Peter-Huchel-Preis 1995: Durs Grünbein

Mashup von Juliane Duda zum Peter-Huchel-Preis 1995: Durs Grünbein

Peter-Huchel-Preis 1995: Durs Grünbein

FALTEN UND FALLEN

Leute mit besseren Nerven als jedes Tier, flüchtiger,
aaaaaunbewußter
Waren sie’s endlich gewohnt, den Tag zu zerlegen. Die
aaaaaPizza
Aus Stunden aßen sie häppchenweise, meist kühl, und
aaaaanebenbei
Hörten sie plappernd CDs oder fönten das
aaaaaMeerschwein,
Schrieben noch Briefe und gingen am Bildschirm auf Virusjagd.
Zwischen Stapeln Papier auf dem Schreibtisch, Verträgen, Kopien,
Baute der Origami-Kranich sein Nest, eine raschelnde Falle.
Jeder Tag brachte, am Abend berechnet, ein anderes Diagramm
Fraktaler Gelassenheit, später in traumlosem Kurzschlaf gelöscht.
Sah man genauer hin, mit der aus Filmen bekannten Engelsgeduld,
Waren es Farben, verteilt wie die Hoch- und Tiefdruckzonen
Über Europas Kartentisch. Sie glichen dem Fell des Geparden
Im Säugetier-Lexikon, den Blättern fixierten Graphitstaubs
Mit Fingerabdrücken in der Kartei für Gewalttäter. Deutlich
War diese Spur von Vergessen in allen Hirnen, Falten, Gesichtern,
Flüsternd, bis auf den Lippen das dünne Apfelhäutchen zerriß.

 

 

 

Die Anatomie und das Lebensgefühl

Lieber Durs Grünbein,

Sie haben sich im Verlauf Ihres jungen Lebens schon einige Loblieder anhören müssen. Soweit diese mir bekannt sind, handelt es sich beinah ausschließlich um Hymnen der Begeisterung, Gesänge der Bewunderung, Oden des Staunens – und gab es darunter einmal auch einen säuerlichen Psalm, dann waren sofort gelbe Rückstände auszumachen, die Spuren des Neides angesichts Ihrer phänomenalen Begabung der Verwandlung von Erfahrung in Sprache. Heute darf Sie ein Romanist loben, und ein ausländischer dazu, und dies ist vielleicht doch ungewohnt, denn vieles, das Deutern und Kritikern in Deutschland lichterloh aus Ihren Gedichten entgegenbrennt, ist für einen mehr im romanischen Raum orientierten Leser nicht so heiß und nicht so hell – er ist einfach weiter weg, ihm sind es Signale aus der Ferne, Schalttafeln zu einem fremden Lebensprogramm, an denen allerlei aufblitzt und wieder erlöscht. Doch wenn er dann dieses wechselseitige Flackern ferner Lichter entdeckt, weiß auch er, was es bedeutet, nämlich: „Boarding now!“ – Jetzt einsteigen! Den Flug nicht verpassen! Nehmen Sie es aber einem fernab wohnenden Leser Ihrer Gedichte nicht übel, wenn er geschult im Anblick der Alpen, den Prenzlauer Berg nicht erkennt. Oder wenn ihm der Begriff „DDR-Existenz“ als Deutungshintergrund für ein Gedicht immer untauglich leer bleiben wird. Wenn seine Irritationen und seine Panik, die ihm die Welt magnetisch aufladen, geographisch und lebensgeschichtlich transponiert, ja geradezu disloziert sind. Eine kleine Verschiebung also an „Europas Kartentisch“ – damit müssen Sie heute vorliebnehmen.
Ich nehme mir zudem die Freiheit, bedenklich einseitig umzugehen mit Ihren Gedichten. Aus dem von der Jury prämierten Band Falten und Fallen will ich nur ein Phänomen diskutieren – eines freilich, das mich schon beim ersten Lesen geradezu galvanisiert hat und das ich verkürzt den „Schauder vor dem sauberen Schnitt“ nennen möchte. Zu Ihrer Beruhigung: Ich bin weder Chirurg noch Anatom; zu Ihrer Beunruhigung: Ich rede dennoch über die Kunst der Anatomie und wie weit es einer darin bringen kann.
Doch bevor wir in den Seziersaal steigen, will ich darauf hinweisen, was einem Romanisten angesichts eines Titels wie Falten und Fallen durch den Kopf geht. Der Kürze der mir eingeräumten Redezeit wegen überspringe ich die Möglichkeit, die beiden Wörter als Verben, als Handlungswörter, zu deuten – was schöne Zusammenhänge ergäbe, je nach der Auslegung der unpräzisesten aller Vokabeln: des Wortes und. Das Gedicht, das den Titel des gesamten Bandes trägt, sanktioniert – neben der gewählten Großschreibung – diese Unterschlagung. Also handelt es sich bei Falten und Fallen, so nehme ich vereinfachend an, um Substantive.
Doch die Falte – in einer nicht unbedeutenden romanischen Sprache: „le pli“ – ist ein vielfältig anzutreffendes Phänomen. Wo sieht Grünbein Falten? Im Papier, im plissierten Flanell, in urzeitlichen Gebirgsfaltungen, am Körper, im Gesicht, in der grauen Gehirnmasse, oder vielleicht sogar im Uterus. Die Embryologen berichten uns von entwicklungsbiologisch höchst erstaunlichen Falten. Sind wir bei Knitterfalten oder sind wir bei Kummerfalten? – Komplexer noch wird es, wenn wir den metaphorischen Weg einschlagen. Bei Balzac heißt es an einer Stelle: „le pli était pris“ – „die Falte war genommen“: was auf Deutsch wohl übersetzt werden müßte mit: „Damit war die Gewohnheit da.“ Vervielfältigung von Erfahrungen also, die zu Wiederholungen, zu Verfestigungen führen?
Und nicht nur bei den Falten, auch bei den Fallen ist nicht alles von vornherein klar und eindeutig. Jeder weiß, es gibt Türfallen, mit denen man etwas öffnet, und es gibt Jagdfallen und Autofallen, mit denen man etwas fängt und festhält. Zudem gibt es umgangssprachliche Fallen: „Er liegt noch in der Falle“ heißt wohl nur, daß einer noch nicht aufgestanden ist und etwas zu lange im Bett liegen blieb. Da aber käme der Franzose ins rätseln. Müßte für Grünbeins Fallen im Titel stehen: „piège“ – die Falle also, in der man sich mit dem Fuß verfängt, oder: aber „pieu“ – das alte picardische Wort für „peau – die Haut“ – auf der man in der Picardie offenbar zu schlafen pflegte. Deshalb heißt denn auch die französische Aufforderung: „Aue pieu!“ auf deutsch soviel wie: „Ab in die Falle!“
Das besondere Gedicht Grünbeins, das Falten und Fallen heißt, liefert nun aber auch eine tolle Rechtfertigung für meine übersetzungstechnischen Wortfeldabklärungen. Da heißt es nämlich:

Zwischen Stapeln Papier auf dem Schreibtisch, Verträgen, Kopien,
Baute der Origami-Kranisch sein Nest, eine raschelnde Falle.

Wie nah hier die Falte und die Falle zusammenrücken, weiß natürlich nur, wer die Bedeutung des Wortes Origami kennt: Erschrecken Sie jetzt nicht, meine Damen und Herren, ich mußte es auch nachschlagen. Wie es denn überhaupt von Vorteil ist, Grünbein in der Nähe einer Bibliothek mit reichem Nachschlageapparat zu lesen. Origami ist die alte japanische Kunst des Papierfaltens. Wenn das Nest des gefalteten Papiervogels als „eine raschelnde Falle“ bezeichnet wird, dann ist das zirkeln zwischen Falle und Falle, zwischen piège und pieu, geradezu perfekt. Ich beneide wahrhaftig nicht den französischen Übersetzer, der dieses Gedicht einigermaßen heil in seine Zielsprache hineinretten muß! Als Lektüreerfahrung eines Fremdsprachigen darf aber gelten: die sprachartistischen Volten des Durs Grünbein durchschaut einer gelegentlich leichter, wenn er versucht, sie in einer anderen Sprache auszuhorchen.
Doch damit zu meinem eigentlichen Punkt.
Ich beginne mit einer Frage: Ist es verboten, sich für jedes Buch den idealen Leser vorzustellen? Jemand, der aus der Lektüre nicht nur Anregung, Zuspruch, Ermunterung erfährt, sondern auf eine bisher unbekannte Art von Genuß stößt? Um es kurz zu machen: Ich habe mich selbst eine Weile für den idealen Leser von Falten und Fallen gehalten. Ein solcher Kurzschluß ist verzeihlich, man überschätzt sich aus Unwissenheit permanent. Es geht einem dabei wie dem Spaziergänger, der auf eine fremde Katze stößt, die sich um seine Beine ringelt und schnurrend zu erkennen gibt, daß sie nicht unzufrieden ist. Kein Katzenkenner wird daraus schließen, das freundliche Wesen ihm zu Füßen sei ihm in besonderer Weise zugetan. Bücher schnurren manchmal ganz von selbst, wenn sie in die Nähe von etwas kommen, das nicht ganz reaktionstot ist. Doch muß hier ehrlicherweise gesagt werden: Nicht nur ich, sondern jeder Leser, der Ohren hat für bisher Ungehörtes und ein wenig Rhythmus im Leib, wird bei Falten und Fallen aufhorchen, auch wenn er den Grund dafür noch längst nicht kennt. Wenn ein Gedicht einsetzt mit:

Leute mit besseren Nerven als jedes Tier, flüchtiger, unbewußter
waren sie’s endlich gewohnt, den Tag zu zerlegen.

Da kann einer nur die Ohren spitzen, das Trommelfell spannen und das innere Echo der Schwingungen abwarten. Man wird die Fransen der eigenen Nervenzellen bündeln, um zu spüren, wo die niederen und wo die höheren Stromwellen verlaufen. Dann merkt man, wie die Neugier sich belebt und wie aus allen erdenklichen und vielleicht schon totgeglaubten Ecken des eigenen Körpers Sendboten sich aufmachen, als sei da auf einmal für Herz und Hirn etwas zu holen. Und bis das Gefundene danach oben und unten verstaut und versorgt, eingelagert und absorbiert ist, darf einer ruhig davon ausgehen, es sei dies alles nur seinetwegen in Bewegung: „Tua res agitur“: es geht hier um dich und um nichts sonst.
Doch kaum hat man es von vorne nach hinten und von hinten nach vorne durchstreift, da kommt auch schon der Augenblick der Einsicht. Der ideale Leser, derjenige, der noch genauer darauf reagiert, noch größere Beute daraus zieht, weil er besser sortiert und schärfer trennt, könnte doch ein anderer sein.
Ich war daraufhin für einige Tage der Ansicht, der allerbeste Leser von Falten und Fallen wäre vermutlich Diderot gewesen. Er war in der Mitte seines Jahrhunderts der Meinung, Anatomie und Physiologie seien Teile der Wissenschaft, die man nicht einfach fortschreiben könnte, sondern die, aufgrund des Wissens der Zeit, vollkommen neugeschrieben werden müßten. Im ersten Band seiner Encyclopédie hat er selbst den Artikel *ANATOMIE verfaßt, jedenfalls den einleitenden Teil davon, man spürt es an der Luzidität der Argumente und am Asteriskus, seinem Zeichen als Verfasser. Grund zu diesem Ausflug ins Medizinische hatte Diderot durchaus, denn bevor die Arbeit an der Encyclopédie begann, hatte er das Wörterbuch der Medizin von James übersetzt – und dabei Kontakt mit vielen bedeutenden Medizinern seiner Zeit geknüpft. Interessant für uns ist hier bloß, daß Diderot anatomisches Wissen nicht den Medizinern vorbehalten wollte, sondern darunter einen Wissensbereich verstand, der jeden angeht. Jeder solle seinen Körper kennen, sagte er gegen die anderslautende Meinung der Theologen und fügt listig hinzu: zu sehen, wie dieser Körper gebaut und geordnet sei, wie kunstvoll seine Teile ineinandergreifen und sich ergänzen, die Teile der allerschönsten Maschine, die die Schöpfung kenne, dies können doch nur den Glauben an ein allmächtiges Wesen stärken! Freilich – so der das Diesseits nie unterbewertende Diderot – sei dabei ebenso wichtig, die Gründe zu kennen, weshalb einer sich wohl oder schlecht fühle.
Genau hier ist nun Durs Grünbein – im Praktizieren der Vivisektion, in der Beobachtung der sichtbaren Reflexe und der lokalisierbaren Reize – ein treuer Vollstrecker des Diderot’schen Anatomie-Programms. Das war es ja, was Diderot gegen die dogmatischen Kadaver-Sezierer seiner Zeit einzuwenden hatte: daß sie nur Augen für das tote Material, nur die Leidenschaft für erstarrte Materie hatten. Daß sie sich nicht auf den Schnitt am Lebendigen verstanden, wo das Zucken, das Beben, das Pulsieren, das Fließen zu sehen, und wenn nicht zu greifen, so doch zu begreifen war.
Diderot hätte sicherlich gleich einen Hilfsassistenten angestellt, um ein Register anzufertigen über alles anatomisch Relevante in Grünbeins Gedichte. Sogar jemand, der keinen Hilfsassistenten dafür zu Verfügung hat, könnte sich ein Vergnügen machen, hierzu einen alphabetischen Index anzufertigen. Wenn ich mich auf den ersten Teil, auf Variation auf kein Thema, beschränke und keine Vollständigkeit anstrebe, könnte dieser Index etwa so lauten:
Adern, Bauchhöhle, Bein, Blut, Brust, Eingeweide, Finger, Fleisch, Geschlecht, Haare, Haut, Herz, Kehle, Kniekehle, Leiche, Lidschlag, Mark, Muttermal, Nabel, Nagel, Nerv, Pulsschlag, Rippe, Schädel, Schlagader, Wunde, Zähneknirschen, Zunge…
Wieviel Körper auf wenigen Seiten! Was da alles blutet, röchelt, tropft, atmet, tastet, sich spreizt, sich abschält, aufspringt, gestillt wird! – Natürlich ist es dummes Zeug, so über Gedichte zu reden, wie ich es gerade tue. Und doch – ich kann nichts dafür: Es ist diese anatomische Werkstatt, dieses Experiment mit Bestandteilen des Körpers, diese Grünbeinsche neue Sensibilität und Professionalität für den sprachlich scharfen Schnitt am Lebendigen, was mich von Anfang an für diese Gedichte so eingenommen hat.
Gewiß: Man darf die Einbettung, die Szenerie, die Stimmungen, die Korrespondenzen, die zeitlichen Verzögerungen, die Klangarchitekturen, die metaphorischen und metonymischen Spielereien, das Rufen und das Locken der Verse nicht ausser acht lassen. Es ist schon wichtig, wer „die feinen Risse im Schädeldach“ spürt, wie jemand auf dem „Xylophon aus verborgenen Knochen“ spielt, wann „ein Körper aus Luft“ erscheint und weshalb „die Nerven blank wie unter Flügeldecken“ sind. Manchmal ist das Hirngewöbe, von dem die Rede ist, gar nicht das eigene, sondern das „alte Hirngewölbe des Jahrhunderts“. Nicht immer bist du gemeint, wenn du liest: ewige Schockerfahrung des passionierten Lesers. Erst wenn alles gesehen, auskultiert, geortet, gewogen, bedacht ist: erst dann sollte über ein Gedicht geurteilt werden.
Ich weiß es, und sage dennoch: Pfeiff drauf! Oder nach der Lektüre von Durs Grünbein: „Pfiff ums Eck!“
Dürfen wir denn nicht den eigenen Reflexen trauen? Den spürbaren Erregungen nachjagen? Den Volltreffern des Zufalls nachsinnen?
Wir müssen wohl, wenn Lesen mehr als ein Zeitvertreib ist. Deshalb habe ich hier zu berichten, dass aufgrund längerer Beschäftigung mit Falten und Fallen noch ein anderer, womöglich selbst Diderot übersteigender Interessent an Grünbeins Anatomiestudien in Gedichtform aufgetaucht ist. Denkbar ist es, daß selbst unser vielwissender Falten- und Fallenspezialist von diesem Herrn noch nichts gehört hat. Er zeichnet in Diderots Encyclopédie bescheiden mit einem (L) – eine falsche Fährte, möchte man sagen, denn er heisst in Tat und Wahrheit Pierre Tarin, war „Démonstrateur“ im Amphitheater der Medizinischen Fakultät zu Paris und hat mit und für Diderot die anatomischen Karten, die berühmten „planches“ – d.h. die Druckplatten für die Illustrationen der Encyclopédie – ausgesucht und kommentiert. Meine Behauptung ist nun folgende: Es gibt einige unter diesen aus den besten Fachbüchern der damaligen Zeit bezogenen Illustrationen (Albrecht von Hallers Bibliotheca anatomica war eine Bezugsquelle), die derartig kühn im Aufriß sind, kalt in der Entblößung, scharf im Detail, wagemutig in der Assoziation, skurril in der Auswahl und verstörend in der Wirkung, daß sie für mich nur mit einigen der schönsten Grünbein-Gedichte aus Falten und Fallen verglichen werden können.
Der Vergleich ist seltsam – ich weiß es. Doch was ihn vielleicht akzeptabel macht, ist eine Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter Durs Grünbein und den mutigen Forschern und Aufklärern des 18. Jahrhunderts: die Freiheit, Dinge ganz nah aneinanderzurücken und miteinander zu konfrontieren, die die Konvention trennt und die Schicklichkeit meidet. Ich sage es, lieber Durs Grünbein, mit einer gewissen Melancholie: Wenn ich – einer, der die Schwelle der Fünfzig überschritten hat – mit die Erlebniswelt Ihrer Gedichte Zeile für Zeile rekonstruiere: die Intensität und Schnelligkeit der Eindrücke, die Weitsprünge des Willens, das Verwandtschaftsgefühl mit anderen Kreaturen, die neue Wendigkeit und Biegsamkeit der Sprache: dann komme ich mir manchmal weit in die Vergangenheit abgeschlagen vor. Mein Leben ist von dem Leben, das in vielen Ihrer Gedichte erkennbar wird, so weit weg wie die anatomische Tafel des tüchtigen Pierre Tarin von gegenwärtiger, greifbarer Körperlichkeit. Und dennoch scheint mir dies kein Hindernis zu sein und kein Nachteil, um zu begreifen, wie Körperlichkeit, Reizbarkeit, Schmerz und Lust auch und eindringlicher sogar, als mir selbst bekannt, heute erfahren werden. Obwohl ich von den so unglaublich stimmigen Senkungen und Hebungen der Verse mich getragen, ja beflügelt fühle: es gibt Gedichte, wo ich gleich spüre: da kannst du nicht mithalten, da kannst du nur untergehen, dafür bist du nicht stark genug! So verlockend die Töne sind, du weißt dennoch: Diese Gedichte sind die Drucktafeln für die Encyclopédie des Lebens von morgen.
Dann blättere ich die Seite um, bin eine Falte weiter, und in dieser Falle fühle ich mich wieder im Nest. Jetzt ist es, als kämen die Wörter, die Bilder, die Gefühle direkt aus dem eigenen Körper. Anatomischer Rückstieg zur eigenen Geburt:

Was für ein blutiger Knirps du mal warst,
aaaaa
Ein runder Kobold, verknotet
Die Arme, die Beine. Mit bläulicher Haut
aaaaa
Wie um dein Leben strampelnd,
Früh um dein künftiges Sterben bemüht.
aaaaa
Und alles fing so untröstlich an
Mit einem gellenden Schrei, als die Welt
aaaaa
In die Lungen zog, rasselnd.
Mit einem Schock („Soviel Licht!“), einem Schnitt
aaaaa
Flinker Scheren und Messer
In das einzige Fleisch, das nicht du warst.
aaaaa
Der Nabel erinnert den Faden
Die Zerreißlust der Parzen von Anfang an.

So nah hätten wohl viele immer schon gern Tod und Leben zusammen gesehen, beieinander gefühlt. Wenn einer es erst heute so sagt, daß es uns ergreift: dies macht das Glück aus, heute lebendig zu sein. Und weil nichts verloren ist von dem, was ein Gedicht noch zu offenbaren und zu verändern vermag, wird die Maxime unseres poetischen Anatomiekünstlers für das eigene Lebensgefühl geradezu unauslöschlich:

Denk von den Wundrändern her, vom Veto
aaaaa
Der Eingeweide, vom Schweigen
Der Schädelnähte. Das Aufgehn der Monde
aaaaa
Über den Nagelbetten führt
Andere Himmel herauf, strenger gestirnt.

Ich glaube, ich bin doch ein guter Leser von Durs Grünbein. Denn einige seiner Gedichte sind mir inzwischen lebenswichtig geworden.
Dafür hat er den Huchel-Preis verdient!
Doch räume ich gern ein, daß vielleicht Durs Grünbeins allerbeste Leserin sich hier unter uns im Saal befindet, ohne daß der Preisträger, der Laudator, die Jury oder die Veranstalter davon die geringste Ahnung haben. Es ist alles andere als ein Unglück, wenn die Dame unerkannt bleibt.
Kein Wort habe ich noch gesagt über Im Zweieck, das heißt: über sieben der schönsten Liebesgedichte unseres Zeitalters. Ich verrate nichts. Liebende werden auf sie stoßen. Unausweichlich. Die anderen dürfen sie übersehen, denn sie brauchen sie nicht und sie verdienen sie nicht.
Damit bin ich in der letzten Falte, und die Zeitfalle schnappt zu. „In Gesprächen fließt Zeit ab“ schreibt Grünbein. Mein Lobzeit ist abgeflosssen.
Zum Schluß ein Wunsch und eine Voraussage: Bleiben Sie, lieber Durs Grünbein, als reflexschneller Deuter der Zeit Ihren Lesern wie die Spatzen dem anrollenden Tod immer „um ein kurzes Flügelschlagen voraus“. Dann werden die Leser Ihnen nachflattern. Auf Lebenszeit. Und vermutlich sogar danach.

Iso Camartin, Laudatio auf Durs Grünbein, 1995

Der verschwundene Dichter

Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafür Monica Huchel

Befangenheit ist das erste Gefühl, wie bei jeder jähen Begegnung zwischen einem Lebenden und einem Toten, zwischen einer Psyche, die eben erst ihren Ausdruck findet, und einem manifest und ortlos gewordenen Geist. Es ist Vorsicht geboten, wenn ein Dichter auf einen anderen Dichter zu sprechen kommt. Alle verrannt in die eigene Wortwelt, sind sie im öffentlichen Raum stolpernde Abgesandte einer Irrealität, die jeder anders behauptet.
Ich habe Peter Huchel erst spät wahrgenommen, als einen gründlich Verdrängten, den sozusagen offiziell ein Geheimnis umgab. Es war die Leerstelle, die seinen Namen trug, eine jahrzehntelange, erzwungene Abwesenheit. Den Gedichten voraus ging das vergeßliche Gerücht vom großen Verweigerer, das sie zu überschatten drohte. Sie selbst, die wenigen, die ich zu lesen bekam, prägten sich ein, dank ihrer japanischen Ökonomie.
Auf schmalen Pfaden durch Hinterland (in diesem Fall die Mark Brandenburg), das hätte ein Titel von ihm sein können, auch wenn er, anders als der Wandermönch Basho, später eher seßhaft war. Soviel ich weiß, haben ihn seine Reisen immer wieder zurückgeführt in die Nähe des großväterlichen Gehöfts. Und wo immer er unterwegs war, er blieb dieser mikrokosmische Betrachter, ein Fährtensucher im Kleinen. Daß es ihm um das scheinbar Geringe und Naheliegende ging, um die daumennagelgroße Sensation, lag in der Natur, so wie er sie sah: Geschichte, gesammelt in einem Regentropfen. An jedem ihrer Splitter ließen sich Spuren der glücklosen Menschwerdung finden. Das Unberührte, Natur in den Träumen der blinden Hüter, war seinem Scharfblick längst das Dämonische, ein Aufenthaltsort für die ruhlosen Geister. In Huchels Gedichten hat Landschaft, ein Schilfdickicht oder ein Birkenwäldchen, sehr oft das Bedrohliche eines Tatorts. Nicht ausgeschlossen, daß dort, hinter dem Weidengebüsch, erst gestern ein Fememord geschah, und übermorgen folgt ihm vielleicht ein Krieg. Wie in der Judenbuche der hellhörigen Droste ist Natur bei ihm Schauplatz noch ungeahnter (und meistens ungesühnter) Verbrechen. Jeder Tümpel kann das Grab einer Unbekannten sein, jedes Rindenstück läßt sich als Palimpsest der historischen Dramen lesen, in jedem Grashalm singen, unerlöst, die Geschichten, an denen neuer Zorn sich entfacht … Bis die Mittagshitze dem Einhalt gebietet, die südliche Stille, und im Gras die Mandelschalen in Urnenscherben verwandelt sind.
So könnte man ihn, wenn der Znismus erlaubt ist, einen Natur-Realisten nennen. Denn seine Unheilfühligkeit war ein Reflex vor aller gängigen Magie, mit der die Neoromantik das Schwindelgefühl in der Vernichtungswelt lyrisch auffangen wollte. Ein Gedicht von Huchel ist sowenig Naturlyrik wie die Photographie eines Baumstumpfs, den sich der Waldrand zurückgeholt hat.
Vielleicht ist da zuerst dieser Diskurs, eine Art murmelnder Genügsamkeit gegenüber Dingen und Tieren, ein Wiederkäuen der kargen Worte. Dem zweiten Blick spätestens zeigt sich das leichte Vibrieren im Spiegel des Wassereimers, die Erschütterung durch den Marschschritt herannahender oder abziehender Heere. Ob die Gefahr schon gebannt ist oder erst noch heraufzieht, bliebt unbestimmt, später hat er es wohl absichtlich in der Schwebe gehalten. Viele der Gedichte scheinen sich wie Ackergäule erst aus einer Erschöpfung zu lösen, bevor sie stockend in Gang kommen, schwer von Vergangenheit, selten mit melodiösem Tritt. Heimat, wann immer sie aufscheint, ist sie das Grausame, das Erdenschwere. Das Übel findet sich dicht am Wegrand, ein dürres Blatt, ein erwürgter Bach. Daß er das Grausame als das Gewohnte verzeichnet, verrät ihn als Stoiker, dessen Sprache und Blick sich im Standhalten prägte.
Nichts war zu deuten: lautet eine versprengte Gedichtzeile, sein Credo diesseits der Frömmigkeit spätdeutscher Naturlyrik.

Unter der Kiefer

Nadeln ohne Öhr,
Der Nebel zieht
Die weißen Fäden ein.
Fischgräten,
In den Sand gescharrt.
Mit Katzenpfoten
Klettert der Efeu
Den Stamm hinauf.

Der große Bogen reicht von den Glücklichen Gärten der Frühzeit in eine sich verfinsternde Landschaft, durch die bald die Blitzkriege tobten. Als biographische Kurve und unsichtbare Geschoßbahn geht er durch beinah alle späteren Gedichte. Es ist, als seien die Landstriche und über ihnen die Himmel unmerklich gealtert damals, in der Verwüstung Europas.
Man weiß nicht recht, wann es anfing, aber ein mächtiger Zeitablauf hat überall seine Spur hinterlassen. Peter Huchel hat solche Spuren als Landschaftshistoriker, als Chronist einer Gegenzeit gesammelt wie zum Beweis, daß wenigstens auf den Augenschein noch Verlaß sei. Bis er auch daran zu zweifeln begann, bedroht vom Verschwinden.
Daß etwas restlos verschwinden konnte, ohne Grabstein und Räderfurchen im Wegschlamm, ohne den Schlamm, ohne den Weg zuletzt, das muß ihn bestürzt haben wie den Geschichtsschreiber die Auslöschung der Schrift. Noch die verstummende Bildlegende am Rand apokalyptischer Szenerie hofft auf die Auferstehung ihrer Motive, die Erinnerung an den Tag nach der Zerstörung. Was, wenn sie ausbleibt?
Eine Aussage aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß: „(…) und von diesen vielen tausend Menschen war auch nicht das Stäubchen auf einer Uhrenarmatur geblieben.“
Huchels Blick ist dem nachgegangen. So wie ein Teil seines Körpers dort draußen blieb, auf den Chaussen des Zweiten Weltkriegs, den Vormarsch- und Rückzugsstraßen zwischen Berlin und Warschau, wo jede Brombeerranke ein rostiger Stacheldraht war. Bis zuletzt kehrten bei ihm die Kriegsbilder wieder, Heimsuchungen wie Goyas Capriccios, bei anderen längst verblaßt, noch in den Altersgedichten standen sie als Shakespeareszenen auf seiner Netzhaut.
Und so kamen ihm seine bittersten Fragen. Was ist Überlieferung: Spricht sie zu tauben Ohren? Was heißt Gleichheit und gerechte Güterverteilung: um den Preis der Mißachtung des einzelnen Menschen? Wo seine Befreiung umschlug in die totale Verwaltung, war der Mensch früher oder später abgeschafft und Leben ersetzt durch den kleinlichen Terror des Alltags. Huchels Mißtrauen gegen gesamtgesellschaftliche Heilserwartungen muß schon früh erwacht sein. In den dreißiger Jahren sieht er sich selbst als verlorenen Europäer, sein Portrait vor dem Hintergrund kommender Krisen und Kriege. „Aber da ihm selbst die marxistische Würde nicht zu Gesicht steht, wird er sich unter aussichtslosem Himmel weiterhin einregnen lassen.“
So gab es für ihn, in der gefesselten Landschaft, nach dem bösen Erwachen im ostdeutschen Alptraum, auch nicht die Flucht nach vorn, in die Taktik der kleinen Schritte. Was ihn zur Ausnahme machte, exotisch in einem Zoo der Angepaßten, das war sein stiller Rückzug, sein, wie es mir heute scheint, beinah eisiges Schweigen, das der klimatischen Härte jener Zeiten entsprach. Daß er es vorzog, die Wand anzustarren, hat ihn damals, lange vor jeder lärmenden Dissidenz, zum stummen Widersacher gemacht.
Im kalten Krieg einer Regierung gegen ihre Bevölkerung war Huchel der Einzelgänger, von Natur aus unfähig zum Kniefall, einer, der sich geschämt hätte, die Namen seiner Feinde auch nur zu nennen. Sein Beharren auf einer Internationale der Poesie brachte ihn in den Zeiten der sozialistischen Restauration in den Rang einer Persona non grata. Denn der kosmopolitische Mensch galt als Schädling auf den Feldern der neuen Monokultur, eine Art Kartoffelkäfer, wie ihn die Amerikaner zum Verderben der Ernte ausgesetzt hatten – zumindest im Wahnsystem des Paranoikers Stalin, in das auch Ostdeutschland längst integriert war. Einer, der wie Huchel aus ästhetischen Gründen Distanz hielt zum herrschenden Wahnsystem (wie jeder Dichter eher offen für Fernstenliebe), mußte bald isoliert sein.
So kam es, daß sein berühmtestes Gedicht, Garten des Theophrast, zur Nachricht aus der innersten Zelle geriet, zu einem Selbstbild im Augenblick des Verschwindens. Die antike Manier war hieran nur das Passepartout, in das sich der Nachruf auf eine versunkene Gesprächskultur einfügen ließ. Der Philosoph und Naturforscher Theophrast konnte zum alter ego werden, in dem sich die liebsten Motive zum letzten Mal kreuzten: der Natursinn, die Stoa, das Ideal freien Sterbens.
Was immer dereinst noch zum Lob jener schmächtigen Republik vorgebracht wird, es ist wertlos, hält man den Fall Huchel dagegen. Weil er es ablehnte, als Redakteur der bekanntesten Literaturzeitschrift ideologischen Schund abzudrucken (was kaum mehr war als eine Frage der Handwerksmoral), wurde er selbst ausgeschlossen aus dem zukunftsfrohen Kulturbetrieb, der sich nun unbekümmert rhetorisch seinen höchsten Zielen zuwenden konnte. Seltsam nur, daß in genau diesem Moment der Ort künstlerischer Autonomie selbst zum geheimen Zentrum wurde, in diesem Fall ihr Verbannungsort: Es waren die anderen, die sich damals von seiner Dichtung isolierten. Mit Huchel verschwand, zunächst vor aller Augen, ein Charakter aus dem literarischen Leben, den seither nichts wieder herbeirief, der Dichter als freundlich stoischer Begleiter unvermeidlichen Zeitgeschehens.
Daß das erzwungene „Lebe verborgen“, zumindest im stillen, Momente geglückter Fensterliebe gekannt hat, beweisen Gedichte, die in der Menge des ringsum Geschriebenen, im sozialistischen Lyrikfrühling, bis heute singulär sind. Denn Huchel wäre nicht der souveräne Außenseiter gewesen, hätte er die Widrigkeiten und tristen Gesinnungsintrigen zu seinem Thema gemacht. Ich nehme an, daß ihm Augustinus oder Polybios tatsächlich näherstanden als irgendein Kulturminister, und sei es schon deshalb, weil ihm deren Ansichten, wie die idealer Gesprächspartner, länger vertraut waren. Ihre Stimmen hatten sich zuverlässig vor die zerrissenen Jahrhunderte gelegt, während die der windigen Zeitgenossen sich schon beim nächsten Parteitag zu überschlagen drohten. Es war also klüger, ihnen zuzuhören, und es war weniger schrullig, ernsthaft mit ihnen zu sprechen als mit der Telephonistin im Ministerium oder dem Spitzel von gegenüber.
Ohnehin war das einzige, was ihn in haltloser Situation wirklich hielt, die gebundene Rede, das kurze, stoßweise aufatmende Gedicht. Ihm selbst kann dabei nicht entgangen sein, daß es in dieser Funktion wortgetreu dem Gebet in Augustinus’ Bekenntnissen glich. Nur aus der übergroßen Einsamkeit, die ein Maß ist für die Konzentration auf Raum und Zeit, erklärt sich die Intimität einzelner Rollengedichte Huchels. Gerade in ihnen hat er Abschied genommen von der eigenen Zeit, der herrschenden Enge, vom biographischen Ich. Sie sind das Vermächtnis des Solitärs, ein Sprechen, das vor dem Wind aus der Zukunft abdreht.
Durch die fremde hindurch wird die eigene Stimme hörbar, der nahe Herzton, wie in der Persona des Aristeas, der in Gestalt einer schwarzen Krähe von den Toten zurückkehrt. Huchels schattenreiche Ironie setzt den Helden in einem verwahrlosten Hafen ab, wo ihm genügend Geduld bleibt, sich mit dem Ärger über die elenden Fremden zu trösten. „Hier ist das Vergangene ohne Schmerz“, heißt es am Schluß des Gedichtes sarkastisch, und es hört sich an wie die Übersetzung des Krähenkrächzens in eine Zeile.
Zurückkehren zu können ist ein Wunsch, der das Entkommen aus der Talsohle der eigenen Zeit ebenso einschließt wie das Vorübergleiten an jenem irreal gewordenen Gestern, von dem bald nur noch Ruinen zeugen. Mag sein, daß es einer der ältesten Dichterwünsche ist. Aus dem verwahrlosten Häfen, den zersiedelten Landschaften und mit Müll zugeschütteten Totenreichen eines Tages sich aufschwingen zu wollen gehört noch zu den bescheidensten Wünschen, erst recht, wenn man sich selbst bei der Wiederkehr in der Gestalt einer Krähe sieht.
Daß er dem Totemtier treu blieb, beweist seine Haltung im Westen, als er endlich, nach ermüdender Wartezeit, übergesiedelt war. In einem der wenigen, knappen Interviews, das er am anderen Ufer den Schaulustigen gab, war es schwarzer Humor, eine Geste des Abwinkens, mit der er sein neues Leben beschrieb. „Nun mache ich aus der Not eine Tugend, fahre herum und knalle den Leuten manchmal ein paar hundert Metaphern ins Gesicht.“
Ich danke der Jury, daß sie mich in so gute Gesellschaft gebracht hat.

Durs Grünbein, Dankesrede, 31.3.1995

Mitschnitt der Preisverleihung vom 3.4.1996

 

 

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Grünbein“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Durs Grünbein

 

Durs GrünbeinSternstunde Philosophie vom 14.6.2009.

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