Peter-Huchel-Preis 1985: Guntram Vesper

Mashup von Juliane Duda zum Peter-Huchel-Preis 1985: Guntram Vesper

Peter-Huchel-Preis 1985: Guntram Vesper

LANDMEER

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.

 

 

 

Laudatio auf Guntram Vesper

Die Jury des Peter-Huchel-Preises hat mich beauftragt, die Laudatio auf Guntram Vesper zu halten. Der Preis wird vergeben, wie man zu sagen pflegt, von der öffentlichen Hand. Wir müssen hier genauer sein und sagen: von zwei öffentlichen Händen – dem Land Baden-Württemberg und dem Südwestfunk Baden-Baden. Die öffentliche Hand, sie kann zwar nicht lesen, aber selbst dann noch übt sie Macht aus, wenn sie sich mäzenatisch mit Urkunde und Scheck für einen Poeten öffnet. Sie bedarf deshalb immer, und so auch hier, der sachlichen Legitimierung; sie braucht ein spezielles Kopforgan, eines mit mehreren Köpfen, eine demokratische Hydra sozusagen – das ist die Jury. Im Namen dieser Jury, der ich angehöre, darf ich hier sprechen, im Namen von Gabriele Wohmann, Bazon Brock, Peter Hamm, Alfred Kolleritsch, Adolf Muschg und Hans Wollschläger.
Nach der Satzung des Preises war das Buch, das wir prämieren dürfen, nur unter den lyrischen Neuerscheinungen des vergangenen Jahres zu suchen, also unter etwa 70 Titeln. Eine andere Jury hätte möglicherweise ganz anders entschieden. Unsere Wahl fiel auf den Band Die Inseln im Landmeer und neue Gedichte von Guntram Vesper, mit Zeichnungen des Autors, nebst einem Essay „Bemerkungen zum Schreiben von Gedichten“.
Über schlechte Gedichte einigt man sich sehr leicht; sehr viel schwerer spricht sich ein Urteil über die Mittelmäßigkeit. Auf der Stufe des Gelingens aber, auf der ein Text überhaupt erst Anspruch auf die Bezeichnung Dichtung gewinnt, weil er nicht mehr nur als das Resultat einer Tätigkeit, sondern als der Ausdruck eines Zustandes, einer unverwechselbaren eigenen Einstellung des Schreibenden zu sich selbst und zur Welt erscheint gerade dort fehlen uns für die Unterscheidung von „gut“ und „besser“ die objektiven Kriterien. Da bleibt der Leser, der je anders disponierte Leser, die letzte Instanz, und er behält das letzte Wort. Und da sind dann Mehrheitsentscheidungen sehr nötig. Eine Jury ist kein kollektives Meinungs-Subjekt. Sie ist vor allem ein Lese-, ein Gesprächs-Zirkel, bestehend aus Leuten, die aufgrund ihrer eigenen Arbeit an literarischen und kritischen Texten wissen, daß unsere Welt auf Verwechselbarkeit eingeschworen und auf Verfügbarkeit programmiert ist, und daß in ihr nichts schwerer errungen wird, als eine individuelle Kenntlichkeit, Kenntlichkeit eines Einzelnen in einer Sprache, die, wie Sartre einmal gesagt hat, immer „die Sprache der anderen“ ist – am schwersten die Kenntlichkeit im Gedicht. Wo sie gelingt, gelingt etwas Beispielhaftes, das allein schon, weil es gelang, anderen Menschen Mut machen kann.
Einige von uns aus der Jury kannten Guntram Vesper natürlich längst als Prosa-Autor, sie waren beeindruckt von seinem Buch Nördlich der Liebe und südlich des Hasses oder sie hatten im Autoradio ein Hörspiel gehört und waren dann langsamer gefahren, um ihr Ziel nicht vor seinem Ende zu erreichen. Manchen waren Gedichte im Gedächtnis geblieben, die sie in Anthologien, in Zeitschriften oder in dem 1982 erschienenen Band Die Illusion des Unglücks gelesen hatten. Daran konnten wir uns erinnern, als wir uns nun Gedichte aus Die Inseln im Landmeer vorlasen: Texte, die beim Wiederlesen immer dichter wurden. Ihre Sprache ist unprätentiös, ist frei von Überredungs- und Pathosgebärden. Es gibt kaum Metaphern, keine Umschreibungen; es ist eine lyrische Sprache, die man „unlyrisch“ nennen könnte – ich werde es noch deutlicher zu erklären versuchen. Auf schönes Klingen sind diese Gedichte nicht aus. Sie halten sich an das, was sich erzählen läßt. Sie erzählen auch. Man bemerkt Bruchstücke von Geschichten, meist sind sie autobiographisch getönt, und immer wieder stößt man dann auf Sentenzen, auf philosophische Reflexionen, Fragmente der intellektuellen Selbstvergewisserung. Dies alles bewirkt, daß man diese Texte zunächst wohl als Prosa zu lesen beginnt. Aber plötzlich gelangt man an einen Punkt, er läßt sich in der Topographie der Sätze kaum genau fixieren: man hat ihn schon überschritten, wenn man ihn bemerkt, man ist dann in diesem Augenblick in eine andere Lese- und Wahrnehmungsart hinübergewechselt – man gelangt an jenen Punkt, wo das Wahrgenommene im Gesprochenen nicht mehr aufgeht, wo der Mehrwert der Worte die Rede übersteigt: aus Prosa ist Poesie geworden. Dieses Umschlagen von Prosa in Poesie, das gelingt wohl nicht immer, es kann auch nicht immer gelingen, es ist etwas sehr seltenes, aber es geschieht in Guntram Vespers Gedichten doch bemerkenswert oft. Es gibt ihnen ihre poetische Evidenz. Dies verdankt sich einer strengen, einer genau kalkulierenden Spracharbeit, einer bewußtseinsklaren Sprachkunst, die sich im Text nicht zur Schau stellt, sondern verbirgt. Man entdeckt sie erst, wenn man den Eindruck des Textes empfangen hat und nun nach den Ursachen der Wirkung fragt.
In seinen „Bemerkungen über das Schreiben von Gedichten“ hat Vesper diese Arbeit als Arbeit geschildert und auch den Sinn angedeutet, den diese Arbeit für ihn besitzt. Es lohnt sich, solche Selbsterklärungen eines Dichters zu lesen; sie müßten auch für diejenigen wichtig sein können, denen Gedichte als ein befremdlicher Luxus erscheinen. Die meisten von ihnen leben in Arbeitswelten, in denen ihr Tun und ihr individuelles Lebensgefühl, Arbeit und Eigensinn, so disparat zueinanderstehen, daß die Arbeit als etwas erscheint, das vor allem erlitten wird. Die Arbeit des Dichters im Material der Sprache – in einem prinzipiell entfremdeten Material, wie man weiß – die Arbeit des Dichters hat dagegen ihr Ziel in der Kenntlichkeit, in der Selbstvergewisserung des Schreibenden. Auf dieses Ziel ausgerichtet wird sie zu einer symbolischen Handlung in einer Gesellschaft, in welcher, Arbeit fast nur noch als ein Notwendig-Gleichgültiges, als eine Art Gegenleben erfahren wird. Guntram Vesper aber kann von seiner Arbeit am Gedicht sagen, sie eröffne ihm „die Möglichkeit, der eigenen unverwechselbaren Sprache auf der Spur zu sein, ja sie ansatzweise zu sprechen.“ Das sind bescheidene Worte: er sagt „Möglichkeit eröffnen, ansatzweise“ und „auf der Spur zu sein“. Er weiß, daß „die eigene unverwechselbare Sprache“ ein nur mühsam erreichbares Ziel ist. Mit einer bestimmten Machart, einem stilistischen Markenzeichen, einer reproduzierbaren Manier, ist sie noch lange nicht gewonnen. Zu manchem Gedicht, sagt er, seien an die 50 handschriftliche Fassungen nötig gewesen, und das Manuskript für den Gedichtband Die Illusion des Unglücks habe ausgesehen, als sei da ein Roman von 600 Seiten im Entstehen gewesen. Und am Ende: 50 Gedichte, von denen vielleicht einige dem selbstgestellten Anspruch genügen, nämlich der eigenen unverwechselbaren Sprache etwas näher zu kommen. Er sagt: „Das Zwiegespräch zwischen den Wörtern auf dem Papier und mir, der ich undeutlicher und reicher bin, macht mich vor mir selber wahrnehmbarer!“
Daß der gleiche Drang nach Selbstvergewisserung nicht nur Vespers Gedichte, sondern auch seine Prosa bestimmt, prägt sich beim Lesen seiner Erzählungen sehr stark ein. Mit Beharrlichkeit reflektiert er seine eigene Lebensgeschichte, mit Beharrlichkeit sagt er immer wieder „ich“. Dieses Ich-Sagen ist aber weit entfernt von literarischer Ego-Manie; mir scheint, es kommt aus einer ernsten Bescheidenheit. Unsere Verantwortlichkeit gegenüber der Welt beginnt beim Subjekt, und die Zeitgeschichte ist zu allererst das, als was jeder Einzelne sie am dringlichsten erfährt: seine eigene Lebensgeschichte. Zeitgeschichte und Lebensgeschichte, sie sind in jedem Gedicht Vespers gegenwärtig, so als habe, wie es in einem heißt, „die Geschichte (…) mit dem Tag meiner Geburt begonnen“. Indem der Schreibende an seiner Kenntlichkeit arbeitet und sein Gedächtnis übt an der eigenen Lebensgeschichte, an seiner Herkunft, an seinem Werden, definiert er sich zugleich in seiner Zeitgenossenschaft. Die Daten erlebter Zeitgeschichte sind seinen Texten eingeschrieben: Krieg, Nachkrieg, zwei deutsche Staaten, die Grenze. Das alles und mehr wird benannt, aber diese Daten stehen auch unbenannt in Vespers Texten. Der Anfang eines Gedichtes:

Es ist nicht nötig, Tatsachen zu wiederholen
die zur zeitgenössischen Geschichte gehören
andererseits
muß man wissen, daß ich
im Spätherbst dreiundsechzig nach
Göttingen gegangen bin
und die verwüstete Ebene gesehen habe
in deren Mittelpunkt
Bürgers Grab liegt, was ich erst
zehn Jahre später erfuhr.

Das Gedicht, das so beginnt, heißt „Ein Stich ins Herz“. Es nennt schließlich doch ein zeitgeschichtliches Datum, aber eingefaßt in sehr private Erinnerungen:

Gegen Morgen, mitten
in unser Gespräch über Darmbäder und Urinkuren
die Nachricht von Kennedys Tod
da sieht man jetzt wieder, sagte der neue Freund
daß jedes Leben vor allem
einen historischen
Verlauf hat.
(…)

Dann küßte er mich auf den Mund
und zerbiß mir die Lippen, so
war das nämlich.

In dieser Weise werden Zeitgeschichte und eigene Lebensgeschichte in Vespers Texten immer zugleich erinnert: sie stehen im gleichen Erinnerungsbild, im Gedicht, das Gedicht ist die Sprachform seines Eingedenkens.
Ich sagte eben, seine Gedichte zeigten eine starke Prosanähe. Vesper selbst hat seine Gedichte als „stark stilisierte, verkürzte und verdichtete Geschichten“ bezeichnet. Das mag so sein, jedenfalls bemerkt man in seinen Prosa-Geschichten eine gleiche Beharrlichkeit des Ich-Sagens und die gleiche Bemühung um individuelle Präsenz und Kenntlichkeit, wie in den Gedichten. So teilt uns der Autor in dem Kapitel „Ein Vormittag auf dem Lande“, nachdem er eine Geschichte erzählt hat, mit: „Vielleicht sind solche Geschichten, die offen beginnen und offen enden, sich aber eng erzählen lassen, und das, was ich über mich sage, Wohnsitz, Kindheit, Träume, der Zustand der Ehe, Bilder des gleichen Kaleidoskops, das sich in meinem Kopf dreht. Wissen wollen, wer man ist. Es sagen wollen. Man muß weit ausholen.“ Dieses Weit-Ausholen mag zu einer Geschichte oder mag zu einem Gedicht führen, einer „verdichteten Geschichte“, wie er es nennt. Das Ziel ist das gleiche: „Wissen wollen, wer man ist. Es sagen wollen.“ Seine Gedichte aber seien nicht etwa „Widerspiegelungen von Erlebnissen, sondern von Empfindungen, von Mitleid, Trauer und Empörung, (…) ein Arrangement innerer Bilder.“
Vesper sagt: „Empfindungen“, und nur drei scheinen ihm nennenswert. Mein Eindruck ist, daß sie zusammen der Grundakkord, die Tonika seiner Lyrik sind: Mitleid, Trauer und Empörung. In der gleichen Reihenfolge erscheinen sie auch in einem Gedicht, nicht in irgendeinem, sondern im Titelgedicht der Sammlung, nämlich in dem Gedicht „Landmeer“. Es ist ein Text, der sich von allen anderen in diesem Bande sehr stark unterscheidet, ein beschwörend gesprochener Text, eine Devise, gebieterisch, imperativisch. Das alles deutet auf eine besondere Dringlichkeit hin, die die Gleichheit des einen Wortes „Landmeer“ im Titel des Bandes wohl unterstreicht.

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.

Da ist erst ein Verbot („wir dürfen nicht“), dann ein Gebot („wir müssen“). So wird eine Norm gesetzt oder in Erinnerung gerufen – eine kollektive Norm, denn das „Wir“, es heißt ja nicht „ich“, sondern „wir“, erheischt eine Verbindlichkeit über den Einzelnen hinaus. Gleichwohl kann nur das Leben je eines Einzelnen, dessen Beschreibung, dessen Erzählung gemeint sein. Wer ist hier angesprochen? „Wir dürfen unser Leben nicht beschreiben, wie wir es gelebt haben, sondern müssen es so leben, wie wir es erzählen werden“ – wer ist hier angesprochen? Sind es nur die Schriftsteller? Nein, gewiß nicht. Fast zwanghaft scheinen wir ja das, was wir erleben, auch erzählen zu müssen, und selten widerstehen wir dabei der Versuchung, Gelebtes erzählerisch zu korrigieren, zu beschönigen, zu ästhetisieren. Es anders zu erzählen als es war, scheint die einzige Möglichkeit, uns nachträglich zu verbessern. Aber an welche Werte denken wir, wenn wir unsere Mängel erzählend retuchieren? Woran wird unser humaner Wert, der humane Wert unseres Lebens gemessen? Vespers Text sagt: „Mitleid, Trauer und Empörung“ daran, also an jenen sozialen Affekten, mit denen Menschen auf Leiden, Verluste und Unrecht antworten. Ohne diese sozialen Affekte ist unser Leben nicht wert, erinnert zu werden. Dann, so wird uns gesagt, dürfen wir es nicht beschreiben. Aber wir wollen, wir müssen erzählen. Die Sprache ist uns gegeben, damit wir uns füreinander erinnern. Dann werden wir also erinnerungswürdig zu leben haben: trauerfähig, mitleids- und empörungsbereit. Hier werden also Leben und Erzählen, Sittlichkeit und Ästhetik ununterscheidbar in eins gesetzt – dies ist ein sehr kategorischer Imperativ. Ihm zu gehorchen, dürfte ebenso schwerfallen, wie es schwerfällt, sich ein Land vorzustellen, das ein Meer ist, oder ein Meer sich vorzustellen, das Land ist. Aber gerade dieses Wort „Landmeer“ hat Guntram Vesper seinem Text als Titel gegeben, ein Wort, das unsere sinnliche Einbildungskraft ebenso in Spannung versetzt wie der Spruch, der darauf folgt, unsere moralische Einbildungskraft umtreiben muß: wir sollen die Einheit des Unvereinbaren herzustellen versuchen. Das wird uns mißlingen, gewiß, aber der Wunsch, daß es gelingen möge, dieser Wunsch soll in uns wach bleiben. Die Vereinigung von Land und Meer zu einem „Landmeer“ – sie müßte eine andere Erde ergeben. Und die Versöhnung von Leben und Erzählen, von Leben und Kunst ergäbe wohl eine andere, bessere, vielleicht vollkommene Welt. In diese Richtung lenkt das Titelgedicht „Landmeer“ unser Denken. Es formuliert einen hohen Anspruch, einen zu hohen, und daß er zu hoch ist, das weiß Guntram Vesper sehr wohl. Aber er sucht seine Kenntlichkeit in dieser Richtung, und in dieser Richtung, so möchte ich glauben, liegt das Ethos seines Schreibens.
Lassen Sie mich zum Schluß noch von einem Gedicht sprechen, in dem der Lyriker Guntram Vesper mir ganz besonders kenntlich geworden ist. Ich sagte: von der Prosa her, was ja keineswegs selbstverständlich ist, gelangt er zum Gedicht – von der „Prosa des Lebens“, von seiner Lebensgeschichte, von erinnerten Alltäglichkeiten her, von Erfahrungen, die sich eigentlich erzählend wohl am besten mitteilen lassen, und von der Prosa der intellektuellen Reflexion, vom Nachfragen, vom Denken her. Aber keine dieser beiden Arten von Prosa macht aus einem Text ein Gedicht. Das Subjekt des Denkens wie das Subjekt des Erzählens – sie müssen in ihrer Sprache verwechselbar bleiben. Ich spreche über das Gedicht „Tagebuch Anfang Februar“. Es beginnt in der Manier eines Ich-Berichtes mit einer Situationsschilderung:

Große Kälte seit Sonntag. So zersprang
heute nacht im Schlafzimmer
während ich las
die Zentralheizung unter dem geöffneten Fenster.

Hier konkretisiert sich große Kälte im Zerspringen einer Zentralheizung. Vom sprechenden Ich prägt sich nur ein, daß es im Bett liegt und liest, und daß es gut getan hätte, das Fenster zu schließen bei solcher Kälte. Übrigens erscheint das Personalpronomen „ich“ im ganzen Text nur dieses eine Mal, in der syntaktisch untergeordneten Stelle einer Zeitangabe – „während ich las“. Darauf folgt nun eine Zwischenzeile, die ich vorerst übergehe, und dann folgt die Schlußpassage des Textes, eine Reflexion in der Sprachform einer rhetorischen Frage. Aber diese Frage scheint mit der ärgerlichen Banalität der zerspringenden Heizung rein gar nichts zu tun zu haben:

Was
wird aus einem Land,
wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat.

Auch dieser Textteil identifiziert seinen Sprecher kaum. Im Understatement der rhetorischen Frage spricht sich eine verzweifelte Ratlosigkeit aus, eine Ratlosigkeit, die viele Subjekte hat. Es ist die Ratlosigkeit jedes Denkenden, der inne wird, wie sehr Verdrängungsmentalität und Gedächtnisverluste unser gesellschaftliches und unser privates Leben bestimmen. Der Autor hat diese beiden verschiedenartigen Textteile collagiert – sie sind beide prosaisch, eine erzählte Situation und eine Reflexion in Gestalt einer Frage. Sie stehen hart und wie unvermittelbar zueinander, zwei ungleiche Texte, wenn man sie so separiert, wie ich es hier zunächst getan habe. Aber sie schießen zusammen zu „einem“ Text, ja, zu einem Gedicht, sie gewinnen eine Zusammengehörigkeit durch das eine Wort „Aufschrei“, das zwischen ihnen in der Fuge steht:

TAGEBUCH ANFANG FEBRUAR

Große Kälte seit Sonntag. So zersprang
heute nacht im Schlafzimmer
während ich las
die Zentralheizung unter dem geöffneten Fenster.

Ihr Aufschrei.

Was
wird aus einem Land,
wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat.

In diesem einen Wort „Aufschrei“ – genau plaziert zwischen Prosa und Prosa – entscheidet sich, man darf sagen: blitzartig der Gedicht-Charakter dieses Textes. Danach ist jedes Wort im Text ein anderes, und anders zu lesen sind wir es gezwungen. Es heißt „Ihr Aufschrei“ – das Pronomen behauptet, es sei die Heizung. Aber hier schreit etwas ganz anderes auf, etwas ganz anderes wird hier gehört in einer „großen Kälte“ anderer Art. Nicht irgendein Aufschrei, nicht irgendeines Aufschrei, sondern, wie ich glaube, der Schrei aus der Tiefe der Verzweiflung wird hier vernommen. Und es ist einer da, der ihn hört, und es ist doch nur ein Kälterohrbruch geschehen, eine Heizung zersprungen, eine Zentralheizung.
Ich sagte, daß die Gedichte von Guntram Vesper oft wie Prosa beginnen und daß der Leser sich dann oft genug an einem Punkt wiederfindet, wo das, was er wahrnimmt, nicht mehr im Gesprochenen aufgeht, wo die Evokationskraft der Worte die Rede übersteigt, wo erzählende und nachdenkliche Prosa plötzlich umschlägt in Poesie – Poesie, welche die Sprachgestalt des Gedenkens ist, Poesie aus Mitleid, Trauer und Empörung. „Tagebuch Anfang Februar“ ist für mich ein solcher Text. Und für Gedichte wie dieses wollte die Jury Guntram Vesper danken.

Peter Horst Neumann, Laudatio auf Guntram Vesper, 1985

Heuwege und innere Landschaft

Als die Juroren des nach Peter Huchel benannten, zu seinem Andenken gestifteten Preises mich für meinen Lyrikband Die Inseln im Landmeer und neue Gedichte auszeichneten, wußten sie nicht, und konnten sie auch nicht wissen, daß ich seit Januar neunzehnhundertdreiundsechzig, so der Eintrag auf dem Vorsatz, Peter Huchels Gedichtbuch Chausseen Chausseen besitze und es seit damals jenseits aller Strömungen der Neigung, aller Entwicklungen des Interesses immer wieder zur Hand genommen habe, daß auf meinem Arbeitstisch seit zweiundzwanzig Jahren ein Foto Huchels mit seiner Widmung steht, kurz, daß ein Preis, der seinen Namen trägt, mir doppelt teuer ist und mich doppelt verpflichtet.
Mit kaum siebzehn Jahren aus der vertrauten sächsischen Kleinstadt Frohburg erst ins funkelnde Westberlin, dann nach Westdeutschland gekommen, stand ich lange unter einem diffusen betäubenden Schock, den Beziehungslosigkeit und ein Anhauch von Kälte mir versetzt hatten. Das Schülerheim in Hessen, in dem ich lebte, ein mürber Kasten aus dem neunzehnten Jahrhundert, war nacheinander Kaserne, Seminar und Lazarett gewesen, wir schliefen in den alten Eisenbetten der Soldaten, unsere Sachen lagen in Militärspinden, das Leben im Haus war auf Befehl und Gehorsam aufgebaut.
Ich war allein. Ich fing an zu schreiben. Und ich entdeckte lesend, was Literatur ist und sein kann, nämlich Erkundungs- und Enträtselungsversuch, nämlich Vision oder genaues Bild unserer Möglichkeiten, ihrer Verwirklichung oder Vernichtung.
Ich begann zu ahnen, daß die Geschichte eines jeden von uns auch die Geschichte seiner Lektüren ist, der Gänge und Streifzüge durch Bücher, in Wochen, Monaten, Jahren, der Antworten, die man auf Sätze, Bilder gegeben hat. Wege in die Literatur, Expeditionen nach eigener Karte, durch episch ruhige oder ausblickreiche aufregende Gegenden, auf große unvergeßliche Stationen und Landmarken zu.
Eine solche hervorragende Station, die selten sein muß, wenn sie wertvoll bleiben soll, befindet sich immer dort, wo Eigenart und Bedeutung des Buches und Bereitschaft des Lesers sich auf eigenartige Weise berühren, so daß es scheint, als sei das Buch für den, der es aufschlägt, geschrieben worden, als habe der Leser auf dieses Buch zugelebt, es ungeduldig erwartet. Peter Huchels Gedichtband Chausseen Chausseen vom Anfang des Jahres dreiundsechzig ist für mich eines jener rarer Bücher gewesen und bis heute geblieben.
Gleichweit von jedem modischen Gestus wie von jedem Spruchband entfernt, wirken Peter Huchels Gedichte wie Muster, wie Vorbilder einer Poesie, die das Hochartifizielle und das Einfache verbindet und so Texte hervorbringt, die von größter sprachlicher, gedanklicher Eigenart und Besonderheit sind und die gleichzeitig allgemeine Dokumente unseres Jahrhunderts und unser aller Geschichte darstellen.
Damals wie heute steht mir, was atemloses, staunendes Zuhören angeht, eines der Gedichte besonders nahe.

CAPUTHER HEUWEG

Wo bin ich? Hier lag einst die Schoberstange.
Und schüttelnd die Mähne auf Leine und Kummet
Graste die Stute am wiesigen Hange.
Denn Mittag wars. Bei Steintopf und Krug
Ruhten die Mäher müde im Grummet.
Am Waldrand, wo schackernd die Elstern schrien,
Stand halb in der Erde ein Mann und schlug
Mit Axt und Keil aus Stubben den Kien.
Wann war dieser Sommer? Ich weiß es nicht mehr.
Doch fahren sie Grummet, der Sommer weht her
Vom Heuweg der Kindheit, wo ich einst saß,
Das Schicksal erwartend im hohen Gras,
Den alten Zigeuner, um mit ihm zu ziehn.

Dieses ruhige, genaue und klare Gedicht, eine Jugendarbeit Peter Huchels, gibt den Blick auf ein brandenburgisches Arkadien des Alltags, wie Kinder und Dichter es sehen. In ihm wird vieles von dem vorgewiesen und miteinander verbunden, was uns von Anfang an beschäftigt hat, woran unser Herz hängengeblieben ist: die anderen; ihre einfache sinnvolle Arbeit; die Tiere; Natur überhaupt; Jahres- und Tageszeiten; Geruch; das Kind selber; seine Erwartung. Und, als Antrieb zu sprechen, das Bewußtsein vom Ablauf der Zeit. „Wann war dieser Sommer? Ich weiß es nicht mehr.“
Aber auch der den Kinderschuhen Entwachsene, der Ältergewordene hat das Bild noch vor sich oder findet es wieder, Heu wird gefahren, auch jetzt, vom Weg weht der Sommer, die Welt von gestern hat sich in innere Landschaft verwandelt und ist damit zum dauernden, überdauernden Traum geworden, von dem niemand genau weiß, womit er enger zusammenhängt, mit dem Vergangenen, wie wir es erlebt haben, oder mit dem Kommenden, wie unsere Wünsche es zeichnen.
Wir alle kennen diese Art Bilder, wir alle besitzen sie. Wir wissen, sie sterben mit uns, wenn wir sie nicht weitersagen. Indem jedoch der Schriftsteller seine ganz eigene innere Landschaft zusammenfaßt, sie verdichtet, ihr Bedeutung gibt, spricht er nicht allein für sich, sondern auch für die anderen. Denn es ist ein Kennzeichen der Literatur, daß im ausgeprägten Besonderen immer das Allgemeine bereitliegt, in dem der Leser sich finden kann.
Wer dieses Jahrhundert, wer unsere Welt in Worte zu fassen, zu begreifen versucht, hat es nicht allein mit Heuwegen, Erinnerungsfeldern, Bildern und Worten zu tun. Um uns gibt es auch Niedertracht, Gewalt, Entwürdigung. Die Furcht vor der Wahrheit, die die Mächtigen und ihre Handlanger beherrscht und die, (je größer die Macht, desto größer die Angst) in dem Bestreben gipfelt, den Reichtum an Gefühlen, Gedanken und Empfindungen auszulöschen, indem man, stellvertretend gleichsam, die Wortführerin Poesie erledigt oder zur hinfälligen Nebensache erklärt, hat auch Peter Huchel erfahren. Was von ihm im Oktober neunzehnhundertzweiundsechzig aufgeschrieben worden ist, liest sich wie die unerläßliche Nachschrift zum „Caputher Heuweg“.

TRAUM IM TELLEREISEN

Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.

Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis −
Das Schweigen.

Der Hagel meißelt
Die Grabschrift auf die schwarze Glätte
Der Wasserlache.

Der Traum also ein kleines ungezähmtes Tier, ein Bewohner der Weite. Man stellt ihm mit Schlagfallen nach. Die Jäger in ganz verschiedener Gestalt und Verkleidung. Hüten wir uns.
Das Vorhandensein einer großen inneren Landschaft, einer Vielfalt von Empfindungen und Erinnerungen, das Bewußtsein der eigenen Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit gibt dem Sprechen über öffentliche Zustände Berechtigung und Gewicht, macht es erst glaubhaft.
So habe ich mir Peter Huchels Gedichte erklärt, so habe ich bedeutende und bedeutungsvolle Literatur immer gelesen, so habe ich selber zu schreiben versucht.
Ich bedanke mich für den Preis.
Und ich merke an, zum Schluß, daß ich diesen Preis auch dem inzwischen verstorbenen Verleger Karl-Georg Flicker aus Pfaffenweiler verdanke. Denn Karl-Georg Flicker schrieb mir im Winter neunzehnhunderteinundachtzig einen Brief und regte einen Gedichtband an. Dieser Gedichtband ist im Herbst neunzehnhundertzweiundachtzig im Verlag der Pfaffenweiler Presse, nur zehn Kilometer von hier, erschienen. Das war die erste Ausgabe der Inseln im Landmeer.
An Peter Huchel, auch an Karl-Georg Flicker, denke ich heute.

Guntram Vesper, Dankesrede, 1985

Mitschnitt der Preisverleihung vom 3.4.1985

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&D + KLG +
ArchivInternet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Guntram Vesper: Welt ✝︎ SZ ✝︎ TS ✝︎ FAZ ✝︎ FR ✝︎ NDR ✝︎
BR ✝︎ mdr ✝︎

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Guntram Vesper

1 Antwort : Peter-Huchel-Preis 1985: Guntram Vesper”

  1. Redaktion sagt:

    Selbstvorstellung
    Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

    Sechs Gedichte. Biografieversuch

    Dreieinhalb Wochen vor dem Einbruch der Wehrmacht in die Sowjetunion bin ich in der Kleinstadt Frohburg südlich von Leipzig zur Welt gekommen.

    Frohburg

    Auf dem Weg in die Schule
    durch Thälmannstraße
    Schlossergasse, Hintergraben
    dem fernen Dröhnen aller
    Aufmärsche und Umzüge nach
    sah ich die Stadt wie
    mich selber
    halb ja und halb
    nein.

    Beim Einschlafen viele Jahre
    das Zucken der Beine
    und wenn ich aufwachte, ein
    Stechen im Ohr.

    Mein Vater war Arzt, nach fünfundvierzig versorgte er neunzehn Dörfer, zwei Marktflecken, einen halben Kreis.

    Der Vater als Landarzt

    Er fuhr in die toten Nächte
    der Nachkriegswinter hinein, die Wege
    auf die Dörfer waren
    unter Schneewehen verschwunden

    Blieb das Auto stecken, nahm er die Schaufel
    und grub sich zum nächsten Bauern durch.

    Jahrzehnte später fand ich
    den vermißten Fahrer
    seinen ausgeschlachteten Wagen wieder, auf den
    Fotos von gestern

    die eine zitternde Hand mir hinhielt
    als Erklärung
    für ein ganzes Leben.

    Die Bilder des Mangels, der Not, mit denen ich aufwuchs, in einer Zeit des Aufbruchs und der Verwirrung. Das Reich war erledigt, das finstere Gestern noch nicht.

    Die Spur

    Aus ihrer Niedertracht waren schnell
    spannende oder spaßige
    Geschichten geworden
    staunen sollte man, fragen
    durfte man nicht.

    Wie sie den jüdischen Drogisten
    unten am Markt
    aufs Kreuz gelegt hatten
    beim Verkauf des schönen
    stattlichen Hauses.

    Als wir die Sachen
    aus unserem schlechten Laden zur
    Drogerie brachten
    auf einem geborgten Fuhrwerk
    war unter dem Gerümpel ein Faß mit
    Honig umgefallen
    und tropfte eine klebrige Spur
    auf das Pflaster, von allen Seiten
    kamen die Hunde und
    leckten die Straße
    hinter uns
    sauber, wir
    lachten und lachten.

    Auch das Heute und das Morgen sahen wie Krüppel aus.

    Auf beiden Seiten der Donau

    Die Postenflüge der Krähen
    über den kahlen Bäumen des Kirchplatzes
    im November sechsundfünfzig kann ich
    nicht vergessen

    das ungarische Krächzen.

    Und jede Haustür, die
    ins Schloß fiel
    klang wie ein Schuß.

    Wir versuchten, einander
    von den Augen zu lesen:
    leben sie noch.

    Nein, sie sind tot
    schon nach einer Woche.

    Neunzehnhundertsiebenundfünfzig, ein Jahr nach dem Aufstand in Ungarn, nahmen die Eltern mich mit in die Bundesrepublik, Notunterkunft, Heimschule, Empfindung von Kälte, erste Schreibversuche. Studium der Germanistik, Philosophie, des vorigen Jahrhunderts und der Medizin.

    Aus dem Leben der Studenten

    Erinnerung an die Berührung der Lippen
    mit der alten müden Haut von Vater und Mutter
    und mit der festeren
    Haut meiner Schwester.

    Jeden Morgen ging die Sonne
    hinter einer
    Kaserne auf
    und wenn ich im Winter gegen Abend
    aus der Anatomie kam
    erschrak ich

    über den Heißhunger, der mich
    nach dem stundenlangen Umgang mit Menschenfleisch
    in seiner grellroten Farbe
    befiel.

    In der dritten Imbißstube kehrte ich ein.

    Beim Weitergehen roch ich
    an meinen Händen
    die Bratwurst und das
    Leichenfett und ahnte, auf welche Weise man
    zur gleichen Zeit
    die menschliche Wärme lieben und von
    Blutbädern
    träumen kann.

    Aus Liebe zu den Büchern, zur Literatur: das Schreibtischleben. Der genaue Blick, die genaue Arbeit als Aufforderung. Versuche, die eigene Geschichte und die der anderen, des Landes zu verbinden und zu verdichten.

    Landmeer

    Wir dürfen unser
    Leben
    nicht beschreiben, wie wir es
    gelebt haben
    sondern müssen es
    so leben
    wie wir es erzählen werden:
    Mitleid
    Trauer und Empörung.

    Guntram Vesper 1985, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00