Peter Horst Neumann: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ aus Ingeborg Bachmann: Werke. 4 Bände, Band 1: Gedichte. 

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Böhmen liegt am Meer

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.

Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

Bin ich’s, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.

Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und
Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,
und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,

ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

 

Ingeborg Bachmanns Böhmisches Manifest

Ingeborg Bachmann war dreißig Jahre alt, als 1956 ihr zweiter und letzter Gedichtband erschien – nach Die gestundete Zeit (1953) die Anrufung des Großen Bären. Mehr war nicht nötig, um ihren Ruhm zu begründen und vielleicht für die kleine Ewigkeit der Literaturgeschichte zu sichern. Ihr „dreißigstes Jahr“ empfand sie als eine entscheidende Lebenszäsur. Sie hat dieser Erfahrung eine Erzählung gewidmet, und auch ihre erste Prosasammlung trägt diesen Titel. In den siebzehn Jahren bis zu ihrem Tod nach einem Verbrennungsunfall (1973) schrieb sie fast ausschließlich Prosa. Nur noch zwanzig Gedichte, die freilich zu ihren eindringlichsten gehören. Sie widerlegen den ignoranten Verdacht, Ingeborg Bachmanns poetische Kraft habe sich etwa im gleichen Alter erschöpft, in dem der frühvollendete Hofmannsthal seinen Abschied von den Gedichten nahm. Es war kein Ablassen vom Gedicht. Aber sie hatte sich selbst einen Maßstab gesetzt und sich diesem Maßstab bedingungslos unterworfen; demselben, den Gottfried Benn in seiner Marburger Rede („Probleme der Lyrik“) als Imperativ formulierte:

Lyrik muß entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.

Daß Ingeborg Bachmann diesen Anspruch auch in ihrer Prosa – einer glühenden Prosa, die sich immer wieder der Poesie in die Arme wirft – einzulösen versuchte, ließ ihr Buch Malina, das den Romanzyklus Todesarten einleiten sollte, zu einem Dokument grandiosen Scheiterns werden. In einem späten Gedicht, das sie der russischen Dichterin Anna Achmatova widmete – sie schrieb es im selben Jahr, 1964, wie das Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ –, wird dieser Maßstab bekräftigt („Wahrlich“):

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.
Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschrieb.

Nach einem Opernabend in der Mailänder Scala – 1956, also in ihrem dreißigsten Jahr – hat Ingeborg Bachmann über die Primadonna assoluta jener Jahre, über Maria Callas, Sätze notiert, die man zitieren darf, um sie selbst zu charakterisieren:

[… ] sie [ist] groß im Haß, in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität, sie ist groß in jedem Ausdruck, und wenn sie ihn verfehlt, was zweifellos nachprüfbar ist in manchen Fällen, ist sie noch immer gescheitert, aber nie klein gewesen… [Sie hat] auf der Rasierklinge gelebt […]. Ecco un artista […]. Sie war immer die Kunst, ach die Kunst, und sie war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die Heimgesuchteste, die Traviata. […] unvertraut in einer Welt der Mediokrität und der Perfektion.

Wer diese Sätze als Zeugnis einer emphatischen Identifizierung und Selbst-Verständigung zu lesen vermag, ist auf eine bedingungslose Selbst-Preisgabe vorbereitet, von der mir scheint, daß sie am eindrücklichsten aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ spricht.
Es ist ein Gedicht im ,hohen Stil‘, glühend und zugleich kühl, enthusiastisch und zugleich von nüchterner Einsicht; die letzte Standort-Bestimmung eines zur Auslöschung entschlossenen Ich. Aber es wendet sich zugleich mit einer brüderlichen Apostrophe (13: „Kommt her“) an alle, die an „einer Welt der Mediokrität und der Perfektion“ gescheitert sind, an die, welche keine Prüfung bestehen, an die Irrenden und Unverankerten; ihnen wird Heimat verheißen. Der Bogen der Affekte ist aufs äußerste gespannt; er verbindet Untergang und Rettung. – Wenn ,hoher Stil‘ in moderner Lyrik fast immer mißlingt, so ist es diese Gespanntheit, die ihn hier nicht nur ermöglicht, sondern notwendig macht: er erscheint als die Conditio sine qua non für die Gleichzeitigkeit von einsamer Introversion und hymnischem Aufschwung. Um diese Spannung abzusichern, erinnert sich das Gedicht eines Kunstmittels aus der klassischen Metrik, des Alexandriners.
Der sechshebig-jambische Vers mit einer Zäsur in der Mitte zwingt zu lapidarer Diktion; er begünstigt Antithesen auf engem Raum; er gibt Sätzen, die am Zeilenschluß enden, einen harten definitiven Charakter. Von den 24 Versen des Gedichts sind 17 als Alexandriner zu lesen. In 14 Versen endet der Satz mit der Zeile. Dagegen stößt in der hymnischen Apostrophe (13–20) und in der Engführung der Schlußstrophe die Syntax über die Versgrenzen hinaus. Dadurch gliedert sich der Text in drei Stufen: 1.: V. 1–12; 2.: V. 13–20, mit 19f. als ,Überleitung‘ zu 3.: V. 21–24, wo sich das Prinzip ,Satz gleich Vers‘ mit der ausgreifenden hymnischen Syntax verbindet. Der Alexandriner ist dem Gedicht als ein Prinzip der Ordnung eingeschrieben, doch im Durchbrechen dieser Norm schwingt die Sprache ins Freie. Diese Gleichzeitigkeit von Bändigung und Befreiung auf der metrischen Ebene wird beim Lesen zu einem wesentlichen Element der sinnlichen Erfahrung. Auf der Ebene der Botschaft entspricht ihr die Gleichzeitigkeit von Zugrundegehn und Unverlorensein.
Botschaft – der Titel bereits spricht sie aus. Daß sie zweifelhaft scheint, liegt paradoxerweise gerade am Indikativ der Gewißheit, mit dem sie vorgetragen wird. Eine alte Erinnerung klingt hier nach. Der Leser sollte es wissen; noch besser wäre es, wenn er das Erinnerte früher schon einmal gewußt und vergessen hätte und es jetzt, in einer Art von poetischem Schock, wieder und als ein Neues erkennen dürfte. Jeder weiß, daß Böhmen westlich von Mähren liegt; Böhmen liegt nicht am Meer. Aber die Gegen-Wahrheit zu dieser Gewißheit ist dennoch keine Lüge. Sie ist die Wahrheit einer großen Hoffnung, eines Märchens und der Kunst. Sie läßt sich sogar verläßlich datieren: 1611 schrieb Shakespeare The Winter’s Tale. Seitdem liegt Böhmen am selben Meer wie Sizilien, und wer in Sizilien zugrunde gehen soll, dem wird an Böhmens Küste das Leben gerettet. Diesen bei Shakespeare gefundenen Märchen-Gedanken hat Ingeborg Bachmann unter den Bedingungen ihrer aufs Absolute zielenden geistigen Existenz, aber auch unter dem Eindruck böhmischer Geschichte im 20. Jahrhundert zu Ende gedacht.
Im Namen des „ans Meer begnadigten“ Landes ist die politische Landschaft mitbenannt. Das Gedicht entstand 1964 nach Reise in die Tschechoslowakische Volksrepublik. Es war die Zeit der beginnenden Entstalinisierung, und an die innenpolitische Entwicklung der ČSSR knüpften sich damals Hoffnungen für die man später Namen wie „humaner Sozialismus“ und „Prager Frühling“ fand.
Zusammen mit drei anderen Gedichten erschien „Böhmen liegt am Meer“ vier Jahre später, im November 1968, in Enzensbergers Kursbuch (Nr. 15) – Ingeborg Bachmanns letzte Gedicht-Veröffentlichung. Am 15. August dieses Jahres hatten „sozialistische“ Panzer die böhmischen Hoffnungen überrollt. Unter dem Eindruck dieses historischen Schocks mußte ein Gedicht, in welchem Böhmen „ans Meer begnadigt“ wird, einen starken politischen Akzent annehmen. Diese Wirkung war zwar im Entstehungsjahr nicht vorauszusehen, doch die Nachbarschaft zu dem Gedicht „Prag Jänner 64“ beweist, daß der politische Effekt von 1968 eine bereits entstehungsgeschichtliche Begründung besaß. Die Reihenfolge der beiden Gedichte bei ihrer Veröffentlichung im Kursbuch ist uns eine Art Lese-Anleitung: erst „Prag Jänner 64“, dann „Böhmen liegt am Meer“.
In „Prag Jänner 64“ erscheint die Hauptstadt Böhmens zunächst als der Ort einer individuellen Wiedergeburt:

Seit jener Nacht
gehe und spreche ich wieder,
böhmisch klingt es,
als wär ich wieder zuhause,

wo zwischen der Moldau, der Donau
und meinem Kindheitsfluß
alles einen Begriff von mir hat.

Gehen, schrittweis ist es wieder gekommen,
Sehen, angeblickt, habe ich wieder erlernt.

Ein verkümmerter Mensch hat sich wiedergefunden. Er hat in der Fremde das Gehen und Sehen „wieder erlernt“; er erlebt dies, als wäre es die Wieder-holung seiner Kindheit. Er kam nach Prag als ein Stummgewordener und kann „Seit jener Nacht“ wieder sprechen. In seinem Sprechen klingen Heimat und Fremde in eins: weil es „böhmisch“ klingt, klingt es, „als wär ich wieder zuhause“. – Nach Hegels Sprachgebrauch bedeutet ,etwas aufheben‘ zugleich Vernichten, Bewahren und Emporheben, Steigern. „Prag Jänner 64“ reflektiert eine Erfahrung, die einer solchen Aufhebung gleichkommt: Aufhebung von Heimat, Erlösung eines in jedem Sinne heimgesuchten Ich. Damit deutet sich bereits jene Aufhebung und Begnadigung an, durch die (im andern Gedicht) Böhmen zur Heimat aller Heimatlosen wird. Zugleich aber ist in „Prag Jänner 64“ die böhmische Hauptstadt sehr deutlich auch ein Ort politischer Erfahrung, und diese politische Erfahrung bleibt untrennbar mit der privaten verbunden. Sie sind eins, wenn die Schlußverse von berstendem Eis und vom Rauschen befreiten Wassers sprechen:

Unter den berstenden Blöcken
meines, auch meines Flusses
kam das befreite Wasser hervor.

Zu hören bis zum Ural.

Das letzte Wort ist eine polit-geographische Vokabel. Sie deutete 1964 nur auf eine Furcht, die eine große Hoffnung begleitete. 1968 war aus dieser Furcht eine Erfahrung geworden, die fortan mit Böhmens Namen verbunden bleibt.
In dem Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ ist Böhmen von seiner Geschichte erlöst – „ein andres Land“ (21), ein Gnadenort mit ungewisser Geographie. Das Meer, an dem es nun liegt, hat zwar keinen Namen; es wird für immer „strittig“ bleiben (vgl. die letzte Zeile), aber die Autorität, der es seine Begnadigung verdankt, steht jenseits aller Zweifel. Sie muß den Rang und die Macht einer Gottheit haben; ihr Name bleibt verschwiegen: es ist Shakespeare, es ist – „ach die Kunst“. In ihr und durch sie hat ein heimgesuchter Mensch, der sich an keinen anderen Verheißungen aufzurichten vermochte, den Ort seiner Rettung gefunden. Eine Erlösungs-Sehnsucht, die älter ist als jeder, den sie verzehrt, weiß ihr Ziel. Aus ihrer Kraft sind einst Atlantis, Orplid und Utopia entstanden. Neben die Namen dieser niebetretenen Länder der Hoffnung tritt nun der Name „Böhmen“: ein Land der Freiheit, des Friedens und der Schönheit.
Wer „Böhmen“ betreten könnte, ginge „auf gutem Grund (2), er fände grüne Häuser und heile Brücken; ruhig und ohne Angst dürfte er erwachen. Und weil er aufgehört hätte, in den Kategorien von Besitz und Verlust zu denken, wäre er endlich auch fähig geworden, das, was „in alle Zeit“ verloren sein muß, „gern“ zu verlieren (3: „Liebesmüh“). Er ist nun immun gegen die Zumutung einer Sprache, von der ein böhmischer Jude, Franz Kafka, befand, sie rede „nur vom Besitz und seinen Beziehungen“.Welche Gelassenheit, sagen zu können:

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen. (5)

Freilich gilt für den Eintritt nach „Böhmen“, wie für jeden Ort einer wahren Erlösung, die Dialektik von Rettung und Untergang. Nur wer den letzten Einsatz, sich selbst, wagt, gewinnt das böhmische Heimatrecht. Er muß auch den letzten Besitzanspruch fahrenlassen, den Anspruch, unverwechselbar zu sein. Die Erkenntnis der Verwechselbarkeit, die uns leiden macht, schmeckt ihm nicht länger bitter:

Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.
[…] Bin ich’s, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich (4, 8)

Erst in dem Augenblick, da er „nichts mehr“ für sich selber will, kommt Böhmens Küste in Sicht, und es landet dort keiner, der zuvor nicht „zugrunde“ ging:

Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
[…]
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren
(10, 12).

In diesem Moment der gewußten Rettung (12) tritt das Ich des Gedichts aus sich heraus, mit weit geöffneten Armen. Es hat die Geschichte seiner Heimsuchung als seine eigenste Heilsgeschichte begriffen, und weil sie die seine ist, kann sie Verheißung für alle sein, die seinesgleichen sind:

Bin ich’s, so ists ein jeder…

Darum darf, ja darum muß das Gedicht nun in eine hymnische Heimrufung ausbrechen. Brüderlich wird den Gescheiterten, den „Unverankerten“ aller Zeiten die Botschaft ihrer gemeinsamen Heimat verkündet: Böhmer aller Länder, vereinigt euch! Das böhmische Manifest der Ingeborg Bachmann. Vielen wird es suspekt und unverständlich bleiben; und das darf es getrost, denn „böhmisch“ heißt ja auch unbegreifbar, unverständlich. Ein „Böhme“ aber ist Unverstehbaren zu Hause. Das alte abschätzige Wort „un bohémien“ gilt ihm als Ehrentitel – „ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält“ (23). Er weiß, daß „Böhmen“ am Meer liegt und daß für ihn nur in „böhmischen“ Dörfern heile Brücken und grüne Häuser stehen, Häuser, in denen sich seine letzte Hoffnung erfüllt im Land seiner Wahl.

Peter Horst Neumann, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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