Peter Maiwald: Zu Christa Reinigs Gedicht „Robinson“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christa Reinigs Gedicht „Robinson“ aus Christa Reinig: Sämtliche Gedichte. –

 

 

 

 

CHRISTA REINIG

Robinson

manchmal weint er wenn die worte
still in seiner kehle stehn
doch er lernt an seinem orte
schweigend mit sich umzugehn

und erfindet alte dinge
halb aus not und halb im spiel
splittert stein zur messerklinge
schnürt die axt an einem stiel

kratzt mit einer muschelkante
seinen namen in die wand
und der allzu oft genannte
wird ihm langsam unbekannt.

 

 

Vom Inselmenschen

In der Lyrik kann Größe auch bedeuten: Ein Dichter, eine Dichterin hat unseren poetischen Wortschatz erweitert. Christa Reinig darf dies für sich in Anspruch nehmen. Wir verdanken ihr ein starkes Dutzend unvergeßlicher Gedichte, etwa „Die Prüfung des Lächlers“, „Die Ballade vom blutigen Bomme“, „Die Gerechten“ – und eben auch die zwölf Verse über „Robinson“.
1926 in Berlin geboren, hat Christa Reinig manche Etappe deutscher Geschichte erlebt. Erfahren hat sie die Unliebsamkeit ihrer traurig-schönen Poeme in der aufbaufrohen und aufbaurohen DDR. 1964 verließ sie das Land: Nach einer kurzen Zeit der Anerkennung und der Ehrungen blieb ihr im Westen die Bekanntschaft mit dem schlechten Gedächtnis des literarischen Marktes nicht erspart. Nicht von ungefähr jedenfalls handelt „Robinson“, ihr noch in der DDR geschriebenes Gedicht, vom Abgeschnittensein, von Isolation und Vereinzelung, von der zerstörerischen Wirkung der Einsamkeit.
„Lyrik als Arbeit“ – In einer ihrer raren poetologischen Notizen hat sich die Autorin zur handwerklichen Mühsal und zur zähen Geduld ihrer Kunst geäußert: „Ich mußte“, schreibt sie angesichts der verhärteten Verhältnisse und der bürokratisch verkrusteten Sprache, „mit Feilen und Fingernägeln eine Fuge herauskratzen, dann gibt es einen lockeren Stein, dann breche ich den Stein heraus.“ Der herausgebrochene Stein, der auch von den Mauern zwischen den Menschen spricht und von den Barrikaden in uns, ist ein zentrales Motiv ihrer Poesie. Im Robinson-Gedicht findet es seine Entsprechung im Bild vom Kratzen mit der Muschelkante.
Daniel Defoes 1719 erschienener Roman über die „seltsamen und erstaunlichen Abenteuer des Robinson Crusoe“ führte uns einen risikobereiten Helden vor, der sich von Katastrophen und Rückschlägen nicht entmutigen ließ, vielmehr flexibel auf noch so schwierige Lagen reagierte. Kurzum: Ein Selfmademan, den Triumph des bürgerlichen Individuums verkörpernd. Nichts mehr davon bei Christa Reinig. Es ist, als habe ihr Robinson nach all den Überlebensmühen und Fortschrittskämpfen nur noch die Fähigkeit zu funktionieren bewahrt, darüber jedoch seine humane Energie eingebüßt – und mit ihr seine Sprache, ja seinen Namen. Gnadenlos ist diese neue Robinsonade. Kein rettendes Schiff in Sicht, und der Horizont leer. Kein edler Wilder, kein Freitag bietet die Illusion einer gelingenden Gesellschaft.
Und doch wirkt das Gedicht anmutig und leicht. Es verbirgt keineswegs die artistische Lust am unangestrengten Reim, es bekennt sich zur Leidenschaft fürs Lapidare und Lakonische. Natürlich moralisiert es nicht. Seine Moral ist die Sprache selbst, genauer: die Gegensprache zum herrschenden Idiom. Dies herrschende Idiom freilich gibt es nicht mehr: Mit der DDR verschwand auch ihre doktrinäre Diktion. Also hätte das Gedicht seine Wirkung getan, also hätte es uns nichts mehr zu sagen?
Weit gefehlt. Wer unsere Wohninseln und Bürowaben betrachtet, wer, bei anschwellendem Geschwätz, den zunehmenden Verlust an Kommunikation bemerkt, wer die Einsiedler mit ihren Handys und die Eremiten des Internet beobachtet, wird Christa Reinigs Robinson unschwer wiedererkennen. Fern aller befreienden Inselphantasien steht dieser alte Held heute eher für Autismus und Isolation. Immerhin: „manchmal weint er“ – noch.

Peter Maiwaldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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