Peter Gosse: Stabilierte Saitenlage

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Gosse: Stabilierte Saitenlage

Gosse/Müller-Stabilierte Saitenlage

NEIN!
An F.

Weil es dem ausm Leim gehenden Kosmos
(Noch zehn hoch hundert Jahre hat der zwar)
Du ja nicht vormachen musst.

Weil der Staub es einfach nicht wert ist,
Dass Du Dich ihm gleichmachst.
(Egalité schön und gut, aber doch nicht derart.)

Weil Du noch nicht satt gelebt hast,
Nicht geblickt hast, vom Wodka geöffnet,
Den Wind stochern in Kamtschatkas Wiesen.

Weil Du das Sterben nicht
Aus der manchen Einen Einzigen
Zärtlich gestaucht hast.

Weil sich Dein Wegwurf, weil sich er,
Der unziemliche, der unstatthafte – weil er sich
Verdammmich nicht gehört.

 

 

 

Zwei Leipziger

haben sich zu einem Projekt zusammengefunden. Der Autor Peter Gosse veröffentlicht Gedichte zu seiner „seelischen Gestimmheit“, die er als „Saitenlage“ beschreibt. Stabil wird diese Gestimmheit für den Dichter im Schaffensprozess und den Leser durch den Genuss der Lyrik. Gerhard Kurt Müller illustriert das Buch durch Zeichnungen und Holzschnitte.

Mitteldeutscher Verlag, Ankündigung

 

Verblitzendes Begehren

– Peter Gosse: Stabilierte Saitenlage – Liebesgedichte eines prägenden deutschen Dichters. –

Was macht den Wert von Wagnissen aus? Die Höhe des Aufschwungs? Doch eher die mögliche Fallhöhe. Die Liebe als Gleichnis: Jeder sucht nach dem Höhepunkt – um in eine Ermattung zu stürzen, die aber unbedingt noch zum Erlebnis zählen soll. Was in einer Liebesnacht möglich ist, wird im Leben leicht zum Drama. Nähe, diese große Sehnsucht, die Menschen zueinander treibt – sie bleibt der große, untilgbare Widerspruch. Nähe heilt nicht wirklich, Nähe reißt auf, es ist das eigentliche Tor zur Fremdheit, denn einen anderen Menschen erkunden zu wollen (Anmaßung!), ihn zu erfahren, gar zu erkennen, und sei es fragmentarisch – das ist immer auch der Eintritt in Untiefen, die alles noch dunkler machen; es ist auch der Schritt hin zu Abgründen, die keinesfalls nur immer harmlos gähnen.
Je tiefer man einander vertraut, je vertrauter man sich ineinander vertieft, desto unergründlicher gerät eine Liaison. Du stößt auf Wirre und Wüstheit und Unlesbarkeit. Vielleicht kann man die Welt von einem einzigen Punkt aus ins Zittern bringen, auf einen Punkt zu bringen ist sie nicht. Auch nicht durch Partnerschaft. Wahre Liebe, wahre Nähe ist noch in betoniert scheinender Gewöhnung aneinander und Gewohnheit miteinander das Spiel mit dem Unbekannten. Das uns in Träumen heimsucht, in Erinnerungen, im tobenden Geschwirr unseres so unsteten Bewusstseins.
Der Dichter Peter Gosse hat jetzt „Die Liebesgedichte“ veröffentlicht. Das klingt wie: Bilanz, Kompendium, Abschluss. Arbeitsstadium eines bald Achtzigjährigen. Natürlich ist da prall und immer noch praller jene Sinnlichkeit präsent, die dem Thema gemäß ist. Gedichte, die bezügliche Titel tragen: „Sündenphall“, „Aufreiß“, „Knäuel“, „Erotika-Septett 1 und 2“, „Nassheit“. Sogar im engen „Trabant“ war dem DDR-Manne manches möglich, wenn die bevorzugte Dame Voraussetzungen mitbrachte:

Fast knochenlos die Gliederchen, ich spreizt’ sie
So sanft ich eben konnte

Die potenzschädigende Wirkung von Wodka kommt ebenfalls zur Sprache:

Wie er mich
Enteist. Enteisent. Enteit.

Und die Selbstironie des Alters diktiert dies:

Wie mir die schönsten Löcher sich unübersehbar verschließen.
Löcher! Alleine sich auf tun des Gedächtnisses die.

Einmal schreibt Gosse:

Du stöhnst. Wenn ich ins Leben stoße verpufft es.

Da ist er!, der Ton, der das Leibliche weitet. Vom Schwanze ins Ganze. Dieser Dichter arbeitet gleichsam, im unentwegten Wechsel, mit Fernrohr und Mikroskop. Ein Gulliver der besonderen Art, der durch Nervenbahnen zu ziehen scheint, um im nächsten Moment aus fernster Galaxis auf den Menschen herunterzublicken. Heißestes Bemühen bei kaltem Blick; der Schrei der Lust ist auch der Schrei aus Schmerz: Von der Liebe kann man vieles erwarten, man kann von ihr aber kein besseres Leben erpressen. Packend, forsch, zart kreisen die Verse ums Unfassbare, das hinter den festen Wänden der normierten Existenz auf die Klopfzeichen wartet, die wir geben. Oft versehentlich, ahnungslos, ohne bewusste Sinnanstrengung – indem wir uns hingeben, indem wir uns hergeben, indem wir uns ausgeben, indem wir vergeben, indem wir uns viel vergeben.
Der Leipziger ist ein Meister der freudigst praktizierten Künstlichkeit, seine Sprache wölbt sich aus, ist neuwortfrech, sie stelzt auch mal, sie ist störrisch eigen, widerhakengierig – seine Lyrik ist die eines Spielers im Schiller’schen Sinne: Er hat wohl die Geschichte der Poesie als Geschichte der gesamten Gattung im Kopf – denn nur in der Dichtung sind das Murmeln, der Seufzer und die pathetische Überschreitung, die frenetische Freude und die abgrundtiefe Trauer noch immer und immerfort gegenwärtig als eine unanfechtbare Glaubwürdigkeit. Zu lesen ist von „fiebriger Entfernungsübergröße“, von „mütterlichen Hütungsblicken“, vom „Schabegeschrill des Baggers“, von „Twistes Tränensalz“, von „Unverwunschenheit“, vom „Lichtstäubchen Heimelung“. Die Welt ist „juniplustrig“, „lustzerspannt“ oder „dürrhell“.
In solcher Erfindungslust drückt sich seit jeher die Eigenart dieses großen deutschen Poeten aus: Der einstige Diplomingenieur für Hochfrequenztechnik, dessen erster Gedichtband Antiherbstzeitloses (1968) gegen Herbstiges und Zeitloses und Blümeliges antrat – er ist der Materialist, der aber heiter wider alles „Vernunftgezücht“ (Botho Strauß) schreibt; er ist der Lichthelle, der noch dort, wo er geradezu alchemistisch – und versiert in rhetorischen Kopplungstechniken – Sprache schöpft, ein Romantiker bleibt. „Stabilierende Saitenlage“? Etwas Stabiliertes – was ist das? Erzwungene, verkrampfte, unwirkliche Festigkeit und Sicherheit? Die Seitenlage im Bett – hingeleitet ins Kompositorische. Die Kunst der Liebe, das Liebeslied der Kunst. Aus stabiler Seitenlage ins Schweben der Phantasien.
Gosses Wort weiß mehr, als es sagt. Es stammt nicht aus den Geläufigkeiten. Es ist Austausch, „ich sog die Luft ein, die ihr Atem stieß“. Und dies Wort erfüllt auf unverwechselbare Weise die Grundbedingung des Literarischen: Es ist etwas, was mir selber fehlt. Also lese ich, als lebte ich mehr, als mir zu leben gegeben ist. Bei Gosse geht’s mir so. Ging’s mir schon immer so. Der Weitschwung. Das Tüfteltimbre. Das Antigeschmeidige. Und doch:

Ein Aufgehn irgend in Entgrenzung.

Hier entsagt ein Dichter der Informationsgesellschaft, die uns mit fortwährend Neuem so bedrängt, dass wir vergessen, wie alt die Welt schon ist. Im Buch das graphische Zuwerk von Gerhard Kurt Müller: viel Trauer, viel Gebeugtheit, also sehr viel Lebenswissen, und zur Mannes-Gemächtigkeit des Dichters das natürliche Gegengewicht: Frauen. Also: Mütter, Hütende, Hautlose – Heldinnen des Traums, Weichteile seien endlich anerkannt als Zentralorgane des Menschlichen. Wie ein schöner, herber, rauer Hauch Barlach!
Diesem Schriftsteller „im Aufgesied verblitzenden Begehrens“ ist das willenlose Gemächliche fremd, das ein Flaneur mit Behagen pflegen würde; auch besitzt er nicht die kühle Unberührbarkeit, mit der ein Chronist jedes Geschehen notiert – Gosse ist in seinen Liebesgedichten, die Lebensgedichte sind, ein nervöser Aufmerksamer, der mit anhaltender Kraft Zwiesprache mit dem Diffusen, dem Fernen und Früheren hält. Das die Anstöße liefert, um in der Wahrnehmung der Wirklichkeit, zwischen Oka und Darß, Saalestrand und Schladitz, ein Unbehagen zu spüren – und just dieses Unbehagen macht die Empfindung frei für „Beinglanz“ und „Weltbehaustheit“, für Erheiterungen und Erschütterungen. „Dasein, du Fehlgefüge.“ So erzählt dieser Diagnostiker vom Genuss des Nichtverstehens: dass nämlich zwischen Traum und Wirklichkeit der kleine Unterschied webt. Zum Wunderort seiner Poesie erhebt er jenen Punkt, an dem die Widersprüche an einen Stillstand kommen, der sie nicht aufhebt, sondern gleichberechtigt leuchten lässt.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 14.11.2017

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Ralf Juhlke: Stabilierte Saitenlage: Peter Gosses ganz und gar nicht sentimentale Gedichte von der Liebe
l-iz.de, 14.8.2017

 

Lyriker

– Der Lyriker und Essayist Peter Gosse (78), macht sich rar in der Öffentlichkeit. Zu Hause am Rand der Stadt, unweit vom Auensee, hat die LVZ ihn besucht. Gerade ist sein neuer Gedichtband Stabilierte Saitenlage erschienen. –

Lange nichts gehört? Was soll’s. Wer will, kann ja von Peter Gosse (78) lesen. Im Mitteldeutschen Verlag ist sein neuer Gedichtband Stabilierte Saitenlage erschienen. Schon der Titel verweist auf den geistreichen Wortschöpfer. Die Dichtkunst wird begleitet von der Bildkunst Gerhard Kurt Müllers, schon gut 90 Jahre alt, einst Rektor der hiesigen Hochschule für Grafik und Buchkunst und wie manch anderer dieser Maler-Generation mittlerweile das Schicksal der unverdienten Vergessenheit tragend. Gosse erinnert mit dem Gedichtbuch an das Schönste im Leben – die Liebe. Wird man wohl dürfen, meint der vitale Autor. Sein Leben nennt er „leidlich gelungen“. Dazu zählt die lange Partnerschaft mit seiner Ehefrau, dazu gehören zwei gut geratene Söhne, die es der Mutter, Ärztin von Beruf, gleich tun und zur Freude der Großeltern vor allem vier Enkel. Die sind zum Teil fast schon erwachsen und können mit Opas Gedichten „wenig anfangen“. Sie sind eher auf dem Trip der Slam Poetry, der wiederum der Lyrik-Großvater hilflos gegenüber steht. Gosse, nach seinen Literatur-Favoriten befragt:

Goethes Gedichte, das Alte Testament, obwohl ich ein lupenreiner Atheist bin, mein Dichterfreund Volker Braun und Friedrich Dieckmann, der brillante Essayist.

Peter Gosse ist von Beruf aus Hochfrequenztechniker. Das Fach studierte er einst in Moskau. Dorthin kam er, weil er keine Westverwandtschaft und auch sonst nichts gegen den DDR-Staat einzuwenden hatte. In Moskau der 1950er-Jahre wurde Gosse vom Dichter-Virus befallen. Er erlebte die sogenannte Tauwetter-Phase in der sowjetischen Politik. Auf dem Moskauer Majakowski-Platz wurden Gedichte vorgelesen, Gosse spricht von einer „betörenden Zeit“. Er lernte ihn fortan nicht mehr loslassende Persönlichkeiten kennen, Bella Achmadulina zum Beispiel und Jewgeni Jewtuschenko. Beide begleitete Gosse später auf Reisen durch die DDR und übersetzte auch deren Werke. In dem Buch Über das allmähliche Verfertigen von Welt im Dichten (Quartus Verlag, 2013) hat er auch über die Genannten geschrieben.
Moskau  veränderte Gosses Leben. Statt als studierter Physiker verdiente er bald als Literat sein Brot. Er unterrichtete am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher und leitete die Einrichtung kommissarisch, als zu Beginn der 1990er-Jahre deren Abwicklung anstand. Dass heute ein neues Institut besteht und wieder gute Arbeit bei der Ausbildung des Dichter-Nachwuchses leistet, will Gosse nicht unerwähnt lassen. Der russischen Sprache ist der ehemalige Student an der Moskwa noch immer mächtig. Der Dichter ist sogar für Firmen als Dolmetscher tätig. Nur verhagelt ihm aktuell der Wirtschaftsboykott gegenüber Putins Reich die privaten Geschäfte. Gosse wartet also aufs nächste politische Tauwetter.
Und er schreibt und schreibt. Jetzt an einem Buch für die Enkel. In Briefform entsteht eine Art Biografie in Episoden. Von den an- und aufregenden Zeiten in Moskau wird berichtet wie von jenen Tagen im Jahr 1976, als Genosse Gosse mit der Schriftstellerin Gerti Tetzner und dem Schriftsteller Manfred Jendryschik gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann eine Petition verfasste:

Es goss in Strömen an jenem Abend, und doch sind wir aus der Wohnung von Gerti Tetzner in der Lassalle-Straße ins Freie getreten, weil wir nicht wollten, dass die Stasi unsere Debatte mithört.

Ein Geschichtenbuch will Gosse schreiben. „Pemmikan“ wird es heißen, was eine Erinnerung ist an seine liebste Kindheitsbeschäftigung, das Indianerspielen damals in Eutritzsch. „Pemmikan ist das getrocknete Bisonfleisch. Mit dem kamen die Indianer gut durch schlechte Zeiten“, weiß Gosse.
Über ihn schrieb einmal Volker Braun:

Peter Gosse, hochqualifizierter Physiker, spannt gleichwohl auf Lyrik um. Ein Stromstoß von 500 Volt für die Dichtung, russische Sinnlust verlötet mit sächsischem Welternst. Telegraphendrähte zwischen Traditionen. Er hatte den Draht und zieht ihn bis heute, meisterlich.

Thomas Mayer, Leipziger Volkszeitung, 30.9.2017

 

ERKENNTNIS
für Peter Gosse

Nicht in glitzernder Ruhmeshalle;
Ob Quästor, ob quengelnde Qualle,
Auf dem Flohmarkt landen wir alle!

Adolf Endler

 

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Neuwortfrech und zwirbelgierig
nd, 5.10.2023

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Gosse“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Gosse

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