
Aber Kinder, da ist doch irgendwas
aaaaamit der Perspektive los!
Alle Wände verzogen
aaaaaseit wir das letzte Mal über Zukunft sprachen.
Prinzip Hoffnung total aus der Flucht.
’N wahres Wunder, daß wir nicht
aaaaaalle schon schielen.

Soll ich euch mal sagen, was ist?
Also von mir aus können wir sofort-hier
aaaaavom Tisch aufstehn und die Welt umwälzen,
aber mit-wem-denn, mit  w e m  ?
Mit der Arbeiterklasse hängt Ihr
aaaaadoch auch nur noch übers Weltall zusammen
(Ein Medium von höchster kommunikativer Kompetenz)
Ihr atmet die gleiche Luft –
aaaaamehr ist bald nicht.

Ichweiß – ichweiß, man soll den Sozialismus
aaaaanie völlig verloren geben.
„20 000 STICKSTOFFWERKER HABEN EINE FREIWILLIGE SONDERSCHICHT
aaaaaZU EHREN DES GENOSSEN LE –“ na was ist?!
Dagegen IG Metall: „150 000 ARBEITSPLÄTZE DER DEUTSCHEN
aaaaaWAFFENINDUSTRIE LANGFRISTIG GEFÄHRDET!“
Die Wahrheit macht einem immer mal wieder
aaaaaeinen dicken Strich durch den Glauben.
Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! –
aaaaawie in eine Geschützmündung

Vielleicht ist es einfach nur dies:
aaaaamein Herz zieht allmählich die Geier an.
Wer links kein Land mehr sieht,
aaaaafür den rast die Erde bald
wie ein abgeriebener Pneu auf die ewigen Müllgründe zu –
Düdelüdüt, nu lauf doch nicht gleich
aaaaazur Mama mit deinen Verwüstungen.
Düdelüdüt! Noch’n Tusch für das Krankenversicherungs-
kostendämpfungsgesetz!
Konstantinopolitanischerdudelsackspfeifenmachergesellenrisikozulage!

 

 

Obwohl der Hamburger Schriftsteller

Peter Rühmkorf seit etwa 25 Jahren für eine weitere literarische Öffentlichkeit Gedichte schreibt, ist sein lyrisches Werk immer noch recht schmal. Das zeugt sicherlich nicht vom fehlenden Fleiß des Autors, sondern vielmehr von seinem intensiven Bemühen, in langwierigen Versuchen sich immer neu mit Wirklichkeit authentisch auseinanderzusetzen und die daraus entspringenden Erfahrungen in konziser Form in Verse umzusetzen. Das Schreiben von Gedichten heißt für ihn in der Praxis, aus Tausenden von Einfällen, sprich: Zitaten, Floskeln, Natur- und Sozialgesten auszuwählen und diese in lyrischen Versuchsreihen zu erproben. Das Schreiben eines Gedichtes ist für ihn ein komplexer Arbeitsprozeß, dessen Ergebnis, wenn es überhaupt dazu kommt, am Ende auch den rigoros formulierten Maßstäben und Überprüfungen des Kritikers und Aufklärers Rühmkorf standhalten muß. Sein Urteil, das Kunstwerk könne es sich kaum versagen, „die Bedingungen, zu denen es angetreten, kritisch zu reflektieren“, gilt in erhöhtem Maße für die eigenen lyrischen Produktionen. Seine Lyrik ist keine kunstgewerbliche Durchschnittspoesie, die epigonal bewährte Traditionen und Muster der Lyrik nachgeahmt oder sich marktkonform bestimmten modischen literarischen Strömungen angepaßt hat. Seine Gedichte lassen sich auch kaum einer besonderen Richtung gegenwärtiger lyrischer Poesie zuordnen: Sie sind stets von einem individuellen, fast eigenwilligen Gepräge gewesen. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil Rühmkorf sich in seinen Gedichten von Anfang an selbst zum Gegenstand der Darstellung, Reflexion und Kritik gemacht hat. Form und Inhalt seiner Gedichte sind nicht auseinanderzudividieren; in ihrer jeweiligen Subjektivität bleiben sie stringent aufeinander bezogen. Die Lyrik Peter Rühmkorfs ist ursprünglich, zeitgemäß und in ihren Problemformulierungen historisch notwendig, weil sich in ihr das stete Bemühen des Verfassers kund tut, sich selbst in seinen biografischen Bedingtheiten, seinem sozialen Werdegang und seinen privaten Eintrübungen zu erfahren, und das heißt für ihn auch, sich in seiner Schrägstellung und seinen Verkantungen zur Wirklichkeit zu besichtigen. Der Dichter habe sich in seinen Versen, so formuliert Rühmkorf sinngemäß, erstinstanzlich zu erklären, also seine persönliche Betroffenheit und seine Anfechtungen angesichts von Entfremdungsschäden und Bewußtseinsverkrümmungen des Zeitalters deutlich zu machen. Daß solche Erklärung im Medium der Poesie nicht ein für allemal verbindlich gegeben werden kann, sondern ganz entscheidend von den Umständen, von den historischen Konstellationen abhängt, in die das Ich verwickelt ist und auf die es sich, wenn es sich aus ihnen entwickelt hat, immer wieder aufs neue einläßt, wird in den vielen Selbstbespiegelungen und Selbstporträts deutlich, die dem lyrischen Werk Rühmkorfs von seinen ersten Versuchen bis zu seinem letzten Gedichtband ein unverwechselbares, originelles Aussehen und eine gewisse Konsistenz verleihen. Sie zeigen – mit Rühmkorfs Worten – das Ich auf dauernder Stellungssuche. Vorläufiger Endpunkt seiner Versuche, die eigenen Widersprüche und deren Verklammerung mit einer widerständigen Wirklichkeit zu beschreiben und zu ergründen, ist das 1979 publizierte Gedicht „Selbstporträt“, das seine Gedichtanthologie Haltbar bis 1999 einleitet.
Auch dieses Gedicht ist schlechterdings nichts anderes – an dieser Intention hat sich nichts gewandelt – als ein Versuch „für Möglichkeiten, mit den ungeheuerlichen Widersprüchen der Welt und der eigenen Person in eine lebensmögliche Balance zu kommen“.
Zunächst ist allerdings von diesen Widersprüchen nichts zu spüren. Der Anfang des Gedichtes ist stilistisch so gehalten, wie man es von Rühmkorfscher Lyrik gewohnt ist: salopp, ungezwungen, schnoddrig und ironisch. Als Frage und Appell – die Interpunktion (Z. 3) deutet darauf hin – versteht sich die spontane Selbstansprache in den beiden ersten Versen. Deren „Ausgangsstellung ist die fragendwitternde Probierhaltung“. Diese fordert ihn zur Bestimmung seines dichterischen Selbstverständnisses, überhaupt seines Standorts am Ende der siebziger Jahre heraus. Die Verwunderung dessen, der von anderen zu hören bekommt, daß er, der in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre sich immer wieder selbst zum Objekt seiner lyrischen Produktionen machte und in vielfältigen Selbstbespiegelungen sich keck in Frage zu stellen wußte, nun lange Zeit nicht mehr von sich selbst gesungen hat, wird zum Anlaß, das Schweigen sich selbst und dem Publikum gegenüber zu brechen. Solche Abstinenz, lyrische Selbstporträts zu machen, ist historisch motiviert, hat private und öffentliche Gründe.
Rühmkorf hatte Ende 1964 damit begonnen, „seinen lyrischen Privathaushalt aufzulösen“, weil „künstlerischer Schein und gesellschaftliches Sein sich nicht mehr reimten“. Lyrik, zumal deren subjektivistisch-anarchistische Ausprägung, schien ihm nicht mehr zeitgemäß zu sein. Politische Essayistik und parabolisch-satirische Dramatik sollten in seinem Werk ihren Platz einnehmen. Dennoch, der Euphorie, im Zuge der APO-Bewegung die Bastionen der Restaurationsgesellschaft zu stürmen und zu überwinden, folgte schon bald die Katerstimmung. 1969 verließ er – so räsonniert Rühmkorf rückblickend – angewidert die politische Arena, „da der politische Kampfplatz mehr und mehr zur Szene pervertierte“ 1973/74 gab er wegen Erfolglosigkeit seine Bühnenarbeit auf. Nach einer kurzen Pause schrieb er dann wieder Lyrik; in ihr meldete sich auch wieder nachdrücklich das Ich zu Wort. Dennoch, dieses erscheint hier in anderer Gestalt; das Bewußtsein des Alters prägt die neue Ich-Rolle.
Das Ich ist in unserem Gedicht nicht mehr der „asthenische Wolf“ der frühen Jahre, es taucht nach zwanzig Jahren – Rühmkorf ist inzwischen 50 Jahre alt – in der privaten Rolle des Onkels auf. Dabei signalisiert der Gebrauch des Diminutivs Behäbigkeit, Gemütlichkeit und nicht zuletzt Harmlosigkeit. Sind solche Attitüden der Grund für das lange Schweigen des Autors? Rühmkorf gibt vorerst in seinem Text noch keine Antwort auf diese Frage. Die Selbstbespiegelung erfolgt aus der Distanz („Wie ich höre“). Noch oder gerade in der selbstironischen Befragung und Anrede hält er souverän die Fäden in der Hand und bewahrt den Überblick. Das zeigen auch die folgenden Verse: „Die Menschheit muß ja allmählich denken, / sie ist unter sich“ (Z. 4f.). Diese thematisieren zunächst die Reaktion, den Eindruck, den solches Schweigen beim Publikum evoziert hat. Herausfordernd wirkt der überhebliche Ton, den Rühmkorf nun anschlägt. Das Publikum ist nicht der begrenzte Leserkreis Rühmkorfscher Lyrik, sondern die ganze Menschheit. Der Topos vom Dichtertum, das der Welt, der Menschheit etwas Existentiell-Wichtiges zu verkünden habe, wird hier indirekt von ihm abgerufen, aber zugleich auch respektlos-ironisch entzaubert. Und dies wird im Sprachduktus der Verse durch vielerlei Abweichungen deutlich: Durch die Partikel „ja“, die zumeist in der Umgangssprache als Flickwort verwendet wird, verliert der der Öffentlichkeit verpflichtete Sprachgestus an Höhe, an Erhabenheit. Die Welt und die Menschheit werden von ihm privatistisch-salopp vereinnahmt; ihr wird kokett das Bewußtsein unterstellt, sie habe sich, seitdem der Dichter schwieg, zu einer Art geschlossener Gesellschaft gewandelt. Daß dieses Bewußtsein einen freilich ironisch gefärbten Abglanz auf die Dignität des Dichters selbst wirft, der nun endlich sein Schweigen brechen will, wird von Rühmkorf fast augenzwinkernd nahegelegt.
Solche Selbststilisierung. die sprachlich allerdings immer wieder den Boden des Alltäglichen, des Gewöhnlichen, des Tatsächlichen sucht und auch findet, wird auch in den folgenden Versen fortgeschrieben. Der Anlaß, nun wieder den Gesang anzustimmen, motiviert seinen Rückblick auf die politische Großwetterlage, konkret: auf vergangene Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse (Z. 6/7). Die in pathetisierenden Worten formulierte Frage, die rhetorisch gesetzt ist, enthüllt sogleich unmißverständlich den Charakter der vergangenen politischen Welthändel. Nur nominell, nur an der Oberfläche haben sich die politischen Verhältnisse verändert, die ihnen zugrunde liegenden Herrschaftsstrukturen sind qualitativ unverändert geblieben. Dabei kontrastiert der schon fast archaisierend gebrauchte Begriff des Reiches (Z. 6) in eigentümlicher Weise mit dem des Besitzes: Reiche werden derzeitig nicht mehr regiert, sondern besessen. Die Politik ist unter das Diktat ökonomischer Kategorien geraten, ist selbst Ware geworden. Während die soziopolitische Basis – in der Zeit seines Schweigens – unverändert geblieben ist, hat sich für ihn der Überbau rege verändert. Im „siebenmaligen Umschlagen des Bewußtseins“ hat er sich sogar immer wieder grundlegend gewandelt, was freilich – bei unverändert gebliebener ökonomischer Basis – von Rühmkorf nur als dialektische Spiegelfechterei oder idealistischer Selbstbetrug gewertet wird. Der mit der Zahl sieben fast magisch heraufbeschworene Wechsel im Überbau enthüllt letztlich nichts anderes als ein beliebiges, richtungsloses Hin- und Herpendeln von Bewußtseinsformen. Durchaus treffend hat Rühmkorf in dem Gedicht „De mortuis oder: üble Nachrede“ dieses „Einerseits-andrerseits“ als „schleimlösende Dialektik“ charakterisiert. Auch hier wird der fast feierlich anmutende Sprachgestus, ehe er rechte Geltung erlangen kann, von Rühmkorf durch Verfremdung als hohles idealistisches Pathos entlarvt: Die beiden Schlußverse der Strophe (Z. 9f.) greifen wiederum – im Kontrast zu den universalen Kategorien bürgerlicher Geschichtsschreibung – auf den schnoddrigen Sprachton des Gedichtanfangs zurück, so daß sprachlich eine Art Rahmenbildung entsteht. Diese läßt sich auch inhaltlich motivieren: Nachdem die jüngste Welthistorie – wenn auch sehr abstrakt – Revue passierte, findet der Autor wieder zu sich selbst zurück. Das Ich will das letzte Wort behalten, will nach dem steten Wechsel der politischen Konstellationen und ideologischen Denkformen für sich selbst einen neuen Standort finden. Und diesen erhofft es über seine spezifische Befähigung und Tätigkeit, nämlich Fragen zu stellen oder in Frage zu stellen, zu gewinnen. Dabei rekurriert es durchaus auf ein Dichter- und Dichtungsverständnis, das schon fast in einer ehernen poetologischen Tradition steht: Der Dichter hat die „letzten“, die grundlegenden Fragen zu stellen, er fragt auch dann noch, wenn alle ihre Fragen gestellt haben, wenn alles fraglos erscheint. Doch auch hier wird, wie wir schon ganz oben andeuteten, die Ernsthaftigkeit solcher Funktion selbstironisch relativiert. Der Jargon der Eigentlichkeit wird selbst durch umgangssprachliche Konnotationen und Floskeln konterkariert: Das Wort „letzten“ ist in seinem Bedeutungsgehalt zumindest schillernd; im alltäglichen Sprachgebrauch läßt es zumindest auch pejorative Nebentöne anklingen. Nicht zuletzt gilt es der Öffentlichkeit als Stereotyp, dem verschroben Denkenden und Fragenden überhaupt jegliche Ernsthaftigkeit abzusprechen. Die Partikel „Da“, die spontan den laufenden Augenblick festhält, bringt zudem wiederum Bewegung in den ruhigen, fast gemessenen Sprachduktus der Verse. Sie ist genauso wie die metaphorische Wendung vom „Hereinschneien“ kaum verträglich mit dem pathetischen der Universalhistorie abgeborgten Vokabular. Dennoch haben sie ihre Berechtigung und lösen gerade in dem hier figurierten situativen Kontext spezifische Wirkungen aus: Der Dichter taucht just in dem Augenblick in der „geschlossenen Gesellschaft“ auf, in dem er sich selbst deplaciert, ja ungebeten wähnt. Gleichwohl scheint ihn solche Ungebetenheit wenig zu stören; salopp und keck setzt er sich über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg: Er ist nicht willens, die Rolle des Empfindlichen, Mimosenhaften zu spielen.
Diese Haltung, die Souveränität und Gelassenheit verrät, wird auch durch den Anfang der zweiten Strophe bestätigt. Auch hier dominiert ein gestisches Sprechen, das im bloßen Vollzuge schon die Haltung verrät, die hinter und in ihm steckt. Wiederum bemüht Rühmkorf gezielt die Füllsel und Versatzstücke der Umgangssprache. Diesmal gebraucht er die ritualisierten Höflichkeitsfloskeln des Alltags (Z. 11), ohne sie freilich ernst zu nehmen. Indem er sie ausspricht, setzt er sie schon außer Kraft. Alle Fragen, die das Ich stellt, beantworten sich schon durch die de facto vollzogenen Handlungen. Gleichwohl sind sie nicht bloße Leerformeln. Dadurch, daß sie metaphorisch verwendet werden, treffen sie genau die Situation des Schriftstellers. Das Gespräch, das das Ich der Form nach sucht, wird in dem Moment, in dem es eröffnet wird, von ihm durch die Art seines Sprechens sogleich beendet. Schon beim Eintritt in den imaginären Gesprächsraum wird der Rückzug aus ihm in Erwägung gezogen, die Resonanz der Zuhörer auf die forsche Selbst-Einladung gar nicht erst abgewartet. Der Monolog des Ich kann fortgesetzt werden, ohne daß freilich die Attitüden sozialer Gestik von ihm aufgegeben werden. Das zeigt schon der folgende Vers: „Aber Kinder, da ist doch irgendwas / mit der Perspektive los!“ (Z. 13f.) Der in den voraufgegangenen Fragen implizit mitgemeinte Adressat wird nun direkt angesprochen. Solcher Appell verrät indes mehr über die Beziehung des Sprechers zum Angesprochenen als über diesen selbst. Wiederum herrscht der onkelhafte Sprachton des Anfangs vor, die Haltung desjenigen, der sich überlegen und mündig wähnt, der aufgrund seines Alters Erfahrungen gesammelt zu haben glaubt und nun – nach einiger Zeit der Abwesenheit – lässig, fast lax Ratschläge erteilen kann. Dennoch bedeutet Überlegenheit hier nicht gleichzeitig Arroganz. Der Sprachduktus ist gänzlich unprätentiös; er zeigt sich weder stilisiert-abgewogen, noch logisch-argumentativ fundiert. Hier wie im folgenden wird gesprochene Sprache nachgeahmt. Deren Kennzeichen sind Spontaneität und Situationsgebundenheit. Weder das „Aber“ ist stringent-logisch zu motivieren – sein adversativer Sinn greift ins Leere – noch die Umstandsbestimmung „da“, die reduzierte Form des indefiniten Pronomens „irgendwas“ und die Verbform „ist … los“ entsprechen den Normen der Schriftsprache. Dabei konstituiert der die Zeilen 13 und 14 umfassende Satz – entsprechend der Bewegung der Sprachgeste – einen Spannungsbogen, der mit dem Ende von Zeile 13 erste Erwartungen im Leser auslöst, die dann – geschickt vermittelt durch den Zeilensprung (Z. 13/14) – schärfer konturiert werden: Als Betrachter des Raumes, den das Ich gerade betreten hat, notiert es spontan Unstimmigkeiten in der Perspektive, ohne diese konkret festzumachen. Der Satz gibt sich diffus („irgendwas“), artikuliert ein Unbehagen („doch“), nicht mehr. Erst die beiden folgenden Verse versuchen, solche Unstimmigkeiten in der Perspektive empirisch zu belegen und zu erklären: „Alle Wände verzogen / seit wir das letzte Mal über Zukunft sprachen.“ (Z. 15 f.) Damit werden zunehmend die abstrakten Kategorien der Raumarchitektur mit politischen Gehalten metaphorisch aufgeladen. Der Raum ist hier nicht als statischer geometrischer Körper zu sehen, sondern dynamisch-historisch bestimmt. Intendiert wird mit solcher Bildhaftigkeit fraglos Beschreibung und Analyse der politischen Verhältnisse in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Und diese sind – seit der Zukunftseuphorie der sechziger Jahre – mittlerweile wieder auf einen restaurativen Kurs getrimmt worden. Man hat sich mit den Verhältnissen abgefunden, man hat sich in ihnen eingerichtet, und man richtet sich nach ihnen. Die Utopien der APO sind außerhalb des Blickfeldes (Z. 17); es dominiert die pragmatische Einstellung, die dem Zwang der („verzogenen“) Sache gehorcht. Gleichwohl weiß sich Rühmkorf zunächst gemeinsam mit den von ihm intendierten Adressaten von solchen politischen Fehlentwicklungen abzusetzen. Das kordiale „wir“ – gleichviel, ob es sich dabei um die Leser Rühmkorfscher Texte oder die unter sich zerstrittenen Linksintellektuellen der Gegenwart handelt – bezeichnet eine Gruppe, die allerdings solchen historischen Prozessen ziemlich ratlos (und dieser Befund trifft ziemlich genau die Frustrationsphase und Katerstimmung linker Intellektueller nach dem Scheitern der APO-Bewegung) gegenüberstand, die selbst der Gefahr erlag oder noch erliegt, den richtigen Blick für die Verhältnisse zu verlieren. Freilich identifiziert sich Rühmkorf nicht vollends mit dieser Gruppe. Mit seiner Sprache geht er wieder geschickt auf Distanz: Die an die Mitstreiter gerichteten Solidaritätsbekundungen aus den sechziger Jahren sind 12 Jahre später schlichter Bestandsaufnahme und nüchterner Analyse gewichen. Das innerhalb der Studentenbewegung adoptierte Schlagwort der Bloch-Philosophie, „Das Prinzip Hoffnung“ als das große utopische Integral, wirkt im konkreten Kontext von umgangssprachlichen Wendungen („schielen“) und Satzmustern einigermaßen fremd. Diese abstrakte Kategorie wird in lässigem Sprachton aus ihrem Pathos, aus ihrer Bedeutungsschwere entbunden, ohne daß Rühmkorf sie allerdings damit völlig preisgibt. Das Thema Zukunftsperspektive ist auch oder gerade am Ende der siebziger Jahre virulent.
Die Rolle des engagierten Beobachters, die das Ich in den ersten beiden Strophen spielte, behält es auch im folgenden bei. Dennoch bekommt der plaudernde, fast entertainerhafte Sprachton nun in der dritten Strophe ernstere, fast insistierende Züge. Das macht schon der erste Vers deutlich. Das Ich kündigt das, was es sagen will, explizit an (Z. 20). Der Vers, obwohl der Oberflächenstruktur nach als Frage konzipiert, drängt zur Wesensaussage, zum lakonischen So-ist-es-und-nicht-anders. Der Appell gilt nun unmittelbar den Adressaten („soll ich euch“). Der Kontakt wird direkt gesucht; die lässige Unverbindlichkeit der voraufgegangenen Strophen ist gewichen. Gleichwohl enthält uns der Sprecher mit den folgenden Versen den versprochenen essentiellen Wirklichkeitsbefund vor, wenn man nicht die von ihm in Aussicht gestellte Weltumwälzung als seine Realitätsaussage schlechthin sehen will (Z. 21/22). Freilich geben sich diese Zeilen – und das ist von Rühmkorf bewußt kalkuliert – dynamischer, elanvoller, als sie sind. Der in ihnen exponierte Aktionismus, die zur Schau gestellte situativ gebundene Spontaneität („sofort-hier“, Z. 21), dementiert sich schon im sprachlichen Duktus der Verse, die vordergründig noch Tatbereitschaft zu suggerieren scheinen, bevor das adversative „aber“ (Z. 23) vollends die Vergeblichkeit eines solchen kurzgeschlossenen Praxisbezuges deutlich macht. So wirkt schon der adverbiale Anschluß durch „also“ etwas umständlich-akademisch und der subjektive Rückbezug in der Wendung „von mir aus“ (Z. 21) unschlüssig-relativistisch. Ironisch mutet die Darstellung des Aufbruchs und der ihm unterstellten revolutionären Intentionen an. Der Aufbruch wird sprachlich intim-privatistisch („vom Tisch aufstehn“) als Rollenspiel inszeniert, derweil seine möglichen öffentlichen Auswirkungen unter Zuhilfenahme der schon oben beschriebenen Totalitätskategorien („die Welt umwälzen“, Z. 22) schon überdimensionale Formen einnehmen. Die Intention, die mit solcher Kontrastierung verfolgt wird, ist klar: Illusionär ist eine Vorstellung von Revolution, die vom Schreib- oder Wohnzimmertisch und nicht von der Straße ausgeht.
Der Sprecher liefert sogleich im zweiten Teilsatz die Begründung für diese Diskrepanz. Der in aller Schärfe formulierte Fragesatz, in dem jedem Wort – graphisch verdeutlicht durch die Bindestriche – besonderes Gewicht und Schlagkraft zukommen, enthüllt das alte Dilemma intellektueller Avantgarde: den fehlenden Basisbezug für jegliche revolutionäre Umwälzung. Damit bezeichnet er – eine historische Reminiszenz, die für Rühmkorf in der Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt hat – auch eine der zentralen Aporien, die mit zum Scheitern der studentischen Protestbewegung geführt haben. Die zweimal gestellte Frage nach dem Träger, der kollektiven Basis der Revolution, deren Unnachgiebigkeit auch hier wiederum durch die herausgehobene Typographie der Fragepartikel herausgestellt wird, verhallt ins Leere, bleibt unbeantwortet, muß unbeantwortet bleiben, da die Verbindung von räsonnierender Intelligenz und industriellem Proletariat zwar von der ersten Gruppierung häufig postuliert wurde, de facto aber nie zustande kam. Die Erklärung dafür bietet der folgende Vers: Er setzt schon die im 20. Jahrhundert einzig historisch legitime Antwort auf die Frage nach dem Träger der Revolution voraus. In witzig-ironischer Form bestreitet Rühmkorf die Verbindung zwischen intellektueller Avantgarde und Arbeiterschaft, indem er sie geradewegs, freilich nur noch in minimaler Form, behauptet: Die Leere des Raumes soll beide verbinden; solche Beziehung ist im wörtlichen Sinne entleert. Rühmkorf beläßt es allerdings nicht nur bei diesem „kosmologischen Beweisgang“; nebenbei – der nachfolgende Vers (Z. 26) versucht die Pointe noch weiter zu forcieren – erteilt er jenen Intellektuellen noch eine Lektion, die weiterhin in exotischer Begrifflichkeit den herrschaftsfreien Diskurs in luftigen Höhen propagieren, die kommunikative Kompetenz dort unterstellen, wo ein restringierter Sprachkode die alltägliche Lebenspraxis beherrscht. Der Begriff der kommunikativen Kompetenz selbst wird schnippisch gegen den Protagonisten der Frankfurter Schule gewendet, der ihn in einer in wissenschaftlichen Kreisen vielbeachteten Untersuchung zur Grundlage seiner ideologiekritischen Ausführungen und seiner Theorie eines vernunftgeleiteten Diskurses machte: Das, was dieser Begriff in der Theoriebildung suggeriert, nämlich Medium zu sein, Verstehen zu ermöglichen, leistet er in der Praxis eben nicht. Die sprachliche Kluft zwischen Intellektuellen und Arbeitern wird geradewegs noch durch diejenigen, die sich Gedanken über sie machen, vergrößert. Nicht zuletzt das diesem Begriff zugeordnete, in den Superlativ gesteigerte Adjektiv („höchster“) macht den Abstand deutlich. Die Realität ist in elitärer Form auf die Seinsweise des abstrakten, toten Begriffs heraufakademisiert worden. Die einzige Verbindung, die der Dichter jetzt und für die Zukunft zugestehen mag, ist der physiologische Prozeß des Atmens der gleichen Luft. Die Gleichheit beschränkt sich also auf die vitalen Bedingungen des Stoffwechsels. Das Einhalten vor dem letzten Vers, kenntlich gemacht durch den Gedankenstrich, akzentuiert diese Aussage, unterstreicht ihre Bedeutungsschwere und gibt ihm einen resümierenden Charakter: Die Hoffnung auf baldige qualitative Veränderung („mehr“) in der gesellschaftlichen Praxis wird vom Ich apodiktisch verneint (Z. 28).
Dennoch, trotz aller Kritik, trotz aller Skepsis und Zweifel ist dieses fast resignativ anmutende Urteil noch nicht das letzte Wort des Dialektikers Rühmkorf. Zu Beginn der vierten Strophe baut er zunächst einmal eine Gegenposition auf. Geschickt nimmt er Gegenargumente zu der zuvor eingenommenen Position vorweg. Der Hamburger „Linksausleger“ will von den Genossen nicht als Abtrünniger oder gar als Defaitist gescholten werden. Wiederum spiegelt die Schreibung („Ichweiß – ichweiß“, Z. 29) die entsprechende Sprachgeste wider. Diese ermöglicht es dem Ich, weiter zu räsonieren und zu werten, ohne dabei die kommunikative Bindung zu verlieren. Der Autor inszeniert ein Gespräch mit verteilten Rollen, arrangiert aber alle Rollen selbst. Schon in den folgenden Zeilen montiert er zwei weitere Stimmen in den fingierten Dialog ein. Die allgemeine Durchhalteparole, man solle – trotz Frustration, trotz gegenteiliger politischer Erfahrungen – sich weiterhin zum Sozialismus bekennen und ihn als Ziel im Auge behalten, konfrontiert er abrupt mit dessen problematischen Realisierungsformen im Osten und im Westen. Die veränderte Typographie (Z. 31–34) – Rühmkorf verwendet fast durchweg Großbuchstaben – macht die Montage sinnfällig; sie weist die Verse als Schlagzeilen von Flugblättern aus. Diese werfen, ohne daß der Autor sie ausführlich zu kommentieren braucht, ein ironisches Licht auf die Ideologieproduktion von Parteien und Verbänden, die die sozialistische Sache zu vertreten glauben. Da kaschiert die bombastisch propagierte Parteiparole von der Übernahme einer freiwilligen Sonderschicht durch „20.000 Stickstoffwerker“ Systemzwänge des sozialistischen Wirtschaftssystems: Gedacht wird hier unzweifelhaft an die Erfüllung von Plansollwerten, vorgegaukelt wird allerdings die solidarische Aktion, die selbst wiederum ideologisch durch den politischen Personenkult bestimmt ist. Um solche Indoktrination vollends zu entlarven, bedarf es nur noch der verfremdend wirkenden Unterbrechung des knöchernen Parteijargons und der provokativ gemeinten Zwischenfrage (Z. 32), die sich gleichzeitig als Appell an den besorgten Genossen versteht, sich solcher Verschleierungstaktiken zu vergewissern und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Aus dieser Entlarvung sozialistischer Parteiideologeme sollen allerdings die sog. westlichen Statthalter des Sozialismus, die bundesdeutsche Vertretung der Arbeiter, die Gewerkschaften, kein Kapital schlagen können. Diesem fragwürdigen Versuch, aus dem Verblendungszusammenhang der anderen Seite, der sich in abgegriffener Parteiphraseologie kundtut, ein Alibi für sich zu gewinnen, schiebt Rühmkorf sogleich den Riegel, das „Dagegen“ vor. Auch die Gewerkschaftsfunktionäre tragen ihren Teil zur ideologischen Verzerrung sozialistischer Fortschrittsideen bei. Das, was sich in ihrem Statement als Sorge um den Arbeitsplatz gibt, bezeichnet letztlich nichts anderes als die Verstrickung der Gewerkschaften im politischen System (Z. 33f.). Der Arbeitsplatz ist nur um den Preis der Aufrüstung zu erhalten, er muß erhalten werden, gleichviel, ob das hergestellte Produkt nun kriegerischen Zwecken dient oder nicht. Damit entlarvt Rühmkorf die sich als Sozialfürsorge gebende Geste der Funktionäre, ohne daß er sie indes ausführlich zu kommentieren braucht: Der vorgebliche Vertreter der Arbeiterschaft degeneriert zum Handlanger globaler politischer und wirtschaftlicher Interessenzusammenhänge. In solcher Abhängigkeit postuliert er zwar weiterhin abstrakt das Recht auf Arbeit, aber nicht auf eine menschenwürdige.
In beiden Fällen wird die Sache des Sozialismus verraten, auch wenn jeweils verdinglichtes Zahlenmaterial den kollektiven Anspruch insinuieren soll. Die „Wahrheit“ des Sozialismus, und das ist eben die durch die Macht- und Meinungszentralen ideologisch deformierte Praxis, desillusioniert deshalb „immer mal wieder“ (Z. 35), da feste Kalkulationen sowieso nicht mehr stimmen, den Glauben an eine sozialistische Zukunft. Doch damit nicht genug – der Autor holt, freilich nicht ohne Bitterkeit, zu einem letzten Schlag aus: Die beiden Schlußverse der Strophe verdichten in einem fast visionären Bild seine Zukunftserwartungen: statt abstrakte Hoffnung auf sozialistische Befreiung die konkrete Wahrnehmung einer Zukunft, deren Bedrohungspotential durch zunehmende Aufrüstung immer weiter eskaliert, statt Offenheit, statt Entscheidungsmöglichkeiten, der Blick in eine enge Mündung, die nichts anderes als den Tod verheißt (Z. 38). Dennoch schränkt Rühmkorf die Allgemeinheit dieses Urteils etwas ein; er bindet es an die Subjektivität seiner Position zurück. Das „Man“, das breite Öffentlichkeit bedeutet, wird parenthetisch durch ein emphatisch gesprochenes „jedenfalls ich!“ (Z. 37) relativiert. Reklamiert wird freilich nur der alte Topos von den prophetischen Gaben des Dichters, der das, was in der Zukunft droht, in seinen Werken anklingen läßt.
Ist das nun die endgültige Bankrotterklärung des Linksliteraten Rühmkorf, des Autors, der in den fünfziger Jahren mit jugendlichem Elan in seiner vitalistischen Lyrik und in seinen polemisierenden Essays die bildungsbürgerlichen Bastionen einer selbstgefälligen Restaurationsgesellschaft zu stürmen suchte? Eine Antwort darauf erteilt die letzte Strophe.
Der Sprachgestus des ersten Verses der letzten Strophe macht die hinter ihm stehende Haltung dem Adressaten transparent: Selbstbeschwichtigung. Die Radikalität der voraufgegangenen Ausführungen und der aus ihnen resultierenden Konsequenzen wird zunächst zurückgenommen. Schon das „Vielleicht“ (Z. 39) schränkt die Drastik der voraufgegangenen Aussagen ein. Dem Suchen nach möglichen Gründen für diesen düsteren Blick des Autors in die Zukunft wird die eingängige, „einfache“ Erklärung gegenübergestellt, obwohl diese wahrlich nicht einfach – das belegen die vielen Metaphern in den folgenden Versen – formuliert ist. Dem entspricht, daß diese zunächst nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst gesucht werden. Der Autor findet sie in dem schlichten Faktum seiner Biographie: Er ist älter geworden. Der Elan und die Vitalität der fünfziger Jahre sind verlorengegangen, das frische literarische Herzblut ist verbraucht, es zieht die Totenvögel an (Z. 40). Der politische Aufklärer hat resigniert. Er ist offensichtlich nur noch zu skeptischen Einschätzungen seiner Umwelt fähig. Die vielen Enttäuschungen haben ihn anscheinend geschafft, er hat sich abgefunden. Gleichwohl, gerade solche Gedanken will Rühmkorf nun doch nicht weiterverfolgen, obwohl er sie selber paradoxerweise nahegelegt hat. Die einfache, naheliegende Erklärung ist nicht nur schlicht, sondern auch schlecht.
Mit dem zweiten Vers der letzten Strophe wird die Tonlage des Gedichtes nun noch ernster, dunkler, melancholisch-depressiver. Die umgangssprachlichen Elemente, die vielen Partikel, Ellipsen, Synkopen sind reduziert worden. Allenfalls im folgenden Vers klingt noch eine bildliche Redewendung des Alltags an, die allerdings auch wörtlich verstanden werden kann. Die Metaphern, die der Autor nun in dichter Folge einsetzt, erzeugen eine schon fast wiederum hohe Stillage. Diese wirkt, obwohl mit Bildern einer depravierten Zivilisation durchsetzt („abgeriebener Pneu“, „die ewigen Müllgründe“ (Z. 43), bedeutungsschwer-mythisierend. Der Blick des Dichters zielt noch einmal auf die Totale. Dementsprechend fällt sein Urteil allgemein aus, ohne daß dabei der ihm eingeschriebene Appell verlorenginge. Dieser wirkt geradezu apodiktisch: Wem links die Orientierungspunkte für politisches Engagement und Handeln fehlen, für den endet die Geschichte, der Lauf der Welt, im Orkus, jedenfalls in einem Raum, der keine Lebensmöglichkeiten mehr bietet. Anklänge an die barocke Metapher von der Universalhistorie als einer „Rennbahn“ sind hier unverkennbar. Solches Todesurteil über die Zivilisation fordert notwendig, damit es in seiner Sinnschwere voll zur Geltung gelangt, die Pause, den Gedankenstrich ein. Diese Pause ist aber auch just die Gelegenheit für Rühmkorf, sich aus seiner Lage zu befreien, nach Regenerationsmöglichkeiten zu suchen. Diese nutzt der Autor dann auch voll aus, der nachfolgende Tusch, das „Düdelüdüt“ (Z. 44) unterbricht das für den Leser fast quälend anmutende Schweigen. Mit dem Tusch reißt er sich wie am eigenen Schopf aus dem Morast seiner Depressionen. Diese Lautmalerei und die umgangssprachlich abgeschliffene Wandlung „nu lauf doch nicht gleich“ (Z. 44) setzten sich fast spielerisch über die apokalyptischen Visionen in den voraufgegangenen Zeilen hinweg. Sie stoßen diese abrupt von ihrem sprachlichen Sockel herunter. Die vorhergehenden prophetischen Sprachgesten werden nun – paradoxerweise – nicht mehr als Alterssymptome erklärt, sondern als Naivität, als Hilflosigkeit gedeutet. Das Bild vom schutz- und hilfebedürftigen Kind, das sich mit seinen Sorgen zur Mutter flüchtet, pervertiert sarkastisch die Funktion des Dichters, der im Alter skeptisch-depressiv die universale Katastrophe heraufbeschwört. Im szenischen Arrangement und im plötzlichen Rollenwechsel gewinnt Rühmkorf zu sich selbst Distanz. Die „Normallage“ ist für ihn wieder erreicht. Diese bedeutet für ihn indes nie eine vorschnelle Harmonisierung von Widersprüchen, falsche Versöhnung mit dem Gegebenen. Spannung und Widerspruch müssen sichtbar und im dialektischen Zugriff auch ausgehalten werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind für ihn noch lange nicht im Lot. Der Tusch, der vorher noch der eigenen Desillusionierung, Entzauberung diente, gilt nun im folgenden – freilich in beißender Satire – den politischen Reformisten, Pragmatikern, den Gesetzesmachern (der sozial-liberalen Koalition). So, wie im komplexen Begriff vom „Krankenversicherungs- / kostendämpfungsgesetz“ (Z. 46f.) durch den vierfach ineinandergeschachtelten Genitiv das eigentliche Beziehungswort, die „Kranken“, semantisch entleert, grammatisch ausgehöhlt wird, sind in den Prozeduren der Gesetzgebung deren Resultate, das, was also real an Gesetzen verabschiedet wird, den eigentlichen Impulsen entfremdet. Das eigentlich zugrunde liegende Problem verschwindet meist auf dem Weg über die vielfältigen politischen Instanzen und Gremien; es wird gleichsam bürokratisch ausgetrocknet, so daß am Ende ein für die Bürger, die eigentlich Leidtragenden, schlechterdings unverständliches sprachliches Machwerk entsteht: Peter Handke hat uns für die sprachliche Verzerrung und ideologische Verbrämung eines Gesetzes mit dem Text „Die drei Lesungen des Gesetzes“ ein höchst illustratives Beispiel gegeben. Nichts anderes will eben der Rühmkorfsche Vers demonstrieren. Doch damit nicht genug: Der Autor scheint plötzlich Spaß an der Koppelung von Begriffen zu Mammutwörtern gefunden zu haben. Die ganze letzte Zeile des Gedichtes füllt ein weiteres Monsterwort aus. Spielerisch wird nun der oben geschilderte politische Verfahrensweg – das undemokratische Signum der sog. repräsentativen Demokratie – gänzlich ad absurdum geführt. Der Vers erinnert – was sollte Rühmkorf, der subversive Kinderreime und Gruppengesänge sammelt und interpretiert, näherliegen – an Sprachspiele der Kinder, die komplizierte Laut-, Wort- und Satzkombinationen zur Examinierung ihrer Zungenfertigkeit gern als „Zungenbrecher“ benutzen. Doch, was bei den Kindern Spiel ist, in dem dessen Träger gerade die Hauptrolle spielen, ist in der sozialpolitischen Realität bitterer Ernst. Der Genitiv wird hier zum sprachlichen Zeichen der Relativierung, der Entfremdung, er wird zum Abbild dafür, wie sehr die Menschen schon in die Abhängigkeit, in die Funktionale gerutscht sind.
So plötzlich, wie der Autor auftauchte, verschwindet er auch wieder. Er hat sich nochmals einen Spaß erlaubt, bevor er abtritt, einen Jux freilich, der dem Leser – fast wörtlich – im Halse stecken bleibt. Rühmkorf hat, so wie man ihn kennt, nach allen Seiten – und seine Seite ist dabei nicht ausgeschlossen – ironische Hiebe verteilt. Allerdings auch in diesem Selbstporträt ist er selbst kaum zu fassen. Er läßt sich nicht festlegen. Er spielt virtuos die verschiedensten Rollen: Onkel und Kind, Provokateur und Spaßmacher, Kritiker und Kritisierter usw. („Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier, /  v i e r f ü ß i g  – vierzigzehig –“); er inszeniert sich selbst, ohne die Szene zur Stätte bloßer Konfession erstarren zu lassen. Patentrezepte kann und will er nicht anbieten. Entweder versucht er, sich selbst vor dem Hintergrund der Probleme seiner sozialpolitischen Umwelt zu formulieren, oder er beschreibt, kritisiert und ironisiert die Verhältnisse im Horizont seiner eigenen Individualität.

Hier, meine Damen und Herren, bezeugt sich noch einmal aufs Würdigste:
Der Versuch des Individuums, die tragisch verlorene Einheitlichkeit…
na, sehn Sie schon,
wie es Balance übt zwischen Krisen- und Klassenbewußtsein.

Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel und Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982

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