Peter Maiwald: Zu Kurt Bartschs Gedicht „Die Leichenwäscherin ist tot“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Bartschs Gedicht „Die Leichenwäscherin ist tot“ aus Christoph Buchwald & Ursula Krechel (Hrsg.): Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1985

 

 

 

 

KURT BARTSCH

Die Leichenwäscherin ist tot

Die Leichenwäscherin ist tot
Wer wäscht denn jetzt die Leichen
Wer malt ihnen die Lippen rot
Die in der Frühe bleichen

Wer wäscht die Toten kämmt ihr Haar
Das ist durchaus vonnöten
Wer bricht ihnen die Finger gar
Daß sie noch einmal beten

Kein Mensch geht gern ins Leichenhaus
Bei keinem Wind und Wetter
Die Toten sehn so seltsam aus
Wie kalt und weiße Bretter

Wie Schnee der in der Sonne taut
Mit seltsam schwarzen Flecken
So kalt ihr Fleisch so gelb die Haut
Daß wir davor erschrecken

Die Leichenwäscherin ist tot
Wer wäscht denn jetzt die Leichen
Wer malt ihnen die Lippen rot
Die in der Frühe bleichen

Am Mittag geht ein lauer Wind
Wie soll das bloß noch enden
Wer wäscht wenn wir gestorben sind
Das Blut von unsern Händen.

 

Reinigungszwänge

Eine Moritat lesen und hören wir gerne, weil sie uns das geschätzte Vergnügen bereitet, nicht betroffen zu sein. Tränen und Rührung sind dabei keine Gegenargumente. Wir können nämlich schön sicher sein, daß die Nachricht, daß und wie es einen oder eine oder mehrere „erwischt“ hat, uns angenehm signalisiert, daß wir noch einmal davongekommen sind. Uns macht die Moritat – moderner: die Unglücksnachricht – zufrieden wie jene sanktflorianische Heiterkeit, die uns gelegentlich bei Bränden, bei Leichenfeiern und beim Lesen der Zeitung befällt.
Nun hat es gerade Kurt Bartschs Moritat darauf angelegt, uns derart in unser Unglück – soziologisch: in unsere Todesriten – hineinzuziehen, daß wir uns vor uns nicht mehr drücken können und uns am Ende der Appetit auf uns ziemlich vergeht.
Wie schafft er das? Ganz listig, indem er uns ohne Umschweife die Vakanz einer Stelle meldet, die wir bis dato besetzt und in den guten Händen von Takt und Pietät unserer Zivilisation wähnten, nämlich unseren Umgang mit dem alltäglichen Tod und den alltäglichen Toten, ein Umgang, der mehr dem Umgehen ähnelt.
Wir bemerken bei der Lektüre: Leichenwäscher sind wir alle, ob aus Gedankenlosigkeit oder im Namen einer Geschäftsidee, ob aus Staatsräson oder im Namen eines Volkes oder einer Klasse, einer Rasse oder eines Geschlechts, ob aus Angst oder schlicht nur aus Selbstschutz vor dem Wahnsinn, der uns unweigerlich befallen würde, nähmen wir die unendlichen sinnlosen Tode, deren wir an jedem Tag teilhaftig werden, und das nicht nur medial, ernst.
Es gehört zu den Lustbarkeiten unseres infantilen Lebens, den Tod zu verdrängen, wo immer es geht, ihn zu verharmlosen, wo er uns nahe kommt, und es ist nachgerade zur Kunst geworden, ihn zu verschönen und zu schminken, wie wir allabendlich aus unseren Kinos, Theatern und vor dem Fernseher wissen. Die Leichen in unseren Kellern sind natürlich immer die von anderen.
Wenn wir den Tod wahrnehmen, dann nur, wenn wir nicht anders können oder wenn er uns zur Aufwertung unserer Interessen, unserer Ziele, unserer Ideen, unserer Parteien, unseres Lebens und unserer Portemonnaies dient. Bewirtschaftung der Toten hat der Philosoph Peter Furth unseren Verkehr mit dem Tod genannt, ein böser Ausdruck für den Eindruck, eine Art Beerdigungsunternehmer ohne Gewerbeschein zu sein. Man braucht nur eine der landesüblichen Gedenkfeiern zu besuchen oder einen verordneten Volkstrauertag über sich ergehen lassen, um zu erfahren, wie wir unsere Toten abrichten. Dann dürfen sie mahnen (natürlich die anderen), dann dürfen sie erinnern (natürlich an das, was wir schon wissen), dann dürfen sie sprechen (natürlich unseren Text). Man mag gegen das Gedicht einwenden, der Autor habe sich im Ton vergriffen, der Gegenstand sei zu ernst, als daß ihm mit moritatenhaften Mitteln, Holpersprache, klischierten Bildern, freiwillig-unfreiwilliger Sprachkomik beizukommen wäre. Auch entspräche die (wenn auch gespielte) Naivität nicht dem Bewußtseinsstand unseres Jahrhunderts. Aber was, wenn diese gespielte Naivität – gleich: vorgegebene Unschuld und eingebildetes Wissen – der allgemeinen Unbeholfenheit vor dem Thema entspräche?
Das Gedicht ist so trostlos wie alle Kunst, die, unsere Art betrachtend, nichts besser weiß als Trauer. Das ist das Tröstliche. Das Untröstliche ist, daß wir bemerken, mit und ohne Leichenwäscherin, daß wir längst vom Fach sind. Blutbäder als Reinigungsverfahren und Unschuld als Waschmittel sind schließlich unsere Erfindungen. Besetzungsschwierigkeiten wird es mit uns nicht geben. Oder doch?

Peter Maiwaldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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