Peter Horst Neumann: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Mein Vater“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Mein Vater“. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Mein Vater

Er saß auf der Bank,
als ich kam.
Der Schnee stieg vom Weg auf.
Er fragte mich nach Laudons Grab,
aber ich wußte es nicht.

 

Fünf Zeilen Prosa 

Woran erkennt ein Kind seinen Vater, woran ein Vater sein Kind? Darüber sind Bibeln, Romane, Komödien und noch mehr Trauerspiele geschrieben worden, auch manches Suchbild und mehr als ein vergeblicher Brief an den Vater. Gedichte nicht allzu oft, sieht man vom Kirchenlied ab mit seinen Anrufungen und Preisungen des Vaters aller Väter und Kinder. Dieses Gedicht aber dürfte eines der kürzesten, härtesten, nüchternsten, traurigsten sein. Fünf Zeilen, kein überflüssiges Wort, drei Prosa-Sätze, die sich in Poesie verwandeln, sobald man erkennt, was durch sie hindurchweht. Wie Schnee. Soll man es nachzusprechen versuchen? Man müßte diesen Text meditieren, vielleicht so:
Wo ist dein Vater?… Weit weg, im Schnee… Er wird dich erwarten, wenn er dein Vater ist. Geh zu ihm… Bin schon gegangen, es war ein Weg durch die Kälte, kein Weg ins Warme. Ungeschützt saß er auf einer Bank… War da ein Haus?… Es war kein Nachhauseweg… Du hattest ein Zeichen der Freude erwartet oder wenigstens ein Zeichen seiner Erwartung… Er hat sich nicht einmal aufgerichtet, um mich zu begrüßen… Wenn es dich schmerzt, bedenke, daß er vielleicht nicht mehr fähig war, sich zu erheben, wie lange mochte er schon im Schnee gesessen haben. Der freilich erhob sich, du hast es bemerkt – „Der Schnee stieg vom Weg auf“ –, nimm es als Bild für die Vergeblichkeit deines Weges zum Vater, auch Schnee, wenn er aufsteigt, kehrt nicht dorthin zurück, wo er herkam… – Immer steht zwischen Vater und Kind eine Frage. Gleichgültig, wer sie stellt und in welchen Worten sie sich verbirgt. Selbst wenn sie niemals ausgesprochen würde, müßte sie doch beantwortet werden. Sie besiegelt die Fremdheit oder setzt der Fremdheit ein Ende, sie ist die Examensfrage der Kind- und Vaterschaft. Hier ist es ein trostlos-absurdes Examen: wo, bitte, liegt Laudons Grab? Alle Verlorenheit ballt sich in dieser Schulmeisterfrage aus der alten Habsburgerzeit – wie Schnee-, und wieviel Ratlosigkeit und Trauer liegt in dem einen Wort „aber“, wenn der Gefragte sein Überfragtsein sich eingesteht, so, als hinge an der richtigen Antwort noch irgendein Glück.
Von des Freiherrn von Laudon (1717–1790) Ruhmestaten berichteten einst die österreichischen Schullesebücher, vom Sieg bei Kunersdorf, von der Stürmung der Festung Glatz. Ein Rokoko-Held aus Maria Theresiens Streitmacht. In Karlsbad, heißt es, führte er Promenadengespräche mit Christian Fürchtegott Gellen. Vielleicht, wer weiß, haben sie dort auch über Literatur, vielleicht über Fabeln gesprochen. Da könnte beiläufig etwas zur Sprache gekommen sein, was auch dieses späte Gedicht noch betrifft: ob eine Fabel ihre Wahrheit in Versen oder in Prosa aussprechen, als „Moral“ formulieren oder besser in Bildern bei sich behalten sollte. Es sind strategische Fragen.
Wo aber liegt Laudons Grab? Etwa in einem Park bei Hadersdorf, nahe Wien? Nein, diese Antwort ist viel zu genau, sie berührt kaum den Sinn dieser Frage. Laudons Grab liegt auf den Friedhöfen des toten Wissens: in einem zerfledderten Lesebuch der Geschichte, in einem alten Lexikon. Aber wer weiß das noch, außer den verstorbenen Vätern, die draußen im Schnee sitzen auf der Bank und uns frieren machen mit Fragen, auf die wir die Antwort nicht wissen. 

MEIN VATER

Er saß auf der Bank,
als ich kam.
Der Schnee stieg vom Weg auf.
Er fragte mich nach Laudons Grab,
aber ich wußte es nicht. 

(Eine Erzählung von Ilse Aichinger beginnt: „In der alten Remise wohnt mein Vater, mein Vater hält sich auf dem Eis. Wer es nicht glaubt kann ihn mit mir besuchen…“ Weder erklärt die Erzählung jenes Gedicht noch das Gedicht die Erzählung, sie gehören aber zusammen. Die Erzählung hat den Titel „Mein Vater aus Stroh“.)

Peter Horst Neumann, aus Ilse Aichinger – Materialien zu Leben und Werk, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990

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