Peter-Huchel-Preis 1991: Günter Herburger

Mashup von Juliane Duda zum Peter-Huchel-Preis 1991: Günter Herburger

Peter-Huchel-Preis 1991: Günter Herburger

ABSCHIED

Das Vollkommene verträgt keine Zeugen.
So betrachtete ich die Erde, als ich hoch oben
in meiner Kapsel ruhte und kreisend dahinzog,
die Schwerelosigkeit genoß und zusah,
wie eine Efeusprosse in ihrem Reagenzglas
schneller keimte als dort abwärts,
und dachte auch daran, daß Gehorsam und
aaaaaLangeweile
meine Begleiter gewesen waren in diesem, unseren Land,
das fern unter einer Wolkenbank lag.

Löst die Kunst die Probleme der Menschen,
deren materieller Ausdruck immer wieder nur
die Technik sein soll, damit Wohlbehagen gedeiht
auf Kosten der Anmut und einer selbstbewußten Güte,
die jedes Begehren auch nach außen kehren würde?
Verhindert nicht jeder Genuß, Ziele anzustreben,
vor Anstrengung wütend und bloß?

Da lag ich aufgebahrt in meinem Raumschiff,
bedacht mit Dienstleistungen, Wissen und voll Poesie,
auserkoren, ein vergnügliches Beispiel zu sein,
in einer anderen Welt niederzukommen,
wo das Raunen der noch Ungeborenen
höchster Gesang wäre jedem verständlich
und der Tod wieder bildlich auferstünde,
ohne Gestank und Pein beim Zerfall des Leibes
an das Vergessen der Persönlichkeit geschmiegt.

Doch es kniete meine jüngste Tochter, die ich
zu verlassen auch die Kraft gehabt hatte,
in Gedanken noch vor mir und schleuderte mir eines
ihrer ersten Worte, die sie gelernt hatte, nach,
so daß ich so schwer getroffen wurde,
als beinhalte jede Kleinigkeit schon die Kraft
des entzweistiebenden Raums seit seiner Geburt.

 

 

 

„Alles gehört uns“

− Etwas über Günter Herburgers Gedichte. −

„Fast alles, was man Über Dichtung sagt, ist so wahr und wichtig wie alles andere, was irgendwann irgendwer gesagt hat.“ Diesen hinterhältigen, entmutigenden Satz fand ich bei Dylan Thomas, in seinem Aufsatz „Über Dichtung“. Bitte vergessen Sie ihn womöglich für die Dauer der nächsten 30 Minuten! Sonst müßte ich ja gleich wieder von hier abtreten.
Das Loben sei die schönste Art zu sprechen, hat Martin Walser gesagt, als er es über sich brachte, eine Laudatio auf den zu halten, der heute eine Laudatio auf Günter Herburger halten soll. Loben sei Zustimmen, so Walser, und mit dem Zustimmen erweitere sich das eigene, immer enge Selbst um einen anderen; die eigene Stimme werde durchs Zustimmen stärker. Allerdings hat die Sache mit dem Dichterlob einen Haken. Denn für was lobt man denn gemeinhin den Dichter? Doch dafür, daß er – kurz gesagt – aus Schmerz Genuß macht, aus Schrecken Schönheit. Es war der junge Kierkegaard, der im ersten Abschnitt seines Buches Entweder−Oder aus dieser traurigen Tatsache eine ziemlich radikale Schlußfolgerung zog:

Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, daß, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie schöne Musik… Und die Menschen scharen sich um den Dichter und sagen zu ihm: Singe bald wieder; das heißt: möchten doch neue Leiden deine Seele martern, und möchten doch die Lippen so geformt bleiben wie bisher; denn der Schrei würde uns bloß ängstigen, die Musik aber, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten hinzu, die sagen: Ganz recht, so soll es sein nach den Regeln der Ästhetik. Nun, versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dichter ja aufs Haar, nur hat er nicht die Qualen im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen. Sieh, darum will ich lieber Schweinehirt sein auf Amagerbro und von den Schweinen verstanden sein, als Dichter sein und mißverstanden sein von den Menschen.

Günter Herburger, der schon sehr vieles in seinem Leben war, war glaube ich – zwar auch schon einmal, wenn schon nicht Schweine-, so doch Geißenhirt, aber er wurde dann doch Dichter. Offenbar hatte er keine andere Wahl. Wie Kierkegaard wohl keine andere Wahl hatte. Der Fall liegt bei Günter Herburger jedoch insofern ein wenig anders, als seine Gedichte in den seltensten Fällen jene liebliche Musik erzeugen, die den Hörer oder Leser zu dem von Kierkegaard zurecht als ein bißchen pervers empfundenen da-capo-Ruf animiert. Aber welche Gedichte, die den Namen verdienen, machen heute noch liebliche Musik?
Ich sagte, Herburger hatte keine andere Wahl. Das klingt etwas pathetisch, klingt nach Qual und Verurteilung, und genauso ist es auch gemeint, denn Dichtersein hieß und heißt immer noch, etwas auf sich nehmen, nämlich nicht weniger als das Leid der Welt. Kierkegaard, um ihn nochmals zu bemühen, hat geschrieben: „Nur Entsetzen bis zur Verzweiflung entwickelt einen Menschen zu seinem Höchsten.“ Darunter geht es nicht – für den Dichter. Doch ist Dichtersein gleichzeitig auch eine große, gewaltige Gabe, und man versteht, daß der sonst eher nicht so fromme Goethe sogar auf Gott stieß, als er diese ihm geschenkte Dichtergabe bedachte: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“, heißt es in seiner Trilogie der Leidenschaft.
Zu diesem Leiden, das den Dichter macht, gehört bei Günter Herburger gerade auch das Leiden an der Stummheit derer, denen es nicht gegeben ist, zu sagen, was sie leiden, und denen oft nur der Stumpfsinn als Ventil bleibt; lebenslang trainieren sie, immer unempfindlicher zu werden, bis sie zuletzt so unempfindlich geworden sind, daß sie sogar den Tod nicht mehr als Strafe fürs Leben, sondern als Erlösung von diesem Leben empfinden, das in Wahrheit ein lebendiges Totsein war.
Geboren werden wir ja alle als Empfindliche. Aber schon die Schule ist zumeist eine Schule der Unempfindlichkeit. „Wir lernen hier Empfindlichkeiten in der Stille begraben“, sagt Robert Walsers Zögling Jakob von Gunten von dem Institut Benjamenta, in dem er untergebracht ist und in dem es, wie Jakob in sein Tagebuch notiert, streng untersagt ist, „Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen“. Dies so niederschmetternd niederschreiben zu können, wie Robert Walser es getan hat, bedeutet allerdings bereits, sich die kindliche Empfindsamkeit bewahrt zu haben. Wenn es auch wenige in der Kunst, kindlich zu bleiben, soweit gebracht haben dürften wie Robert Walser, dem seine kindliche Empfindsamkeit als unerlaubte Lebensuntüchtigkeit ausgelegt wurde und schließlich die Verwahrung in der Anstalt einbrachte, so gehört doch die Bewahrung kindlicher Empfindsamkeit zur unabdingbaren Voraussetzung jeder dichterischen Existenz. Selbst ein so radikal anders als Robert Walser gearteter streng geistesgläubiger Autor wie Paul Valery hat die Maxime ausgegeben: „Es geht darum, zu wachsen; doch muß man lebenslang das Kind in sich bewahren!“
Wenn jemandem dieser Bewahrungsakt gelungen ist, und zwar so gut gelungen, daß man sofort um ihn fürchten muß, dann ist das Günter Herburger, dessen Empfindsamkeit – und das heißt Verwundbarkeit – nicht nur eine kindliche ist, sondern sich auch in der Verantwortlichkeit für die Kinder zeigt. Ich denke dabei gar nicht in erster Linie an den Kinderbuchautor Günter Herburger, sondern daran, daß dieser Autor sich in allem, was er schreibt, etwas, nein viel von der verwegenen und auch unbekümmerten Art kindlicher Weltaneignung zu bewahren vermochte – und das heißt, daß er einen Totalitätsanspruch aufrechterhalten hat, wie ihn sonst nur noch Kinder haben. Man könnte statt Totalitätsanspruch auch Unbescheidenheit sagen. „Alles gehört uns, alles gehört uns!“, dieser Kinderruf, den eines von Herburgers Büchern wieder aufnimmt, wird für diesen Dichter zum poetischen Programm schlechthin. Er ist nicht bereit, auf eine der Verheißungen freiwillig zu verzichten, mit denen man uns als Kinder köderte für diese Welt und diese Existenz. Und jedes von Herburgers Büchern, jedes seiner Gedichte ist auch ein Aufbegehren gegen die tägliche Vernünftigsprechung des Mangels, gegen die Austreibung der Wünsche, jedes zeigt oder will doch wenigstens zeigen, daß das Wünschen immer noch helfen kann und daß erst Wunschlosigkeit vollkommenes Unglück − eben „wunschloses Unglück“ ist. „Die Kinder dürfen alles begehren“, heißt es entsprechend im Gedicht „Germania“ aus Herburgers Gedichtband Makadam.
Der tschuwaschische Lyriker Gennadij Ajgi schrieb kürzlich: „Der allgemeine Eindruck, den ich von der zeitgenössischen Dichtung heute habe, ist der, als wäre sie dazu berufen, endlos die Welt zu verfluchen, welche wir, mit oder ohne Vorbehalt, schließlich als ‚Schöpfung‘ bezeichnen.“ Das Kind – und auch jenes, das Günter Herburger in sich aufgespart hat – vermag zwar oft auch schon zu fluchen, aber es verflucht noch nicht, es vertraut noch der Schöpfung, gibt ihr noch Zukunft. In Günter Herburgers letztem Gedichtband Das brennende Haus sind es, wenn ich richtig gezählt habe, 14 Gedichte, in denen eine Strophe mit der Versprechungsformel „Eines Tages“ (oder „Eines Morgens“) anhebt. Und wo in der zeitgenössischen Dichtung gäbe es noch Gedichte, die so vorsätzlich und heftig dem Konjunktiv frönen, der wohl die schönste kindliche Sprachform darstellt?
Die Wort- und damit Stoffülle, die ungeheure Mitteilungslust und Wut, mit denen Günter Herburgers Gedichte aufwarten, sind nicht Ergebnis einer Kapitulation vor einer überfüllten Welt, entspringen nicht mangelndem Ordnungs- oder Reduktionsvermögen, sondern sind Absicht und Teil jener Unbescheidenheit kindlicher Weltaneignung, die im Warenhaus allemal ein besseres Betätigungsfeld findet als in gepflegten Parks oder leeren Schulhöfen. Es gibt deshalb auch weit mehr lange als kurze Gedichte von Günter Herburger, und die langen sind ihm, wie er einmal bekannt hat, meist immer noch zu kurz. „Ich wünsche mir Gedichte wie vollgestopfte Schubladen, die klemmen“, so formulierte er 1967 sein poetologisches Credo; es sind vermutlich genau jene klemmenden Schubladen in Kinderzimmern, die ihm dabei vorschwebten.
Theodor W. Adorno, der bis zuletzt etwas von einem Kind, einem allerdings schon arg verschreckten Kind an sich hatte, fand einmal die schöne Formel vom Künstler, dessen Aufgabe es sei, Chaos in die Ordnung zu bringen. Es gehört zu diesem löblichen Vorsatz freilich auch ein wenig Zerstörungslust – wie sie nicht nur Kinder, sondern auch Günter Herburgers Gedichte öfter beflügelt. Über was der Lord Chandos des Hugo von Hofmannsthal und mit ihm die ganze Schar der vom 19. Jahrhundert in unseres verschlagenen Dichter und Denker noch so klagen, nämlich, daß nichts mehr sich mit einem Begriff umfassen lasse, und alles unaufhörlich in lauter Einzelteile zerfalle und diese wieder in Einzelteile, das war für Kinder, die ja nichts lieber tun als zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, nie ein Problem. Sie machen aus groß klein und umgekehrt, und ihre Vorstellung von Größe ist nicht an eine Art Geschlossenheit gebunden oder an Aufgeräumtheit; Trümmergrundstücke ziehen sie mit Sicherheit anderen vor, haben sie doch die fabelhafte Fähigkeit, Zerbrochenes, Verstreutes, Altes immer wieder als völlig neu und kostbar anschauen und empfinden zu können, mag es noch so unscheinbar oder noch so verschmutzt sein. Im Gegenteil: Schmutz zieht erst recht an, Kinder kennen da keine Berührungsangst, auch wenn der kategorische Imperativ ‚Nicht anfassen!‘, der über jeder Kindheit steht, noch so oft und laut ertönt. Ebensowenig kennen diese Berührungsangst Günter Herburgers Gedichte, die voll von Unrat, Schmutz, Scherben, Abfall und voll von Gefahren sind und niemals jene saubere Stabilität anstreben oder auch nur suggerieren, die doch immer nur auf Täuschung beruhen könnte. Genausowenig wie sie etwa jenem sogenannten ‚guten Geschmack‘ Tribut zollen, der der ärgste Feind aller künstlerischen Produktivität und ein elendes Ergebnis jener Abrichtung zum Erwachsenen ist, gegen die Günter Herburgers Gedichte aufbegehren. Kindern ist die „Madonna aus Kunststoff“, die in einem Herburger Gedicht auftaucht, mindestens so lieb und wert wie die Barockmadonna, die den Partyraum ihrer Erzeuger ziert.
Zu Günter Herburgers Literaturlieblingen oder Literaturheiligen zählt nicht von ungefähr der Pole Witold Gombrowicz, der die „niedere Schönheit“ pries und „Das Hohe Lied der Unreife“ anstimmte, Gombrowicz, dem das Gewöhnlichste zum Erhabensten wurde und umgekehrt und der in seinem „Tagebuch“ seinen „Unwillen gegen die Form“ damit begründete, daß kein Gedanke und keine Form Überhaupt imstande seien, das Dasein wirklich zu umschließen, und – so Gombrowicz – „je umfassender sie sind, um so lügnerischer“. Auffälligerweise hat auch dieser Gombrowicz (ganz ohne Koketterie) in seinem „Tagebuch“ bekannt: „Im Grunde bin ich vor allem kindlich.“ Fast überflüssig zu erwähnen, daß zu seiner wie zu Herburgers Kindlichkeit auch die wie selbstverständliche Außerkraftsetzung der herkömmlichen Moralbegriffe und -vorstellungen gehört.
Es gibt in den Gedichten Günter Herburgers etliches, was auf den ersten Blick ganz unverständlich, was betörend oder verstörend fremdartig ist; und ich bin mir keineswegs sicher, ob Herburger selbst immer weiß, von was er in seinem Gedicht spricht, er läßt sozusagen das Gedicht selbst sprechen. Das Gedicht ist ja oft seinem Autor gewissermaßen voraus, weiß mehr als dieser. Doch wie es zu den kostbaren kindlichen Eigenschaften gehört, Fremdartigem nicht a priori mit Mißtrauen zu begegnen, sich auf Fremdes im Gegenteil mit natürlicher Neugier einlassen zu können und es auch dann noch nicht zu fürchten, wenn es sich weiterhin nicht in Vertrautes verwandelt, so gehört es zu Günter Herburgers poetischen Fähigkeiten, Fremdes nicht ins Vertraute umzuschminken, sondern es furchtlos als Fremdes, als Inkommensurables in seinen Gedichten zu beherbergen.
Vermutlich ahnen auch Kinder bereits, daß wir, wie Gombrowicz es einmal in seinem „Tagebuch“ notiert hat, „bei jedem Schritt die Hölle streifen“, und ganz sicher sind Günter Herburgers Gedichte von dieser Ahnung und Höllenangst zutiefst durchdrungen. Aber wie Kinder auf das Unheimliche und auch das Bösartige kaum je reagieren, indem sie sich zu dessen Komplizen machen, so weigert sich auch Günter Herburger, dem täglichen Weltuntergang noch nachzuhelfen und sein Gedicht der Hölle als zusätzlichen Folterraum zur Verfügung zu stellen. Heile Welt täuschen diese Gedichte damit wahrlich noch lange nicht vor, schlägt doch in ihre immer wieder bekundete Freude darüber, überhaupt dasein zu dürfen, noch dasein zu dürfen, der Blitz der Erkenntnis, daß die Prämissen dieses Daseins Fressen und Gefressenwerden sind. Man beachte nur einmal, welche außergewöhnliche Rolle die Tiere in Günter Herburgers Gedichten einnehmen, die Fabel- und Traumtiere ebenso wie die Kinder- und Spielzeugtiere, aber allen voran doch die Objekte unserer Gefräßigkeit, die gejagten und die geschlachteten Tiere.
Daß kindliches Mitleid mehr auf der Seite der Tiere ist als erwachsene Vernunft (die sich sogar als Wissenschaft aufspielt, um ungestört Tiere quälen zu dürfen), ist ebenso wahr wie die Tatsache, daß die Tiere in Günter Herburger, dem Sohn des Tierarztes, einen Anwalt gefunden haben, der fest von der Gewißheit erfüllt ist, daß das Leid der Tiere einmal über uns kommen muß, und der mit seinem Gedicht bereits mitzimmert an dem Gerüst, auf dem wir uns einst als Angeklagte versammelt sehen werden, wenn die Tiere über die Menschen das wahre Jüngste Gericht halten. Friedrich Nietzsche hat in seiner Fröhlichen Wissenschaft geschrieben: „Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat – als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.“ Es scheint mir, als ob viele Gedichte Günter Herburgers aus dieser Perspektive der Tiere auf den Menschen blicken würden. Und in vielen Gedichten identifiziert sich dieses „unglückliche Tier“, das der Mensch ist, wiederum mit Tieren, die dabei zu Hoffnungs- und Heilbringern avancieren, wie etwa der Wal:

Man muß sich vorstellen,
wir könnten so sein:
übermächtig gelassen, schlau und kräftig,
zugleich kindlich neugierig,
während aus dem Atemloch Fontänen steigen
und der Schwanz gleich einem Tankerruder
immer wieder ins Meer hineinschägt,
Echo gebend von Schelf zu Schelf.
Entfernungen sind der Beweis
für Übersicht und Dauer,
ausgestattet mit einem Selbstverständnis,
das sich nicht mehr um Platz zu kümmern braucht.
(…)

Manches Mal, wenn ich traurig bin,
bilde ich mir ein, ich sei ein Wal,
ein tonnendicker Lungenfisch,
der nicht mehr ins Trockene zu kriechen braucht,
um sich zu veredeln, ausgesetzt Regen und Wind
und der messerscharfen Konkurrenz der Menschen,
die nicht so leben mögen wie er.

Ich lehnte den biologischen Wandel ab,
verringerte freiwillig die Zahl
der nicht benützten Gehirnzellen
und stürzte mich in die Fluten zurück,
wieder einig mit meinem Pfand,
das Antwort fände in den langsamen,
überlegten Bewegungen der Wale,
ihre Leiber wälzend wie Berge
und Melodien erzeugend gleich deren Hall,
geborgen in einem Element,
größer als jedes Land.

Solche Tierträume sind bei Herburger keineswegs nur an die menschliches Maß übersteigenden Tiere gebunden, sondern gerade auch an die unscheinbarsten, etwa die Eintagsfliegen, eine Blattlaus oder die Käfer. Im Gedicht „Die Käfer“ aus dem Band Makadam finden sich die beiden Strophen:

Ihr Gehör ist minimal,

ihre Augen spotten den Segmenten,
trotzdem vermerken sie
jede Drehung der Erde,
bedacht von Sonnengewittern
und den violetten Fahnen
aus dem All,
(…)
Wer wie sie
hätte werden können,
unter der Erde
nur mit Fühlern begabt,
blinden, kleinen Zangen
und dem Stickstoffverlangen
nach Licht!

Die Kinder, die den Tieren sicher näher sind als die Erwachsenen, scheinen vom Tod jedoch weiter entfernt als jene. Scheinen, sagte ich, denn ich erinnere mich gut daran, daß ich als etwa Sechsjähriger nicht nur fast jeden Morgen inbrünstig den Choral „Mitten in dem Leben sind wir von dem Tod umfangen“ anstimmte, sondern daß ich mir ebenso inbrünstig oft auch wünschte, tot zu sein. Das Reich des Todes erschien mir als unermeßlich viel größer und deshalb verlockender als das Haus des Lebens, vor dessen Tür ich stand und dessen Wohnungen und Zimmer mir schon ziemlich beengend und zudem überbelegt vorkamen. Der Tod tritt auch in Günter Herburgers Gedichten auf – und nicht heimlich, sondern in jener Größe und Gewaltsamkeit, die von den Erwachsenen so gern heftig verdrängt und mit Medizinen mannigfachster Art bekämpft und niedergehalten werden. Er tritt in diesen Gedichten vorzugsweise in seiner gräßlichsten Gestalt auf, als Mord. Wie auch hätte einer, der ein Jahr vor der nazistischen Machtübernahme geboren und mit der Empfindsamkeit eines Günter Herburger ausgestattet wurde, je verdrängen oder vergessen können, was diese Machtübernahme nach sich zog, den millionenfachen Judenmord, Zigeunermord, Polen- und Russenmord, den Alten- und Krankenmord, den Kommunistenmord, all diese Morde, die in Herburgers Gedichten immer wieder für jene „Knochenmusik“ sorgen, die einem von ihnen den Titel gegeben hat.
Es behaupte niemand, davon wenigstens − von den Morden – hätten Kinder nichts gewußt, wüßten Kinder nichts. Ich wußte ziemlich genau, was mein Großvater meinte, als er 1944 eines Tages am Mittagstisch im Forstamt zu Weingarten unvermittelt und mit einer ganz ungewohnten Stimme sagte: „Jetzt haben sie auch die Frau R. abgeholt.“ Das Wort „abgeholt“ hat für mich seither nie mehr seine Unschuld zurückgewonnen. Und auch das ist in Günter Herburgers Geschichten da, der Schrecken über die verlorene Unschuld so vieler deutscher Worte. Daß Herburger eine Auswahl seiner Gedichte 1983 Das Lager betitelt hat, ist ebenso programmatisch zu verstehen wie der Titel seines im selben Jahr publizierten Aufsatzbandes Das Flackern des Feuers im Land oder der Titel seines jetzt von uns ausgezeichneten Gedichtbandes Das brennende Haus.
Zu diesem Titel assoziiert mancher von Ihnen wahrscheinlich ein Brecht-Gedicht, das „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“ überschrieben ist. In diesem Gedicht warnt Brechts Buddha die Bewohner eines Hauses: Ihr Haus stehe in Flammen; doch die so gräßlich Gefährdeten verlassen daraufhin keineswegs fluchtartig ihr Haus, vielmehr wollen sie erst einmal von Buddha wissen, wie draußen das Wetter sei und ob es in der Nähe ein anderes bewohnbares Haus für sie gebe. Der Buddha bleibt ihnen die Antwort schuldig, aber er denkt sich seinen Teil:

Diese, dachte ich,
Müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören.

Für seine Schüler, denen er die Geschichte erzählt hat, schickt er aber noch eine Nutzanwendung seiner Geschichte hinterher:

Wirklich, Freunde,
Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber
Mit jedem andern vertauschte, als daß er da bliebe, dem
Habe ich nichts zu sagen.

Der Autor Brecht seinerseits hat dann aber doch noch etwas darüber hinaus zu sagen, das heißt er überträgt das Gleichnis des Buddha ins gerade für ihn Aktuelle – und das hieß damals, als Brecht dieses Gedicht schrieb, ins Klassenkämpferisch-Marxistische. Plötzlich spricht Brecht nicht mehr in der ersten Person, sondern versteckt sich hinter einem auch für ihn viel zu großen WIR: Wir, sagt er, haben auch denen nichts zu sagen, die den Kapitalismus nicht lieber und sofort mit dem Kommunismus vertauschen wollen und uns statt dessen immer noch mit Fragen kommen, wie wir uns die Umwälzung denn dächten, und was denn dabei aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden solle.
Heute wissen wir leider nur zu genau, daß diejenigen, die auf Brecht hörten und auf die von ihm ausgegebene Alternative setzten, nur den Weg von einem brennenden Haus ins andere wählten – und zu betrogenen Betrügern wurden. Inzwischen brennt es Überall und täglich – im Haus und außer Haus, und ganz sicher verläuft die Front jenes alltäglich gewordenen Krieges (von dem Ingeborg Bachmann in ihrem berühmten Gedicht „Alle Tage“ gesprochen hat) nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern allenfalls zwischen momentanem Verschontsein und Nichtmehrverschontsein. Der Mensch ohne Alternative, als den wir uns haben erkennen müssen, ist auf der Flucht vor jenen großen Heilsbotschaften, die sich in unserer Epoche blutig als die wahren Hiobsbotschaften erwiesen haben.
Günter Herburger, der einmal bekannt hat, „fortwährend Fluchtbücher“ zu schreiben, hat seine Gedichte nie an die vermeintlich feststehenden ‚Wahrheiten‘ verraten, sondern sie statt dessen mit seinen wild wechselnden Wahrnehmungen genährt. Daß Kinder sich lieber an das Wirkliche, an ihre Wahrnehmungen halten als an das Ideelle und sie sicher nicht in globalen Alternativen denken, steht ebenso fest wie dies – daß sie dennoch träumen. Freilich geraten sie noch nicht in Versuchung, aus ihren Träumen Doktrinen zu schmieden, die es dann durchzusetzen gilt – womöglich mit Gewalt. Vielmehr liefert ihnen das immer neue Anschauen und neue Arrangieren des Wirklichen genügend Stoff für immer neue Träume. Es war Günter Herburger nicht gegeben, immer so träumerisch mit der Wirklichkeit umzugehen, zumal dann nicht, wenn diese in ihrer fürchterlichsten Form, nämlich als soziale Wirklichkeit, ihn in einen Zorn trieb, der – bei aller Berechtigung auch den Blick trüben mußte. Den Blick dafür etwa, daß – wie Herburger es selbst in seinen Poetik-Vorlesungen formuliert hat – „unsere Heimstatt die stetig wiederkehrende Unsicherheit“ ist. Ich denke allerdings, daß Herburgers zeitweilige Parteinahme für jene gepanzerte Heilsdoktrin, die von Marx auf Mielke herabkam, zu den Irrtümern zählt, ohne die ein Autor seiner Statur und seines Temperaments nicht wirklich klug wird. Und klug sein heißt in diesem Falle, die Wirklichkeit, die sich der kommunistischen Verheißung verschloß, dafür nicht mit Verachtung und Abwendung zu strafen, sondern sie im Gegenteil neu und genauer wieder in den Blick zu bekommen, was Günter Herburger zweifelsohne gelungen ist.
Wer, wie Mallarmé, von vornherein jedem Irrtum und jeder Befleckung aus dem Weg gehen möchte und deshalb dekretiert: „Schließe das Wirkliche aus, es ist gemein!“, bezahlt zuletzt auch im Gedicht, das blaß und blässer wird, wie die Kinder, die nie auf die Straße und zu ihresgleichen gelassen werden, mit Anämie. Nebenbei bemerkt: Unterschied sich die Devise der kommunistischen Heilsbringer eigentlich grundlegend von der Mallarmés? Schotteten nicht gerade sie sich von der gemeinen Wirklichkeit luftdicht ab, und war nicht, was sie betrieben und was sie schließlich deshalb auch zu Fall brachte, reines l’art pour l’art?
„Was ist das für eine Welt, in der man betrunken sein muß, um sich wohl zu fühlen?“ fragt Günter Herburgers „Hauptlehrer Hofer“ in der gleichnamigen Erzählung. Es sind aus der Bahn geworfene Kleinbürger, Verwahrloste, Betrunkene, Penner, Nichtseßhafte und Vertriebene aller Art (zu denen auch jene Millionen aus ihren Heimatländern Vertriebene zählen, die man bei uns euphemistisch „Gastarbeiter“ nennt), es sind Debile, Diebe, Bettler, Krüppel, kurz: Es sind ganz sicher nicht klassenbewußte Arbeiter, sondern Außenseiter und Ausgestoßene, die Günter Herburger wirklich etwas zu sagen und in seinen Büchern das Sagen haben. Das „bucklige Männlein“ hat’s ihm allemal mehr angetan als „der aufrechte Gang“ womöglich noch geradeaus.
In seinem Aufsatz „Die Macht der Literatur“ hat Günter Herburger geschildert, wie er die kleine Fabrik seines Großvaters – es war ausgerechnet eine Reitpeitschenfabrik! −, die er hätte Übernehmen sollen, ausschlug, und dieser Großvater aus Gram darüber den Rest seines Vermögens in der Bahnhofswirtschaft von Isny mit Weichenstellern, Straßenarbeitern und Bauern vertrank. Für das Kind Günter Herburger, das Zeuge dieses Abstiegs wurde, bedeutete dieser gleichzeitig einen ungeahnten Aufschwung, der mit der Entdeckung einer so anderen Sprache, als sie zu Hause gepflegt wurde, verbunden war.

Wundertätige Sprache wurde damals unter den Betrunkenen laut. Diese Entwürfe an Tolldreistheit, aber auch rührender Schönheit werden mich nie verlassen und haben mich darin bestärkt, dem Geschäft eines Dichters nachzugehen, der spricht, wenn andere zum Schweigen verurteilt sind, oder der verächtlich weghört, sobald das offizielle Geschwätz davon redet, wie wir uns zu bescheiden hätten.

In Herburgers Aufsatz, der sich zu einem bewegenden Plädoyer für die Macht der Ohnmächtigen steigert, lesen wir dann noch:

Wer als Schriftsteller von den Armen keine Hilfe verlangt, hat seinen Beruf verfehlt. Er mißachtet die grausamste und fruchtbarste Quelle an Erkenntnis, gibt klein bei, fügt sich der Regie des Übereinkommens und fürchtet sich vor der Angst, die ihm, dem Produzenten von erstrebenswerter Wahrheit, teuer sein müßte bis hinein in den eigenen Untergang.

Sich vor der Angst nicht zu fürchten, ist besonders schwer, wenn man aus Günter Herburgers Gegend, aus dem Allgäu, kommt, wo seit jeher weltliche und kirchliche Obrigkeit nichts so sehr geschürt haben wie Angst und wo das „ora et labora“ bis heute als höchstes sittliches Gesetz gilt. Wer dagegen aufbegehrt, wird leicht wie Herburgers Hauptlehrer Hofer, der ein lebendiges Vorbild hat, in den Untergang getrieben. „Was ist das für eine Welt, in der man betrunken sein muß, um sich wohl zu fühlen?“, fragte Hauptlehrer Hofer, und sein Noch-Freund, der Pfarrer Sieghart, ebenfalls schon betrunken, antwortete ihm: „Was ich Ihnen jetzt sage, dürfen Sie um Gottes willen nicht weitererzählen. Ob beten oder trinken, es sind zwei Seiten desselben Mangels. Wenn wir Grund zur Heiterkeit hätten, würden wir keine Kirchen bauen.“
Diese Kirchen sind bekanntlich gerade in Günter Herburgers Heimat ziemlich schön, sogar übertrieben schön. Und es kommt einem Goethes Wort in den Sinn, wonach die Schönheit eine Tochter der Angst sei.
Obwohl Günter Herburger gern versucht, seinen Gedichten die Schönheit auszutreiben und sie auf dem rauhen Makadam-Boden aus Schotter, Splitt und Sand anzusiedeln, gelingt ihm das gottlob nicht immer ganz. Und so gibt es neben aller „niederen Schönheit“ und trotz aller „sarkastischen Übertreibungen“, zu denen Herburger sich nach eigenem Bekunden verpflichtet fühlt, immer wieder auch Verse von einer reinen, unverstellten Schönheit, die sich ganz aus sich selbst legitimiert und vor ihrer eigenen Quelle, der Angst, keine Angst mehr hat; als Beleg zitiere ich lediglich eine Strophe aus Günter Herburgers Gedicht „Natur“:

Das Jammern und Geistern des Getreides, leise
unter der Wucht der Dreschmaschinen, die noch
nachts unterwegs sind, sobald es not tut,
um die Ernte einzubringen, von der wir leben,
und das Rieseln und Reiben der kleinen Kornleiber
unaufhörlich aneinander in den Speichern,
das nicht zur Ruhe kommen will,
als flüsterten sie sich Schuldsprüche zu.

Man hat dort, wo Herburger herkommt, mit den „Seligen, Heiligen und Gebenedeiten“ aus den Litaneien und mit dem, um dessentwillen diese litten, näheren Umgang als anderswo, und man wird die andächtigen Hoffnungen, die man einmal in sie setzte, und die Schuldgefühle, die ihre Vortrefflichkeit im eigenen schwachen Ich erweckten, auch dann nie ganz los, wenn man sich äußerlich schon ziemlich weit von der Heimat entfernt hat; ein Herburgerscher Romantitel verrät das Überdeutlich: „Jesus in Osaka“. Es dürfte manchen Überraschen, was für eine Rolle Jesus in Herburgers Werk spielt. Ich glaube, nur noch Robert Walser hat sich so nahen und unbekümmerten Umgang mit jenem Allerhöchsten gestattet, der Kindwerdung als Voraussetzung für das Heil verkündete.
Zu den Fähigkeiten, die Herburger in seiner Allgäuer Kindheit empfangen hat und die er offenbar weder ganz abstreifen will noch kann, zählt etwas, mit dem gemeinhin Kinder wieder einmal entschieden mehr ausgestattet sind als Erwachsene, ich meine Andächtigkeit. Malebranche hat als „das natürliche Gebet der Seele“ die Aufmerksamkeit bezeichnet, und es ist diese von Andächtigkeit nicht mehr zu unterscheidende Aufmerksamkeit, die ich immer wieder auch bei Günter Herburger zu finden meine. Vielleicht kann ohne sie und das heißt auch ohne den Kinderglauben, Berge versetzen zu können mit dem eigenen Wort, ohnehin kein wirklich gutes Gedicht geschrieben werden!
Das Wort Andacht steht ausdrücklich am Schluß des für mich schönsten Gedichts, das ich in Günter Herburgers Gedichtband Das brennende Haus gefunden habe; dieses „Ein Gruß“ betitelte Liebesgedicht beginnt wie könnte es anders sein, wenn es um Liebe geht – vor einem Abgrund, und es endet mit dem Sturz des Liebenden in den Abgrund. Die letzten Worte der Todbringerin, dem schon abstürzenden Liebenden nachgerufen, lauten:

Leben Sie wohl,
gleich haben Sie
Andacht, Geschwindigkeit und Kraft,
mein Lieber.
Sie müssen sich nicht mehr Begnügen.

„Alles gehört uns“, so lautete der poetisch kindliche Kampfruf, mit dem Günter Herburger auf den Plan trat. Von diesem „Alles gehört uns“, das durchaus aufs Irdische gerichtet war, bis zu dem „Sie müssen sich nicht mehr begnügen“, das nur noch metaphysische Fülle meint, haben Günter Herburgers Gedichte bis heute einen weiten und niemals geraden Weg zurückgelegt, auf dem sie zwischen Frechheit und Feierlichkeit, Anstößigem und Andächtigem, Zornigem und Zartem immer wieder erstaunliche Verbindungen herzustellen vermochten. Dabei wuchs Herburgers Balladen des Aufbegehrens und des Unterliegens, diesen wahren Helden- und Märchengedichten zugleich, eine Kunstfertigkeit zu, die gerade in ihrer scheinbaren Kunstlosigkeit liegt, das heißt im Verzicht auf jenes ebenso beliebte wie peinliche „Poetisieren“, das meist nur ein Kaschieren, ein Umlügen der Wirklichkeit ist.
Entsprechend kommt Herburger fast ganz ohne Metaphorik aus; seine Gedichte haben meist eine Tendenz zum Epischen, erzählen Geschichten, die sich manchmal sogar durchaus nacherzählen ließen. „Lyriker sollten viel wissen und erlebt haben, damit sie sich getrauen, einfache Worte zu nehmen“, hat Günter Herburger in seinem Aufsatz „Dogmatisches über Gedichte“ geschrieben. Lese ich seine Gedichte, die auch mit einfachen, gebräuchlichen, ja erbärmlichen Worten oft ein Pathos erzielen, das sie weit über die Wohltemperiertheit so vieler im hohen Ton daherkommenden lyrischen Produkte hinaushebt, so ahne ich nicht nur, wieviel Herburger erlebt hat – mir wird dann auch bang um ihn. Und eigentlich, denke ich, könnte auch das ein Indiz dafür sein, einen Dichter vor sich zu haben, wenn man beim Lesen seiner Gedichte Angst um ihn bekommt. „Man hat den tiefen Grund einer Sache nicht erforscht, wenn man sie nicht im Licht der Niedergeschlagenheit betrachtet“, schrieb E.M. Cioran einmal. Vieles in den letzten Gedichten Günter Herburgers wirkt wie aus diesem unbarmherzigen Licht der Niedergeschlagenheit gesehen und deshalb grausam klar gesehen. Depression wäre ein eher prosaisches Wort für den Herkunftsort dieser Gedichte, Katastrophe ein anderes, doch haben Herburgers Gedichte bis heute die Fähigkeit noch nicht verloren, sich abzustoßen von ihrem finsteren Ursprung und vorzudringen in eine Art Neu- oder Niemandsland, in dem nicht mehr die Erkenntnis herrscht, aber auch nicht die Pein.
„Denn als ich Kind war, war ich größer“, heißt es in einem Gedicht Günter Herburgers. Wir alle waren als Kinder größer. Die Vertreibung aus der Kindheit ist eine zweite Vertreibung aus dem Paradies, in dem wir groß waren – durch Unwissen. Jeder Tag zunehmender Erkenntnis machte uns ein Stück kleiner. „Vielleicht war Unwissenheit das Schönste, was ich besaß“, schrieb Robert Wals er in seinem Prosastück „Die Gedichte“. Und weiter: „Unkenntnis macht groß. Ich war wie ein blühendes Gewächs, das sich selbst ein Rätsel ist.“ Es ist diese erhöhende, diese rätselhafte paradiesische Unkenntnis, nach der im Grunde die besten Gedichte, auch die besten Günter Herburgers, immer unterwegs sind.
Ich bin fest überzeugt davon, daß sich Günter Herburgers Gedichte auch ganz anders lesen ließen, als ich sie gelesen habe. Sie kennen Marcel Prousts Wort, wonach der Leser eines Buches immer zuerst der Leser seiner selbst sei. Vor 25 Jahren, als ich zum ersten Mal Gedichte von Günter Herburger las und rezensierte, fand ich in ihnen etwas sehr anderes als heute, da ich sie als ein ganz anderer wiederlese. Und neu lese. Heute stimme ich vor allem ihrer Kindlichkeit und ihrem kindlichen Anspruch zu – und diese sind es, die meine eigene Stimme stärken. Goethe, der Alleswisser, hat auch dies gewußt: Die Kinder, meinte er, seien „die besten Lehrer, die man wählen kann“. Man sollte, meine ich, auch von denen lernen, die von den Kindern lernten, von den Kindlichen, den Dichtern, von Dichtem wie Günter Herburger. Lesen und entdecken Sie jetzt Ihren eigenen Günter Herburger!

Peter Hamm, Laudatio auf Günter Herburger, 1991

Palimpsest

Peter Huchel wurde im April 1903 geboren und starb im April 1981. Ich wurde im April 1932 geboren und werde, wie ich es meinen Zellen geraten habe, und inzwischen flüstern sie mir es zu, bereit, sich vielleicht, was es im Grund nicht gibt, 51mal zu teilen, im April 2022 zu sterben.
Huchel hat 205 Gedichte gelten lassen und veröffentlicht. Ich schrieb bisher 8 Bücher mit insgesamt 411 Gedichten. Viele davon sind lang, sehr lang, streunen umher, als seien sie kleine Romane aus Kraut und Rüben, Tod und Teufel oder Perdatsch, ein cimbrisches Wort, das so viel wie Verblüffung, Schluß, basta bedeutet.
Huchel bleibt mir fremd. Er ist ein verschlossener Meister. Ich habe wenig von ihm gelesen. Manchmal war ich verärgert, dachte, weshalb traut er sich zu, wie „es regnete still“ oder „der Schatten meines Herzens“, gar „bei träger Stille des Himmels“ zu schreiben?
Ich täte es nie. Wenn es regnet, ist beispielsweise die Stille schon da, oder aber es stürmt, peitscht schräg ins Gesicht, ans Haus. Den Schatten meines Herzens habe ich allerdings schon gesehen. Er ist auf dem Röntgenschirm ein pulsierendes Muskelpaket, einfach, unkompliziert, das am meisten von Blut durchströmte Organ, das auch ersetzt werden kann, eine Operation, die weniger kostet als der Austausch von Lungenflügeln oder die Begradigung einer Leber, die etwa siebzigmal mehr Adern geringsten Durchmessers besitzt als das Herz.
Und der Himmel? Rührt er sich nicht, wird er nicht träge sein, eher pastos, gleichförmig, eine Wölbung, blau angestrichen oder unterbrochen von Wolken, die dahinjagen, zurückkehren, dann hängenbleiben. „Ich bette mich ein“, beginnt ein Vers Huchels, „in die eisige Mulde meiner Jahre“, usf. Klingt diese Stilisierung demütig überheblich, da das Wort Mulde auch sanft rücklings heißen könnte, schüchtern, geziemend geformt, gebuchtet bis zu den Rändern?
Ich hätte geschrieben Grube, Schlucht, Gletscherspalte oder dergleichen, und das Gedicht hätte eine ganz andere Wendung genommen, die mir vertraut gewesen wäre, unterwegs am Schreibtisch oder in Landschaften als Spion, Bote, Kundschafter.
Huchel verharrte, wurde als Herausgeber der Sinn und Form, damals in der Deutschen Demokratischen Republik, unserer Wunde, in Bann geschlagen. Sein Archiv – Zeitungsausschnitte, Briefe und Manuskripte anderer, die zu dichten anfingen – sind von zwei Lastwagen nebst dazugehörenden Staatsdienern abtransportiert worden. Eines Morgens werden wir die ausgelagerte Pracht wiedersehen; falls nicht, läßt sie sich nicht mehr imaginieren.
Huchels Bücher wurden in 17 Sprachen übersetzt, auch ins Arabische, was mich fromm stimmt, denn arabisch konnte ich einen Sommer lang nach dem letzten Weltkrieg brockenweise sprechen. Französische Truppen, voraus Marokkaner, besetzten den letzten Zipfel Süddeutschlands, und ich lernte zu rauchen, Kif, hinuntergeschwemmt mit Pfefferminztee. Zwei schwarze Soldaten, die vergewaltigt hatten, wurden vor einer Garage erschossen. Mein Vater, der stehend im Sattel reiten konnte, war schon gestorben, besser, gefallen in Polen, wo, es gehört ebenfalls dazu, Lagerkommandanten, wenn sie sich noch auf Latifundien versteckten, scheibchenweise von den Füßen bis hinauf zum Becken von Widerstandskämpfern an Kreissägen kleingeschnitten wurden. Der Blutdruck stürzt ab, das schreiende, heulende Opfer verstummt. Unsere Väter und Großväter lernten kennen, wie es gewesen ist ohne Gott.
Hatte Huchel einen?
Schrieb er darüber? Wahrscheinlich nicht, oder ich habe seine Gedichte nicht verstehen wollen.
Ich sah Huchel ein Mal. Er stieg rauchend eine gewundene Steintreppe herauf, hinter sich seine Frau, die, glaube ich, blond war, beschützend, und dabei soll es bleiben. Danach kam ein Sohn, der dann später Orientalist geworden ist.
Wir saßen im Söller eines alten Hauses in den Abruzzen zwischen den Dörfern Olévano und Bellegra. Huchel sah wie ein Indianer aus: viel graue Haare, große Lippen, im Gesicht längs- und querverlaufende Runzeln: Es war faszinierend. Entweder stammte er aus Kanada oder aus Kamtschatka.
Abends, beide Familien waren erschöpft, ging, nachdem er über Italien, die Welt, dumme Bücher und Fahrzeuge gegrollt hatte, der Dichter, gefolgt von seiner Frau und seinem Sohn, der vielleicht zu einem Kenner des Aramäischen geworden ist, hinunter zu einer Spitzkehre, wo ein Auto stand. Wir hörten nie, weshalb die Huchels trotzdem nachts unbeschadet in der römischen Villa Massimo ankamen. In keiner Zeile eines Gedichtes werden wir erfahren, weshalb kein Unglück geschah. Doch ich schrieb eines über diese Zeit. Er heißt:

DER FEUCHTE SCHMETTERLING

Nebeneinander treibt ein Paar
bunter Bälle
mit prallem Rücken
und kleinen Rüsseln
entlang dem Rand
eines kreisrunden Bads,
angestoßen vom Wind
und dem lautlosen Gewitter
der Sonnenteilchen.
Ein Hund trabt vorbei,
trägt zwischen den Zähnen
eine blanke Rinderschulter,
geht deshalb schief und seufzt,
keine Seltenheit
für diese Form von Tier.

Im Fenster des Hauses am Berg
erscheint ein Kopf,
der dreimal schreit;
das ist meine Tochter.

Noch ist der Tag nicht vorüber.
Ein Elch hat sich zu weit
in den Süden verirrt,
bricht vor Panik durch Zäune
und prescht in ein dunkles Tunnel.
Meine Tochter neigt sich vor,
zählt laut das Krachen
und Splittern, dann die Sirene
der Ambulanz.

Nach einer Weile
kehrt wieder Stille ein,
vergleichbar dem leisen Geräusch,
wenn eine Eidechse
ihren Schwanz verliert.
Fledermäuse verlassen vorzeitig
ihren Hort und senden Wellen aus;
ein Zwerg, mit geschulterter Hacke
unterwegs in sein Bergwerk,
schlenkert Nasentropfen ab
und pfeift einem Iltis,
der ihn überholt.

Wo aber bin ich?
Bereits tot muß ich mich
in Holz und Maserungen
einer Thuja zu behaupten versuchen,
denn es herrscht Enge.
Verzweigte Verwandte und Ahnen
pochen auf Anwesenheit,
schleppen auch andere mit:
Wäscherinnen mit gekrümmten Fingern;
Fuhrleute aus Tirol;
frühreife Pfarrer, die noch rauchen;
Wöchnerinnen bei nachlassendem Fieber;
zuletzt Anglisten
und zahllose Kinder; die im ersten Jahr starben,
wie es üblich war.

Gegen Abend wird der Wandel dichter.
Hufeisen paaren sich;
Geier wollen beschlagen werden,
da sie die Luft nicht mehr trägt;
ein Igel wälzt sich in Golddukaten;
ein Wurm, der vormals ein Drache war;
sinnt dem Holpern seiner Ringe nach,
die in ein Erdloch kriechen.

Im beleuchteten Fenster
des Hauses am Berg
ist meine Tochter eingeschlafen.
Schimmmernder Speichel
an Mund und Kinn beschützt sie,
als gehörte sie auch
zu dem Käferreich.

Dann fangen die beiden Bälle
in dem runden Kinderbad
wieder zu kreisen an,
zwei einsame, kleine Wale
mit Wimpeln auf der Haut,
während ein Zitronenfalter
sich an die unübersichtliche
Tränke wagt und zu schwitzen beginnt,
winzige Tröpfchen dieser Nacht.

Huchel, der Elch, aß Dekaden aus Rauch, wahrscheinlich schon als Sechzehnjähriger, liegend während des Kapp-Putsches mit einer Wunde auf einem Berliner Straßenbahngeleise. Er schrieb, neben ihm sei eine Frau mit aufgerissenen Schläfen gestorben.
Entlang Perdatsch kenne ich solche Merkmale. Es sind Wasserzeichen, Formen von Blättern; es könnte auch die Rückseite des Monds sein.
In Wilhelmshorst bei Potsdam neun Jahre lang verwaist, schrieb Huchel kaum mehr, oder aber ich weiß es nicht, was er, vergraben, zustandebrachte.
Er hätte von Kampfschwimmern gerettet werden können, Läufern, Kurieren, denen nachts mit ein paar Eierhandgranaten gelungen wäre, eine Lücke in Zäune, Gitter, die Mauer zu sprengen. Huchel wollte es nicht, schwieg.
„Und die Toten“, fragte ich ihn einst.
Bewundernd die alten Meister, sagte er, mahlten die Steine, zerbissen den dünnen Nebel aus der Berge Knochenhaut, brächen sich Bahn.
Der Indianer auf den Kiespfaden, Teerstrecken, Asphaltwegen ist gestorben. Wenn ich seine Gedichte lese, geht er immer schon davon, ohne sich umzuwenden. Er verschwindet in Eis oder in einer von Gras umwickelten Nabe, ein Platz, wo wir die Toten gern sich einnisten ließen, damit sie uns nicht gänzlich fremd werden.
Huchel soll, wird kolportiert, am Fenster stehend und in den Breisgau blickend, einmal von einem Zeitschriftenverleger einen Tausendmarkschein zugesteckt erhalten haben, mit den Worten: „Sie können es doch brauchen?“
Huchel nahm das Geld wortlos, war schon zu erschöpft, zerschmetterte nicht das Fenster, den Geber, den ganzen, grünen Gau. Vielleicht dachte er an den Schwarzkünstler Georg Faust, der, erst 59 Jahre alt, in Staufen starb, sich als Schulmeister durchgebracht hatte, Gaukler, Zauberer, fahrender Scholar.
Oder der Dichter drehte aus dem großen Schein eine mörserhafte, mit Schwarzem Krauser gestopfte Zigarette, deren Rauch er durch das Möbius-Band und durch Schrödingers Handschuh einer vielfachen Welt blies. So möchte ich ihn im Gedächtnis behalten, störrisch ungebeugt gemäß einer Verszeile: „Willkommen sind Gäste, die Unkraut lieben … Es kommen keine.“
Kannte Huchel das Städtchen Oberwolfach dieser Gegend? Ich fürchte, nicht. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zogen sich dorthin Mathematiker zurück, damit sie nicht gestört wurden. Seither ist der Ort zu einem Mekka für Rechen- und Zeichengelehrte geworden. Es gibt Fachbibliotheken, riesige Wandtafeln für aperspektive Manöver, leichte Speisen, Dispute und tückische Freundschaften. Vierdimensionale Räume werden besprochen, ideale Würfel, die nicht nur aus Länge, Breite und Höhe bestehen.
Entsprechend Differentialgleichungen bleiben mehrdimensionale Räume eindeutig, nur der Vierdimensionale macht eine Ausnahme: Er beherbergt unendlich viele Möglichkeiten gleich einem traktalen Monster, das, je näher wir es betrachten, desto vielschichtiger wird, unermeßlich.
Was hätte Huchel dazu gesagt, Rauch eßend und den Rest ausstoßend?
Er wäre, denke ich, zunächst verschüchtert, dann begeistert gewesen mit wunden Schläfen. Eine Antwort von ihm finden wir auch nicht an seinem Grab. Er schweigt, hat längst das Bild eines alten Meisters betreten, aus dessen Rahmen er nicht wiederkehrt.

Günter Herburger, Dankesrede, 1991

Mitschnitt der Preisverleihung vom 3.4.1991

 

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dietmar Dath: Schritt für Schrift
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.2012

Detlef Kuhlmann: Schriftsteller und Langstreckenläufer…
germanroadraces.de, 8.4.2012

Konstantin Ulmer: Der ewige Vagabund
der Freitag, 6.4.2012

Michael Buselmeier: Mein Brieffreund und ich
Der Tagesspiegel, 5.4.2012

Nachrufe auf Günter Herburger: PNN ✝︎ nd ✝︎ Zeit ✝︎ NZZ ✝︎ SD ✝︎ FAZ ✝︎
junge Welt ✝︎ schwäbische ✝︎ Sinn & Form ✝︎

 

 

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