Peter Pabisch & Achim Thyssen (Hrsg.): Die Wiener Gruppe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Pabisch & Achim Thyssen (Hrsg.): Die Wiener Gruppe

Pabisch & Thyssen (Hrsg.)-Die Wiener Gruppe

DIE WIENER GRUPPE UND DIE MODERNE DEUTSCHSPRACHIGE DIALEKTLITERATUR

Als H.C. Artmann 1953 seinem Freund Gerhard Rühm die ersten Dialektgedichte zeigte, war dieser begeistert. Gemeinsam versuchte man – im Stadium des sprachlichen Experimentierens und auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten −, die verwendbaren Eigentümlichkeiten des Dialekts zu registrieren: seinen klanglichen Reichtum, die Unmittelbarkeit des Ausdrucks und die mögliche Neuwertung der Worte durch Verfremdung / … /. In der schwoazzn dintn kann man einzelne dieser Bemühungen sehr genau verfolgen, / etwa in der phonetischen Schreibung von: „malfuanauman, unhamlex, aa wossaresawaa, wachaualawaln, qaglschduazz, libhazzdoe, bopöbam, bozwach, diadafalbeowochtn…
Kurt Treiber bietet in diesem Zitat aus seinem Aufsatz in der Wiener Jahresschrift protokolle 69 jene Beobachtungen an, die eine Kernnomenklatur von historischen Bezügen und Begriffen um die Entstehung und das Wesen der modernen Dialektliteratur erkennen lassen. Es empfiehlt sich daher, sie näher zu umreißen.
Da fällt zuerst die Nennung des Jahres 1953 auf, ein wichtiges Jahr in der deutschen, ja internationalen Literaturbewegung hinsichtlich des Begriffs CONCRETE POETRY oder KONKRETDICHTUNG. Eugen Gomringer gilt dafür im wesentlichen als Gründer, doch reicht sein Anhang in über zwanzig Länder der Welt von Europa bis hin nach Japan, Kanada, die U.S.A., Chile und besonders Brasilien, wo die Brüder Haraldo und Agosto de Campos sowie Decio Pignatari gleich zu Anfang der Bewegung mit Gomringer in der Schweiz bzw. in Ulm korrespondierten. Diese Phase entspricht der Zeit, die Alfred Treiber „das Stadium des sprachlichen Experimentierens“ nennt, worauf sich auch sein Hinweis auf die „Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten“ begreift. Der Dialekt eröffnet dazu eine wahre Schatztruhe an quasi naturhaften Eigentümlichkeiten, die zum Teil ungenutzt im literarischen Boden lagen. Es sollte aber noch fünf Jahre dauern, bis das Großereignis der Herausgabe von H.C. Artmanns med ana schwoazzn dintn im Jahre 1958 jene literaturhistorische Wende einleitete, die im folgenden Vierteljahrhundert zur Dialektwelle anschwoll. Diese Welle mag zwar ihre Springflut hinter sich haben, schwappt aber noch heute in den (deutschen) Regionen mit neuen literarischen Vorzeichen plätschernd weiter. Das gilt für den literarischen Primärbereich sowie für die Einrichtung mehrerer Forschungsinstitutionen, unter denen das Internationale Mundartarchiv „Ludwig Soumagne“ heute eine führende Stellung einnimmt. Die Dialektwelle war nur eine, wenn auch die rezeptionell weitaus erfolgreichste von vielen Spielarten, weil am Ursprung jener umwälzenden Veränderungen viele Eisen des revolutionierten Genres Lyrik im Feuer lagen: Man denke allein an Artmanns irische Gebete, an seine Gedichte in Barockmanier, seine Verbarien; man denke ferner an Gerhard Rühms und Ossi Wieners frühe Computergedichte oder an Konrad Bayers vielgestaltige Textvariierungen, allen voran die Montage. Die Werke kamen spätestens 1958 und 1959 zum erstenmal auf den Buchmarkt und erstaunten eine eher kleine, wenn auch literarisch versierte Leserschaft, sieht man von den Dialektgedichten ab, die einen Sturm entfachten. Ein paar Kostproben dieser Spielarten zu Gehör gebracht, verdeutlicht die von Alfred Treiber erwähnte „Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten“, die öfters auf ältere Sprachtraditionen aufmerksam macht.

1. Aus Artmanns verbarium wähle ich zunächst die vierte der „sieben lyrischen verbarien“, die auf das Jahr 1954 zurückgehen. Die ,Verb-Arien‘ leitet ein Motto ein, das das humanpolitische Credo Artmanns und der Wiener Gruppe entdeckt. Die Autoren gehören allesamt zu den überzeugtesten Antimilitaristen und versäumten keine Gelegenheit, ihrer Umwelt den Spiegel zum unentwegten Kriegsgeschehen vorzuhalten – und dies stets im Eingedenken an die verheerenden Folgen des zweiten Weltkriegs, den sie alle auf die eine oder andere Weise als Kinder und Jugendliche miterleben mussten:

auf dem kleinen friedhof in
der nähe des befehlstandes
von general de castries,
setzten gestern die französisch-
vietnamesischen truppen
ihre gefallenen bei, die
in fallschirmseide gehüllt
worden waren, weil es in der
festung keine särge mehr gibt.

/weltpresse, 28.4.54./

Dieser Durchblick auf eine konkrete Lage, in der sich die Welt der damals jungen Dichter befand, markiert ihre Sorgen und Zweifel, obwohl sie direktes Engagement im Allgemeinen vermieden. Man erinnert sich noch an Artmanns direkten Protest gegen die Gründung eines österreichischen Bundesheers 1955/56. Ihre Welt fordert sie zu einer wohl nie politischen Literatur heraus, die in facettenartigen Momentworten und -wörtern das verwirrende Geschehen einfängt oder anscheinend ignoriert; die gereizte Wortwahl belegt diesen Anschein durch radikale Veränderung der Sprachtradition:

4.
klimatisch
injiziert
geregelt
bereist
erschwommen
kalender in
gipshaut
bereift mit
astronomen
erfüllter
skandal
adjektiv zum
selbstmord
geinselte
blume
bemustert mit
geigen
telegramm an
luxor und
maulbeerkaskade
kalbsbaum der
nieren
steinwurf
beseeltheit
orkanfrau
sehnerv
baikal
geschnarrte
laterne
salzblau
bepfiffen
kataster
hortativ

(HCA. Verb.25)

Wortergüsse, nur krampfhaft zusammenhängend, an Schlagzeilen und Slogans entfernt erinnernd (klimatisch, baikal, bereist, bemustert mit, skandal, bepfiffen), verloren wirkender romantischer Wortschatz (blume, beseeltheit), wissenschaftliche und medizinische Hinweise (injiziert, astronomen, adjektiv zum, sehnerv, kataster, hortativ), vielleicht die eine oder andere touristische Werbung (luxor und, maulbeerkaskade), verzweifelte Drohungen (selbstmord) dringen zerstückelt, nicht mehr definitiv vor, sondern andeutungsweise, ja zusammenhanglos. Diese Entfremdung gegenüber der Erfahrungs- und Sachwelt, wie gegenüber der literarischen Tradition – sieht man von der Moderne der ersten Jahrhunderthälfte ab – stiftet absichtlich Verwirrung, fordert daher Ablehnung beim Leserpublikum heraus. Der zeitgenössische Schweizer Autor Peter Bichsel hält demgemäß im Nachwort zu diesem Gedichtband fest: „Das sind gute, schlechte und schlichte Gedichte von H.C. Artmann… die guten sind die, die gefallen: die schlechten die, die nicht gefallen; und schlicht habe ich noch dazu geschrieben, um den Leser vor voreiligen Urteilen zu warnen“… (HCA. Verb.91). Entsprechen die Verbarien der frühen, sprachreduzierenden Phase im Sinne der Konkretdichtung, so entlehnt Artmann auch bekannte Formen verfremdend parodistisch.

2. Die „treuherzigen kirchhoflieder“ im gleichen Band legen die Auseinandersetzung Artmanns mit barocker Literatur vor. Seine Studien (zuweilen an der Österreichischen Nationalbibliothek) führen ihn in das dem 20. verwandte 17. Jahrhundert, das durch den Dreißigjährigen Krieg und viele Epidemien die Todesnähe stets ins Bewußtsein rückt:

o tod du dunkler meister
du gallenbittres elexier
du zugereister harpunier und gott
du mond voll blinder augen
du rosenzwerg im hinterhalt
du spinnenturm du spinne
du punkt zum abgethronten leben
o tod du schwarzer meister
verschone uns
vor deinen spröden särgen
zerbeiß uns nicht das hirn wie glas

(HCA. Verb.36)

Die ernste Thematik wird von einem einfallsreichen Wortfeld mit gelungenen Fügungen getragen, läßt aber jene ironisch-satirische Note anklingen, die u.a. Artmanns Dialektdichtung auszeichnet. Da liegt etwas Verschmitztes unter der Oberfläche, wie in jener Rollendichtung von med ana schwoazzn dintn, die das poetische Ich den dichterischen Intentionen als Marionette unterwirft. „Nua ka schmoezz ned“, kein philisterhaftes, weinerliches Selbstgefühl soll die Botschaft trivialisieren. Nach traditioneller Forschersprache könnte man von einer Forderung zur ästhetischen Distanzierung sprechen.

3. Selbst in Artmanns Übersetzungen der altirischen Gebete verbirgt sich sein Sprachulk, der nicht wörtlich zu nehmen ist, da er das naive Denken eines frommen, zum Christentum bekehrten hier keltisch-irischen Bauernvolkes karikiert und nicht historisch zeichnet:

gesegneter SANKT HERBOT, lieber herr,
ich bitte dich, ich will nicht mehr,
nicht weniger, doch halt uns alle frei
vor mißwachs und vor rinderpest.
und soll ich nächstes Jahr noch leben,
will ich mein jüngstes kalb dir geben!

Wir erinnern uns hier an Treibers Hinweis auf „die mögliche Neuwertung der Worte durch Verfremdung“, auf „von Wiederholungen, Behauptungen und Phrasen geprägten Redensarten“, wie Gebete sie enthalten können und gleichzeitig, allen Sinnes entleert, hülsenhaft benutzen. Der Dichter weist mit dem Einsatz des Gebets als Stilmittel auf naiv menschliche Gesten hin, wie etwa hier auf das Tieropfer. Die irischen Gebete Artmanns sind zudem von ihm umgewirkte Übertragungen und keine neutralen Übersetzungen. Die Ironie liegt darin, dass der Mensch seine Nöte und sein Schuldgefühl durch mythische Traditionen zu lösen versucht und nicht durch zeitgemäße Mittel; diese Erkenntnis läßt sich am einfachen Dialektsprecher darstellen. Durch den Einsatz des Dialekts wird neben dem „klanglichen Reichtum“, der köstlichsten und oft von schnaderhüpfelnden Dialektdichtern mißbrauchten Dialekteigenschaft, die „Unmittelbarkeit des Ausdrucks“ gesucht. Darunter versteht man den literarischen Begriff der „Verisimilität“ (englisch: „verisimilitude“), eine Wiedergabe oder Nachahmung des unmittelbaren Sprechens von Menschen oder Rollen solcher Menschen, die der Standardsprache nicht mächtig sind oder die sie nicht sprechen wollen (man vergleiche dazu die heutige deutsche Schweiz, wo eine Verkehrsform des Schwyzerdütsch zur vorherrschenden Sprachart herangereift ist). Der Begriff ,Verisimilität‘ erhellt weiters den Wunsch der Dichter, ihrer Sprachregion klanglich zu entsprechen, ein Wunsch, der bei deutschsprachigen Autoren spätestens seit Johann Gottfried Herders Forderungen zur Pflege der Natursprachen erfüllt wird. Die Dialektbewegung des 19. Jahrhunderts bezeugt diesen Umstand hinlänglich. Dass der Dialekt im Deutschen oft zur spöttischen Charakterisierung bäuerlicher Menschen eingesetzt wurde, verhinderte seine Gleichberechtigung zur Literatur der Hochsprache und mündete – trotz dieser Haltung überzeugend entgegengesetzter Beispiele von Fritz Reuter oder Johann Peter Hebel zu Klaus Groth, Karl Schönherr oder Peter Rosegger – in literarische Nebengewässer, denen sich die germanistische Forschung, es sei denn im rein Dialektologisch-Linguistitischen, bis vor zwei Jahrzehnten kaum widmete.
Die Vertreter der Wiener Gruppe griffen den Dialekt als eine Sprachform von vielen wieder auf, aber nicht aus Gründen der Heimatliebe, da sie eher einen kaum hundert Jahre alten Soziolekt einsetzten, der als Wiener Jargon bezeichnet wird. Für sie galt der Sprecher dieses Jargons, eine dem Bayrisch-österreichischen durch slawische, meist tschechische Akzenteinflüsse entfremdeten deutschen Sprachtyps, als Urbild des Vulgären, Ungebildeten, ja Abstoßenden und Häßlichen. Nichtsdestotrotz konnte der Vertreter der entsprechenden Gesellschaftsschicht, der Nachfahre eines ursprünglich tschechischen Fremdarbeiters, durch den Soziolekt und nicht durch hochsprachliche Stilmittel glaubhafter parodiert werden. Die langgezogenen, dem Hochdeutschen gegenüber diphthongierten, zum Teil noch bayrischösterreichischen Vokale (,oa‘ für ,a‘ oder ,ua‘ für ,u‘) und die zu Monophthongen gequetschten hochdeutschen Diphthonge in ,ä‘ (für ,ei‘) und einem ,o‘-ähnlichen Laut für ,au‘unterscheiden dieses slawisierte Wienerisch von den historisch wesentlich älteren dialektlichen Sprachtypen der Alpenbevölkerung, die nach Wien eingewandert war oder in den Außenbezirken von Wien nicht selten noch heute wohnt. Dazu gesellt sich in einigen Gedichten das eher nasale Schönbrunnerdeutsch des ehemaligen österreichischen Adels und der gehobenen Bürgerschicht, das ein Missingsch aus Hochdeutsch und Umgangssprache(n) repräsentiert. Alle diese Sprachvarianten waren den Dichtern der Wiener Gruppe bewußt, doch richtete sich ihr Spott zunächst auf das erwähnte vom Slawischen getönte Wienerisch. Beispiele dafür sind Gerhard Rühms lautmalende Experimente, etwa seine „lautgedichte im wiener dialektidiom“:

uasch eissd ba gloggn
babe eiggs schdrunggn
schleaggn bra unzn
anzn bre schlunggn
gloggn be eissn
ebm na bebm ne uoasch

gloggn gloggn

Ähnlich wie in den übrigen Arbeiten der Konkretdichtung, zu der die neue Dialektdichtung in ihren Anfängen zu zählen ist, könnte man nur assoziativ auf (hier fäkalische) Sachverhalte einzelner Klangfügungen schließen (uasch eissd, bra unzn, be eissn, uoasch). Das von Helmut Heißenbüttel einst erwähnte Prinzip der Unsicherheit erklärt eine definitive Auslegung von Konkretdichtung als unsinnig, wenn auch Sinn in ihrem Einsatz an sich liegen mag – z.B. in der Absicht nach radikaler Spracherneuerung.
Einen Schritt weiter als Rühm geht Friedrich Achleitner in seinen Klangprägungen, da sie erkennbare Fügungen im oberösterreichisch-bäuerlichen Dialekt des Innviertels („obdaennsa“) vertreten. Er konstruiert sie aber in der Manier der Konkretdichtung, wiederholt Anredeweisen und schöpft ihr Klangidiom durch stereotype Überbetonungen aus (hrb, S. 21):

bfiaddö fraonz
kaddö bfiaddö

fraonz bfiaddö
bfiaddö kaddö

bfiaddö fraonz
bfiaddö kaddö

fraonz bfiaddö
kaddö bfiaddö

Die gedichta des H.C. Artmann in hosn rosn baa und in med ana schwoazzn dintn beziehen ihre Ein- und Ausfälle aus einem großen, weltliterarischen Reservoir, das eine humanisierte Empfindungssphäre berücksichtigt, die den Leser seiner Dialektgedichte aus welchen vom Dichter auch immer gewünschten oder ungewünschten Gründen begeistert und hinreißt. Das Erscheinen von med ana schwoazzn dintn löst die neue Dialektwelle mit Knalleffekt aus. Artmann verschafft damit seiner bis dahin verkannten Autorengeneration die Anerkennung der literarischen Öffentlichkeit. Der Erfolg fordert geradezu die Erweiterung des Begriffs „Wiener Gruppe“ auf eine Ära und nicht auf den Fünferpersonenkreis Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener heraus, auf den Gerhard Rühm in seinem bisher in zwei Auflagen erschienenen Band Die Wiener Gruppe wie drängend einengt. Eher gilt heute die pauschale Auffassung Wolf Wondratscheks, der in seinem Gedicht „WIEDER EIN WIENER“ aus den achtziger Jahren am Beispiel Ernst Jandls den großen Kreis der Erneuerer anerkennt, indem er mit den Zeilen schließt:

Seither sind viele Jahre vergangen,
Von vielem aber, was vergangen ist, sagt man
doch: damals in Wien hat es angefangen.

Der ambivalente, teils vage, teils einsichtige Begriff „Wiener Gruppe“ für die fünfziger und sechziger Jahre setzt sich danach in dem bald heftig propagierten, von Alfred Kolleritsch stammenden Begriff der „Grazer Gruppe“ fort. Trotz der Ortsveränderung hütet sie die Ideen der „Wiener Gruppe“ weiter, und zwar sowohl im „forum stadtpark“ wie in der „Grazer Autorenversammlung“ (die Ernst Jandl und H.C. Artmann 1973 als österreichischen Anti-P.E.N. mitbegründeten). Artmann hielt in einem Gespräch am 14. Mai 1994 wieder einmal klar fest, dass er selbst keiner Gruppe angehört habe, sich aber zu den Ideen jener Aufbauphase in Wien voll bekenne. Für ihn gelte die Freundschaft mit den vier engsten Mitarbeitern, wie er sie in Nachrichten aus Nord und Süd erwähnt, rein persönlich:

ein so ein schmarrn sage ich mir der ich nicht einmal
an die sogenannte
wiener gruppe glaube und gerhard sitzt
in köln am rhein un der ossi in berlin an der spree und
der fritzl achleitner zu wien an der wien und konrad
beherrscht wie ein dunkler könig die blühende region
seines grabes in hernals draußen.

Unmittelbar nach dem Erfolg des Bandes med ana schwoazzn dintn fühlte sich eine Schar von heute berühmten Wiener Autoren ermutigt, Dialektgedichte zu publizieren. Die protokolle 69 bringen Dialektgedichte von Friederike Mayröcker aus den Jahren 1958/59 unter dem Gesamttitel „SO A BABIA ROSN“, von Gerhard Rühm aus den Jahren 1954-58 unter „I SOG EICH“, von Peter Matejka „FlAN SEPP UND SEIN BMW“, von Ernst Jandl aus den Jahren 1957 bis 1968 unter dem konkreten Titel „DIE ER LECKT“, sowie die einzigartigen Fügungen aus den sechziger Jahren von Alfred Gesswein „RAMA WOIMA“, von Josef Mayer-Limberg „SAMAS“ und von Ernst Kein „AUN JEDN SUNDIGNAUMIDOG“. Mit den drei letztgenannten (Kein war allerdings schon seit den Anfängen dabei) befinden wir uns bereits in der aufkommenden Dialektwelle, die so weit über Wien hinausgeht, dass nicht selten danach ihr Ursprung in anderen Regionen in Vergessenheit geriet oder nie bedacht wurde. Artmann selbst wollte nach kurzer intensiver Beschäftigung mit dem Dialekt länger nichts mit ihm zu tun haben, da man ihn als Volksdichter in die Einseitigkeit drängte. Die zitierten protokolle 69 bringen auch Dichtung von ihm, etwa die unterhaltsame Dialektballade „i bin a bluatbankdirekta“. Hauptsächlich aber stellen sie seine nicht minder anregend zu lesenden, doch hochdeutsch verfaßten Prosatexte „Überlieferungen und Mythen aus Lappland“ vor. In späteren Jahren las Artmann gelegentlich aus seiner Dialektdichtung vor, aber produzierte sie nicht mehr Wie typisch für sein Gesamtwerk, prägt er sukzessive neuartige Stilmittel, ja verweist des öfteren vehement darauf, dass ihm kein besonderer Stil eigne. Er überrascht seine Leser durch diese literarischen Verwandlungen, von denen die Dialektphase zwischen 1958 und 1960 die nach Maßstäben der Rezeption populärste geblieben ist. Andere Dichter aus der Ära „Wiener Gruppe“ wandten sich ähnlicherweise neuartigen Stilmitteln zu und fanden zuweilen (welt)weite Zustimmung, denkt man an Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.
Später auftretende Autoren, wie die erwähnten Gesswein, Mayer-Limberg und Kein, darf man zu den Mitstreitern auf der Dialektwelle rechnen. Was gefällt an ihrer Dichtung? Was teilt sie mit anderen deutschen Vertretern der Dialektwelle? Worin liegt ihr direktes Erbe aus den Anfängen von der Ära „Wiener Gruppe“? Ich fasse zuerst noch einmal aus Alfred Treibers Aufsatz in Punkten sinngemäß das zusammen, was er, und danach die Forschung im Allgemeinen, als die Leistung der „Wiener Gruppe“ für die moderne deutsche Mundartdichtung sieht:

A) Den historischen Ursprung aus dem Stadium der Konkretdichtung „auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten“.
B) Den klanglichen Reichtum des Dialekts.
C) Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks.
D) Die inhaltsgebundene Seite der neuen Dialektdichtung – von Parodie und Satire über das gesellschaftlich-politische Engagement zur direkten Empfindungs- und Gedankenäußerung.

Ad A) Der historische Ursprung: Damit manifestiert sich der Zusammenhang dieser neuen Mundartdichtung mit der Moderne unseres früheren Jahrhunderts, zu der die Phase der Konkretdichtung nach jüngerer Forschung ein postmodernes Verhältnis aufweist. Das Einbeziehen von neosurrealistischen Unsinnsfügungen und neodadaistischen Lautmalereien in die frühe Phase der neuen Dialektdichtung in den fünfziger Jahren liefert vordergründige Beispiele dieser Abhängigkeit. Hintergründig versteckt sich das scharf sprachkritische Element an der hergebrachten Literatur und daher an der traditionsgebundenen Dialektliteratur in der Sprachumwertung aller Sprachwerte. Als Ursachen dafür hat man nicht nur an die historischen Katastrophen zweier Weltkriege zu denken, sondern an die Gesamtentwicklung des technischen Zeitalters, das – um nach Herbert Marcuse zu urteilen – der Weltzivilisation ein gleiches Maß an technischen Vor- und Nachteilen gebracht, dabei aber auch das gesamte Weltbild verändert hat. Das sollte und mußte auch eine Veränderung des Sprachgebrauchs ergeben, was wieder einmal auf Erich Hellers berühmtes Zitat des Kungfutze lenkt, das der in den U.S.A. verstorbene Germanist im Zusammenhang mit Karl Kraus und Spracherneuerung hervorhob:

Man fragt Kungfutze einmal, womit er beginnen würde, wenn er ein Land zu verwalten hätte: „Ich würde den Sprachgebrauch verbessern“, antwortete der Meister, „Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man keine Willkürlichkeit in den Worten, Das ist es, worauf alles ankommt.“ Das war es, worauf auch dem Wiener Satiriker Karl Kraus alles ankam.

Die historische Komponente über Karl Kraus zu denen nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich in meinem Buch zur deutschsprachigen Lyrik 1945 bis 1980 näher behandelt. Die literarische Dialekttradition spielte zwar in der nachfolgenden Entwicklung der modernen Dialektliteratur eine Rolle, gab aber den experimentierenden Autoren der Wiener Gruppe weder Anlass, noch bot sie Bezug zu ihrer ursprünglichen Dialektproduktion.

Ad B) Der klangliche Reichtum des Dialekts wird in der neuen Mundartdichtung durch graphemische Schreibweisen so wiedergegeben, dass sie sich mit der Aussprache decken. Das Verfahren der Schreibung wurde angeblich von Achleitner und Rühm entwickelt, was sie in der Einleitung zu hosn rosn baa erklären. Sie verzichteten dabei auf Hilfszeichen und beschränken sich auf das herkömmliche Druckeralphabet. Die gesamte Mundartbewegung folgte diesen Vorschriften mit wenigen Ausnahmen, etwa Alfred Gulden. Er wurde von einem Linguisten seiner Region zur Hilfszeichensetzung für einige seiner Vokale überredet. Vorteile für die im Schreibung im herkömmlichen Schreib- und Druckverfahren liegen sowohl im ökonomischen, da die Druckkosten entsprechend billiger bleiben, wie im angewandten Bereich der leichteren Schreib- und Lesbarkeit. Was sich in der Entwicklung der modernen dialektsprachlichen Literatur dabei als köstlich entpuppt hat, sind die zuweilen ebenso gelungenen, wie grotesk aanmutenden Buchstabenbilder, die bezeugen, dass die Dialektschreibung sehr vom individuellen Autor bestimmt wird. Dazu ein paar Beispiele aus den Regionen. Zunächst sei noch einmal auf die anfangs zitierten Wörter aus dem Wiener Dialektidiom erinnert: malfuanauman, wachaualawaln, qaglschduazz, etc.
Die berühmte Mundartliterarische Reihe, die so verdienstvoll von Bernd Doerdelmann in Rothenburg ob der Tauber 1965 begründet und etwa 15 Jahre geleitet wurde, und die seither der Verlag van Acken in Krefeld weiterpflegt, hält sich an das Format von med ana schwoazzn dintn. Alle rund 30 Werke dieser Reihe stellen die Gedichte je eines Autors in der neuen Schreibung vor, fügen ein Glossar an und schließen eine 33cm-Schallplatte oder eine CD ein, auf der der jeweilige Autor eine Auswahl seiner Gedichte liest. Aus dieser Auswahl habe ich vierzehn auffallende Schreibbeispiele ausgewählt:

1. Alfred Gesswein, Wien:
rama dedadns / gramd hedadns

2. Albert Janetschek, Wiener Neustadt:
a göwwe grawadn / glaumsmas

3. Eugen Oker, Oberpfalz:
fadüinsdenggang
houchwassrendscheedichung

4. Hans Haid, Ötztal-Tirol:
ploosmusig spiiln
oongsöüfnr jöüdlen

5. Fitzgerald Kusz, Landnürnberg:
umänandäzigainern
wousd moxd

6. Wilhelm König, Schwaben:
faefazwanzg Joor Betriibstreie

7. Wilhelm Staudacher, Rothenburg ob der Tauber:
rum-ume-dum
klukl lukl-lukl lukl-lukl-lukl

8. Alfred Gulden, Saarlouis:
em duuschda Donkel
em Fenschta dren

9. Julian Dillier, Obwalden:
Aber fir die Meebesserä
isch nyd verbottä

10. André Weckmann, Unterelsaß:
de ufwaschlumbe vorem

11. Oswald Andrae, Jever:
un dör
Möhlenflögelribben

12. Walter A. Kreye, Bremen:
se dreiht
un dreiht,
un wunnerwarkt

13. Peter Kuhweide, Westfalen:
Mer dat sin Rüen us de Bohrmealk süpt
un de Loopkatte ankäfft wie bestußt

14. Ludwig Soumagne, Norf bei Neuss:
et Esse stung schon op em Dösch

Diese wenigen Beispiele belegen das riesige Klangreservoir deutscher Dialekte und die entsprechende buchstäbliche Farbenpracht der jüngsten Dialektliteratur. Die Freude am Klanglichen findet in den zeitgemäßen Inhalten Ergänzung und belegt den Ausgangspunkt der Dialektliteratur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ad. C) Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks kann zwar in der traditionellen Dialektliteratur gelungen geprägt werden, doch zeigt das veränderte Wortfeld Unterschiede in der Moderne. Diese relative Zeitgemäßheit dringt exemplarisch in Fitzgerald Kusz’ groteskem Soziolektgedicht durch, das die deutsche Soldatenbraut eines Amerikaners verulkt:

BESATZUNGSGEDICHT
mai honeylä
when you come am sunndooch
I bake dä enn xundheidscake
when you ned come
I cry mai bed full

Die grammatikalisch ungeregelte, hilflos wirkende Erhebung menschlichen Fühlens in den Sprachraum erreicht hier einen hohen Grad an Unmittelbarkeit. Die Versimilität in diesem Stileffekt bezeugt die Anpassungsfähigkeit der Dichter, die oft mehrere Glossien des Deutschen beherrschen und dadurch den Eindruck des Unmittelbaren gelungen wiedergeben können. Derarte Beispiele verbinden sich mit dem vierten Punkt, der die moderne Dialektdichtung klar von älterem Literaturschaffen trennt.

Ad D) Die inhaltsbezogene Seite der modernen Dialektdichtung – von Parodie und Satire zur politischen, etwa ökologischen Kritik, zur direkten Empfindungs- und Gedankenäußerung, zeigt jenen Weg auf, den die gesamtdeutsche Literatur nach 1945 einschlug. Aus der extremen Phase der Sprachskepsis der fünfziger und sechziger Jahre eröffnete sich wieder ein breiterer Weg mit den politischen späten sechziger und den siebziger Jahren sowie der neuen Empfindsamkeit in den achtziger und neunziger Jahren; dabei fordert die Literatur nach der politischen Wende von 1989 zum Teil ein eigenes Kapitel.
Die Dialektliteratur löste sich rasch von ihren Anfängen aus der Wiener Gruppe ab und wurde sehr bald eigenständig, wobei sich die einzelnen deutschsprachigen Regionen in meist unabhängiger Entfaltung bewährten. Besonders fällt dies in der Schweiz und im Niederdeutschen auf, wobei dort die Bevölkerung den Aufschwung mitbetreibt, hier aber der Autor isoliert in einer fast aussterbenden Sprache schreibt. Was die Forschung interessiert, sind neben den Inhalten auch die Stilmittel. Unter den Genres behauptet sich die Lyrik bei weitem; dazu zählen auch die Texte der Liedermacher. Danach findet sich Dramatisches, etwa von Peter Turrini und Franz Xaver Kroetz, deren Werke zuweilen die Weltbühne eroberten. Hierher sind regionale Erfolge zu zählen; besonders die Lesestücke und Einakter von Ludwig Soumagne. Am unauffälligsten setzt sich die Dialektliteratur in der Prosa durch, obwohl Romanwerke und kürzere Prosa von Schweizer Autoren zu dem Münchner Bernhard Setzwein, dem Schwaben Wilhelm König, den Banatern Ludwig Schwarz, Hans Kehrer und Nikolaus Berwanger, der Wienerin Christine Nöstlinger oder dem Norddeutschen Oswald Andrae (Strand der verlassenen HäuserWundersame Träume und Erlebnisse) verfasst wurden.
Ich möchte mich in der Betrachtung des Inhaltlichen auf die Lyrik beschränken, weil das literarische Gesamtgebiet aller Genres auf reduziertem Raum nicht hinlänglich darzustellen ist. Trotz der bewiesenen Beziehungen der Autoren der Wiener Gruppe zur Entstehung der modernen Mundartdichtung ist das direkte Leitbild nur in H.C. Artmann zu erkennen. Sein Erfolg liegt in der Kunst, seine Literatur in glaubhafte Stilmasken zu gießen, die, wie schon erwähnt, selbst älteste Stilmuster lebensecht vortäuschen, obwohl sie parodierendes Sprachspiel sein wollten. Er zehrte dabei von einer Wiener Tradition des Satirischen, das auf der Volksbühne über das Kabarett, zu Karl Kraus, Johann Nestroy und den Hanstwurstiaden des Stranitzky zurückreicht und im Wienerlied derben, doch treffenden Fortbestand bloßlegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte das Wiener Kabarett unter Hugo Wiener, Cissy Kraner, Georg Kreißler, Gerhard Bronner, Peter Wehle (der übrigens zwei Wörterbücher der Wiener Jargon- und Gaunersprache verfasste), Carl Merz und Helmut Qualtinger zu großen Erfolgen auf. Lieder, wie das vom ,Nowak‘ oder vom ,G’schupftn Ferdl‘ eroberten den gesamten deutschen Raum. Die tiefenpsychologische Anlage des Sadisten-Masochisten-Verhältnisses im ,Nowak‘, wie die Charakterisierung des von alliierter Kultur überfluteten, befreiten homo austriacus im ,G’schupftn Ferdl‘ findet bei Artmann ironische Anspielung und wortspielerische Auflösung in Balladen – wie die bekannte ,i bin a ringlgschbübsizza‘ oder die weniger bekannte ,i bin a bluadbankdirekta‘; sie möchte ich vorstellen:

I BIN A BLUADBANKDIREKTA
und woat auf an drakula
und ee ich mich fersonnen
is aa schon ana da!
Er zupft aun seim zilinda
wünscht mia an guatn daug
und frogt mi so von om herop
ob ich feakauffm maug
si sind ein weata kunde
herr grauf von drakula
eadönt s aus meinem munde
wozu bin i denn da..
das bluad sumd in d konseafm
gibt op an xundn drunk
fia mogre und fia blade
fia oed und auch fia junk

wos kost dea gaunze grempl
wos kosts in bausch und bong?
hot s auch an güteschtempl?
Ich wead net gean betrong!
Mei liawa hea und grof sog i
bei mia do gibt s kann schmoan
i hoet doch meina söö sog i
de kundn ned zum noan!

Daun sind s so guat sogt mia da grof
gern s hea a kleine brob
an frischn schluk fon jena soss
wean seng ob ich si lob −
darauf nim i das zangal hea
und zwik ein zoates loch
damit dem loch entquöll des bluts
der kunde heischt es doch..

alein wos i a zwik und bua
es quilt kein blud heafoa
wos aussakumd is nua r a gschdaunk
mia dreibt s de hoa empoa!
de bluadkonseafm de woa geschdogt
oes wia r a xöchte blunzn
o blud o blud wia kaunzt du nua
ein gscheft mia so farhunzn?

da grof ziagt seine nosn graus
ea fröstlt in di gleida
ea schaud oes wia r a gschbima aus
und meint blos: leida leida
wan iner bank ferdorbm is
wüntsch ich mia inre odan
hea mit n hoes und frisch gesaugt
i wüü net fü soebodan!

und gleich darauf in söm moment
do woxxn eam zwaa muazzdrum zent
mei liawa freind do bin i grent
des gscheft woa mia zu gfealech
do gee r e liawa z fuas auf d hend
des sog a da gaunz ealech!!
mei bluad kead mia nua mia r alaa
und ned dem grofm drakula!

Alle vier Forderungen für gelungene Dialektdichtung der Moderne kommen hier zum Tragen: die satirische Distanzierung einer surrealistischen Mythologisierung im Drakulastoff; das klangliche Gemisch aus Wiener Spracharten – vom Dialekt zum slawisierten Wienerisch zum Schönbrunnerdeutsch; die konversationsartige Unmittelbarkeit des Ausdrucks, irgendeiner alltäglichen Kaufszene sublimiert entliehen; und das sprachliche Kunstwerk der Bilder – ,do gee r liawa z fuas auf d hent‘ – das den surrealen Inhalt phantastisch und trickreich vor Augen führt. Selten kommt bei Artmanns Dialektdichtung die in diesem Beispiel eingehaltene gereimte Balladenform vor; außer im Lied (der Liedermacher) zeigt die Dialektwelle VERS LIBRE.
Nachfolgende Dialektdichter übernehmen die satirische Gestaltung Artmanns, man denke an Fitzgerald Kusz, Gerhard C. Krischker, Kurt Sigel, Eugen Oker, Felix Hoerburger oder zum Teil Alfred Gulden und Ludwig Soumagne. Auffallend wendet sich die neue Mundartdichtung der politischen Lyrik von der Art der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre zu, worin es oft um die Rettung der Heimat geht, einer Heimat, die aber meist an den Immobilienmarkt, die Industrie oder den Tourismus verloren ist. Als Leitgedicht dazu könnte Walter A. Kreye „MIEN DÖRP“ gelten:

Ich heff
mien Dörp söcht
un nich
wedder funnen;

de INTERBAU
weer vör mi dor.

Die Losung dieses Gedichts gegenüber einer ausgelöschten Traditionswelt, eines radikalen Heimatverlusts dringt in solch auffallenden Dichtungen durch wie in Oswald Andraes HOPPENRÖÖK GEIHT ÜM, in Bernhard C. Bünkers DE AUSVAKAFTE HAMAT oder in Hans Haids Tirolgedichten, die ihm den Schimpf „Nestbeschmutzer“ einbrachten. Sentenzen dieser kritischen Dichtung finden sich weiters bei Wilhelm Staudacher, Wilhelm König, Albert Janetschek, Ernst Kein, Julian Dillier, André Weckmann – er kämpft gegen den Sprachverlust im Elsaß, oder Nikolaus Berwanger, der dem Kommunismus in Rumänien die Stirn bietet. Alle Autoren beachten aber im Sinne der Wiener Gruppe und der Moderne die künstlerische Gestaltung des Literarischen, die sich in Klangbild und Bildreichtum der Sprache ausdrückt und das Belehrende, Warnende und Lehrhafte nicht selten an den Rand rückt.
Zur Gedankenlyrik und der empfindsamen Dichtung, die schon seit Berlingers und Hoffmanns Urwerk der neuen dialektliterarischen Forschung, DIE NEUE MUNDARTDICHTUNG, bei Autoren wie Bernhard C. Bünker, Ossi Sölderer und Ludwig Soumagne geschätzt wird, scheint die Verbindung zur Wiener Gruppe nur noch in den äußerlichen Merkmalen gegenwärtig zu sein. Das Inhaltliche stellt bei diesen Dichtern ein unmittelbares poetisches Ich vor, das öfters zwischen Rollengedicht und persönlicher Empfindung schwanken kann; doch bleibt das Satirische zuweilen erhalten, wie ein Beispiel Ludwig Soumagnes beleuchtet:

hee schingk
alles
en bester Ordnung
zu sin
wat mag
do bloß net
stemme?

Hans H. Reich, der sich als Forscher allumfassend mit dem Dichter beschäftigt hat, stellt im Nachwort zu dem Band USJESPROCHE NÄVEBEE BEMERK, dem dieses Gedicht entstammt, exklamatorisch fest:

Die Aussagenelemente bestehen aus geläufigen Fügungen,
stereotypen Wendungen und längst zum Klischee gewordenen
Bildern. Aber was wird aus diesen Elementen, wenn sie Teil
einer Soumagne-Bemerkung geworden sind! Im kunstvollen
Widerspiel innerhalb des Textes wird ihre
Selbstverständlichkeit aufgehoben, werden Doppeldeutigkeiten
entdeckt, wird /…/ das blaß gewordene Bild in wörtlich zu
nehmende Sprache zurückübersetzt.

Das vertritt in vielem die Auffassung der Dichter der „Wiener Gruppe“ und herrscht in aller Gebundenheit der wesentlichen Ansatzpunkte dieser literarischen Sprachstrategie bei H.C. Artmann vor. „Bemerkungen mit Widerhaken“ nennt Hans Reich ferner Ludwig Soumagnes aphoristische Sentenzen, die zum Denken anregen. Dieser ripuarische Dichter hat innerhalb und außerhalb seiner Dichtung Akzente gesetzt, die zu den Wurzeln aus der Zeit der Wiener Gruppe, wie auch zur Gesamtentwicklung der Dialektwelle einen sinngemäßen Bogen ziehen. Er hat sich in seiner Dichtung nach den Anfängen der Wiener Gruppe orientiert, ohne je Gefolgsmann zu werden.
Er hat dazu vieles getan, um sich und seine niederrheinische Region in das Hauptfeld der deutschen Gegenwartsliteratur zu hieven. So hat es fast keine mit Dialektliteratur verbundene internationale Tagung gegeben, die Ludwig Soumagne nicht besucht hätte. So reiste er 1994 zum Treffen des Internationalen Dialektinstituts (IDI) in Obergurgl, das der ehemalige Präsident und Geschäftsführer Hans Haid mit den Gründern aus 1974 zusammengerufen hatte. Durch die Tätigkeiten des IDI wurde das nach Soumagne benannte Internationale Mundartarchiv in Zons nicht unwesentlich mit angeregt. Und wegen dieser Internationalität hat Soumagne hunderte von Dichtern um sich geschart, die sich in ihrer Vielzahl an der Übersetzung seiner Litanei beteiligten und mit denen er bei sich zuhause, durch Korrespondenz und auf seinen Reisen bis hin nach Amerika bekannt wurde.
Durch die Überreichung des Friedestrom-Preises an den nun verstorbenen H.C. Artmann in den Räumen des Internationalen Mundartarchivs Ludwig Soumagne am 1. Oktober 1994 – in Gegenwart von Friedrich Achleitner – hat sich der Kreis symbolisch geschlossen, indem Ursprung und Anstoß zur neuen Mundartwelle bestätigt sind.

Peter Pabisch

 

 

 

Im Gedenken an H.C. Artmann

Der churfürstliche Sylbenstecher ist am 4. Dezember 2000 gestorben. Seine Verdienste um die deutsche Literatur beginnen mit der Ära der WIENER GRUPPE, die das Internationale Mundartarchiv „Ludwig Soumagne“ in diesem Band zu seinen Ehren beleuchtet. Ohne ihn gäbe es dieses Archiv und viele andere Kulturstätten der modernen Mundartszene gar nicht. Dieses Archiv und der Kreis Neuss verliehen ihm für seine Verdienste im Jahre 1994 den Friedestrompreis, aus welchem Anlass sein Freund Friedrich Achleitner die Laudatio hielt und das Archiv eine Konferenz über die WIENER GRUPPE einberufen hatte.
Die WIENER GRUPPE wurde vor knapp einem halben Jahrhundert insofern ins Leben gerufen, als sich eine antagonistische Ära der Literaturbehandlung etablierte. Das will heißen, dass Konrad Bayer und Gerhard Rühm 1952 H.C. Artmann trafen und seine Anhänger wurden. Friedrich Achleitner und Ossi Wiener gesellten sich bald zu ihnen. Obwohl diese fünf in den gängigen Literaturgeschichten den Kern dieses Gruppengeschehens vorstellen, muss man auch andere Stimmen beachten – vor allem Artmanns eigene, wonach eine Gruppe im etablierten Sinne nie existierte, wie sehr auch Gerhard Rühm in seinem epochemachenden Werk Die Wiener Gruppe diesen Eindruck erwecken und durch eine Photographie, die zufällig diese fünf Spracherneuerer auf dem Titelbild zeigt, stichhaltig beweisen möchte. Artmann hingegen korrigierte diesen Eindruck immer wieder, indem er auf seine eigene Persönlichkeit hinwies, der jedes Gruppengeschehen abhold war. Er bekannte sich jedoch als enger Freund zu den Genannten, mit denen er gerne zusammengekommen war und auch einige Werke gemeinsam herausbrachte.
Tatsächlich spricht man heute von einer Ära „Wiener Gruppe“, die noch bis in die späten siebziger Jahre ausstrahlte und im größeren Wirkungsbereich viele Sprachkünstler und Autoren von H.C. Artmann über Ernst Jandl und Friederike Mayröcker hin zu Thomas Bernhard und Peter Handke einschließen mag. Nach Gerhard Rühm besteht jedoch die WIENER GRUPPE nach 1964, dem Todesjahr Konrad Bayers, kategorisch nicht mehr.
Die fünfziger Jahre zeichneten sich in Österreich und in Deutschland durch scharfe Sprachkritik der Autoren aus, was am herkömmlichen Gesellschaftsleben zu orten ist. Die Autoren bäumten sich geradezu gegen Sitten und Gebräuche auf, was im Sprachgebrauch des Literaturgeschehens befremdende Formen annehmen kann. Während Drama und Prosa formal weniger aus den Angeln gehoben wurden, sieht man von einzelnen Versuchen ab – wie etwa Artmanns Kurzdramen oder Ossi Wieners im vorliegenden Werk besprochenen Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa, ging die Lyrik buchstäblich in Brüche. Die Inhalte spiegeln das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Gesellschaftsbild in allen Genres wider, die Formveränderung fällt jedoch nur in der Lyrik eklatant auf. Wer in jenen Jahren traditionell reimte und gleichmäßige Strophen baute, musste im Inhalt dafür opponierende Gründe finden lassen, sonst galt er als überholt und verschroben. Nur H.C. Artmann lag es als einem der ganz Wenigen, seinen modernen literarischen Ideen öfters traditionelle Masken aufzusetzen, deren er viele beherrschte.
Die offensichtliche Zerlegung der Sprache in Silben und Buchstaben stammte schon von den frühen, ebenso kritisierenden Jahren des 20. Jahrhunderts vom Futurismus und Dadaismus her. Hitler und seine Anhänger verwarfen diese und alle damit verwandten Kunstformen der Moderne bekanntlich als entartet, wenn sie doch einige Elemente für ihre nazistische Gebrauchslyrik zum Teil erfolgreich ausnützten, denkt man an die neue Sprache Stefan Georges, den sie in den zwanziger und frühen dreißig er Jahren sogar verehrten und der 1933 ins schweizerische Exil enteilte. Das Schicksal der Dadaisten und verwandter Künstler endete ebenfalls im Exil oder in von den Nazis erzwungener Isolierung – man denke an den Maler Emil Nolde.
Sofort nach dem Kriege beklagten die Autoren das Schicksal Deutschlands und Österreichs in nüchterner Prosadichtung und düsterem Drama, wie etwa Wolfgang Borchert in Draußen vor der Tür. Die wichtige Gründung der Gruppe 47 führte hierin noch die Feder und versammelte viele wesentliche deutschsprachige Autoren in ihren Reihen, in denen sich sehr bedeutsam zwei Österreicherinnen – gleich zu Anfang Ilse Aichinger und später Ingeborg Bachmann – befanden. Die Autoren der WIENER GRUPPE stellten jedoch auf die neue Epoche um, die man frei nach Ernst Jandl mit ,nicht „humanistä“, nur „terroristä‘“ umreißen könnte. Das humanistische Ideal deutschen Philosophischen Denkens hatte für diese jungen Menschen versagt, der Neubeginn sollte radikal sein. Der Zertrümmerung der traditionellen Sprachkunst ging eine Absage an alle Gesellschafts- und Denktradition voraus, die katastrophaler nicht hätte ausfallen können und in H.C. Artmanns „Goethe verworfen“ (das suchen nach dem gestrigen tag, etc., 1964) seinen programmatischen Ausdruck findet. Die Auswirkung war so gewaltig, dass sich selbst das Literarische Colloquium Berlin 1966 offiziell in die Gedankenlinie einfügte, indem sein Leiter Walter Höllerer alle deutschen Autoren zu verändertem Sprachschaffen aufforderte; war das der Beginn des deutschen Dekonstruktionismus? Das verursachte nämlich verschiedenartige Reaktionen, die, wie gesagt, Thomas Bernhard und Peter Handke in die Führung rückten, aber Ingeborg Bachmanns Lyrik in die Schreibtischlade verbannten.
Die gesungene Ballade feierte große Erfolge, die sich durch alle Jahrzehnte seither verfolgen lassen; im Wiener Nachkriegskabarett Gerhard Bronners, Peter Wehles, Helmut Qualtingers und des Carl Merz erfuhr diese Ballade kreative Höhepunkte – wie Jahre später bei den Deutschen Wolf Biermann und Franz-Josef Degenhardt. Die traditionelle Dichtform travestiert hier revolutionäre Inhalte, die satirisch vorgetragen wurden, und das genügte den zeitgemäßen Anforderungen. Dementsprechend entfaltete sich die moderne Dialektliteratur zuerst aus ihrem musikalischen Sprachanteil, besonders die Neue Mundartdichtung, deren Entdeckung auf Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und H.C. Artmann zurückgeht, indem sie einem entzückten, wie ratlosen Leserpublikum widerständlicherische Ideen in vertrauter, heimatlicher Sprachhülse in die gute Stube trug. Obwohl sich H.C. Artmann zu Rühm und Achleitner bekannte, indem er mit ihnen, die ihm die Idee für den Dialekt gebracht hatten, 1959 das gemeinsame Werk der Wiener Dialektdichtung hosn rosn baa veröffentlichte, war ihm schon im Jahr davor der Epochenwurf med ana schwoazzn dintn geglückt, den für ihn der Wiener Gymnasiallehrer Friedrich Polakovics herausgegeben hatte. Dieses Werk brachte der Arbeit aller Autoren um die WIENER GRUPPE Weltgeltung und fand im Bereich der Lyrik noch in der meist hochdeutschen Konkretdichtung Ernst Jandls, der im gleichen Jahre wie H.C. Artmann verstarb, ebenbürtige Erfolge.
Das vorliegende Werk gedenkt verschiedener personeller und werkverbundener Höhepunkte dieser Epoche sowie einiger ihrer Auswirkungen. Die Beiträge entstanden zum Teil auf einem literarischen Forum der ,Modern Language Association (MLA)‘ im kanadischen Toronto, Dezember 1993, und zum Teil im Rahmen der erwähnten Konferenz in Zons im September 1994. Aus Anlass des traurigen Ereignisses wurden die folgenden fünf Beiträge – drei auf Deutsch und zwei auf Englisch – nachträglich ausgewählt und neu edidiert. Dabei widmen sich drei Arbeiten der WIENER GRUPPE und ihren engeren Mitarbeitern – Jutta Landa, Lori Ingalsbe und Peter Pabisch, während die beiden anderen das Phänomen vom Standpunkt der schweizerischen Neuen Mundartdichtung um Kurt Marti durch Christian Schmid und der Konkretdichtung im Allgemeinen durch Uwe Kliewer hinsichtlich der Auswirkung dieser Ära kritisch betrachten.
Ob H.C. Artmann dieser Auswahl sein „Gut gebrüllt, Levy!“ gewährt hätte, soll hier nicht einmal vermutet werden; das Motto lässt sich jedoch fast ausnahmslos auf sein Werk anwenden.

Peter Pabisch, Vorwort, Januar 2001

 

Inhalt

Peter Pabisch: Die Wiener Gruppe und die moderne deutschsprachige Dialektliteratur

Heinz-Jürgen Kliewer: Konkrete Poesie und Mundart

Christian Schmid: Mi mues haut rede mitenang

Jutta Landa: Postmodernism in the Works of the Wiener Gruppe

Lori Ann Ingalsbe: The collision of Language and Reality:
Oswald Wiener’s die verbesserung von europa, roman

 

H.C. Artmanns Darstellung der Dichterexistenz

und die Wiener Gruppe 

H.C. Artmann gehörte zur Wiener Gruppe, aber während die 10 bis 15 Jahre jüngeren Gruppenmitglieder noch auf der Suche nach ihrer Haltung zur Literatur waren, hatte der Ältere seiner Dichterexistenz schon klare Konturen gegeben. Daraus ergaben sich sowohl Anregungen als auch Spannungen. Ein erster Kontakt war über Konrad Bayer zustande gekommen. In hans carl artmann und die wiener dichtergruppe beschreibt Bayer seine Reaktion auf die Lesungen seines dichterischen Vorbildes im Lokal des Art-Clubs 1952:

fasziniert von artmanns auftritt und seinen enigmatischen ausrufen werde ich kumpan, dann verehrer, aufmerksamer zuhörer und mitstreiter für die gute sache der poesie, (er war mir anschauung, beweis, dass die existenz des dichters möglich ist.) (1985, I: 357)

Wie Bayer mit einer gewissen Ironie anmerkt, dienen dieser Dichterexistenz in der Folge „gespreizte finger, steifer nacken und preziöse gestik“ als Erkennungssignale, die Artmann auch innerhalb der Wiener Gruppe eine Sonderrolle zuweisen. Durchgängig scheint er jene „Einzelposition“ gewahrt zu haben, die „er inne[hatte], ehe es diesen Kreis gab“, und die er auch später nicht aufgab (Bisinger 1972a: 8).
Entsprechend kontrovers ist seine Wahrnehmung durch die anderen Gruppenmitglieder. Auf der einen Seite sieht ihn Bayer in der Rolle des verehrten „meister[s]“ (1985, I: 357), der durch seine demonstrative Dichterexistenz und als Vermittler von Autoren der Moderne und der Tradition „entscheidende literarische Impulse“ gab (Rühm 1985: 8f.); mit der „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (1953) „leitet er für sich und uns eine neue, wesentliche periode ein“, so Bayer (1985, I: 357). Auf der anderen Seite scheint Artmann weniger streng als die anderen Gruppenmitglieder das „bewusstsein eines exklusiven niveaus“ gepflegt zu haben und mit seiner mehr intuitiven Art (Rühm 1985: 12) sowie seinem mangelnden Interesse an „der ,klärung‘ seines standpunktes“ (Wiener 1967: 401) in unterschwelliger Spannung zur theoriebestimmten Experimentalästhetik der Gruppe gestanden zu haben. So schreibt Bayer anlässlich des „coolen manifests“ und um sich greifender Antiliteratur (man verfuhr nach der Devise „je schlimmer, desto besser“): „Artmann übersteht auch diese phase und fertigt: „das los der edlen und gerechten“ (1985, I: 352). Über seine Trennung von der Wiener Gruppe sind die Meinungen geteilt: Rühm spricht von einer „unauffälligen“ Ablösung nach dem Erfolg der Dialektgedichte (1985: 26), Bayer dagegen berichtet von einem Ausschluss wegen Verstößen gegen die Gruppennormen:

als artmann mit seiner schwoazzn dintn ankommt und des erfolges ungewohnt, dieser oder jener versuchung unterliegt, leitet wiener seinen sturz ein (was artmann damals höchst gleichgültig war) und übernimmt die führung der „wiener dichtergruppe“ (1985, I: 395).1

Wiener selbst vermutet ein wechselseitiges Missverstehen von Artmann und den anderen Gruppenmitgliedern. Artmanns „,reinliterarische‘, antididaktische ,poetik‘“ hat in seinen Augen mit den behavioristischen Verhaltensexperimenten und positivistischen Sprachzweifeln der anderen Gruppenmitglieder letztlich wenig gemeinsam (1967: 401f.). Auch wenn Artmann wohl wenig Interesse an sprachtheoretischen Diskussionen oder an „aussersprachlicher mitteilung“ im strengen Sinne hatte, greift das Etikett des Rein-Literarischen zu kurz. Bayer hat die zugrunde liegende Haltung treffender auf den Begriff gebracht: Ende der fünfziger Jahre „zerfällt artmanns lokale berühmtheit in delogierung und steuerformulare. wieder macht er sich auf den weg. poesie als weltanschauung“ (1985, I: 355).
Poetische Weltanschauung ist hier keine Textreise, sondern ganz konkret die Erfahrung von Wirklichkeit durch ein „unbehaustes“, von Ort zu Ort wanderndes Empfindungs- und Sprach-Bewusstsein, das die Fakten und Sprachen des Erfahrungsraumes in ihrer surrealen Simultaneität wahrnimmt und bestehen lässt. Die von Wiener besonders radikal vorangetriebene experimentelle Semiotik führt dagegen dazu, in einer umfassenden Zerstörung symbolischer Ordnungen „,wirklichkeit‘ auszustellen, und damit in konsequenz, abzustellen“ (1967: 403). Beide Haltungen haben gleichwohl manches gemeinsam. Nach einer Explikation von Artmanns „poesie als weltanschauung“ werde ich auf Wieners Stellungnahme noch einmal zurückkommen. 

II. „Eine wertfreie Gleichzeitigkeit des Daseins“
Ab 1958 reiste Artmann nach Irland, London, Stockholm, Lund, Malmö, Graz und mehrmals nach Berlin. In Ein Gedicht und sein Autor sagt er dazu:

reisen bedeutet für mich nicht Fortbewegung, sondern wohnen dort, wo ich vorbeifahre, Sichtbares aufnehmen und mit diesem Sichtbaren mein eigenes Gesicht zu verändern. (1975: 375)

Es geht also nicht um die Bewegung auf ein Ziel zu, angesichts dessen alles andere unwesentlich ist. Wesentlich ist vielmehr ein Weg ohne Ziel, der sich aus einer offenen Serie von Wohnorten in Europa zusammensetzt. Anders als etwa in Konrad Bayers kopf des vitus bering führt die Reise dabei weder in polare Fern- und Extremregionen noch in kulturübergreifende Theorielandschaften. Erkundet werden Länder und Städte der gemäßigten Zone und jeweils ein konkreter Umraum, der es ermöglichen soll, das „Gesicht“ als Gesamttätigkeit und mimisch-schauspielerischer Ausdruck des Sehens von Augenblick zu Augenblick zu verändern, d.h. die Art und Weise zu verwandeln, in der man „Landschaft oder Welt“ (375) sieht, empfindet und in sich identifiziert. „Gesicht“ beschränkt sich nicht mehr nur auf ein einfaches Sehen, sondern öffnet sich einem im Traum Gesichte haben oder Erscheinungen, Visionen haben. Es wird zum poetischen Akt, der sich aus der bloßen Beobachtung eines fremden Stücks Welt durch ein Wahrnehmungssubjekt ergibt, dessen sprachliche Identifikationsmechanismen nicht mehr selbstverständlich funktionieren. Anhand des imaginären Tagebuchs Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken (1964) und Artmanns Bewunderung für Carl von Linnés Iter Lapponicum lässt sich erschließen, was es mit dieser poetischen Weltanschauung auf sich hat.
1961 stieß Artmann bei seinem Aufenthalt in Stockholm auf das private Lappland-Tagebuch Linnés, in dem sich Beobachtungen und handfeste Tatsachen aus dem Leben im durchreisten Landstrich mit Vokabellisten vermischen, die aus „ungewollt ,poetischen Notizen‘“ über Krankheiten, Lurcharten oder Mitternachtssonnen-Erscheinungen bestehen (1975: 373). Der Fokus richtet sich ganz auf „die strahlenden Momentaufnahmen winziger Dinge, seien sie organischer oder anorganischer, materieller oder sozialer Art: abgesprungene, isolierte Details und im Strahlenglanz ihrer leuchtenden Faktizität. […] und alles in der wertfreien Gleichzeitigkeit des Daseins“ (373). Während Linnés offizieller wissenschaftlicher Bericht Zwecke verfolgt, dementsprechend die Fakten bewertet, Beobachtungen auswählt und rationale Zusammenhänge herstellt, reiht sein privates Tagebuch Beobachtungen, Eindrücke, Nomenklaturen etc. in ihrer bloßen, nicht durchdachten Abfolge auf. In ihrem zufälligen Zusammenstoßen miteinander in einem besonderen, sie sprachlich identifizierenden Wahrnehmungssubjekt entbinden sie Bedeutungen, die sie in ihren gewohnten Zusammenhängen nicht haben oder nicht zeigen: 

Die Lerche sang den ganzen Weg für uns, sie zitterte in der Luft
Ecce suum tirile, tirile, suum tirile tractat
Im Walde, an der jenseitigen Seite des Sumpfes, standen alle Arten
Lycopodia: sabinae, cupressi, abietis, bifurcati.
Nomina plantarum:
Botska. wird gegessen, alias Rasi. Engelwurz
Fatno. Angelica. Caulis. Engelwurz
(Stengel und Blätter)
Jerja. Sonchus purpur […]
(1975: 373f.) 

Wenn Artmann zuerst den Vogelgesang zitiert, dann sicher auch, weil er traditionell als Emblem der Poesie gilt, die sich hier in spontaner Natürlichkeit in Szene setzt: wer hätte vor Linné je bemerkt, dass das lateinische tirile durch seine Laute den Gesang einer lappländischen Lerche so wunderbar wiedergeben kann. Im „erzwungene[n] Schreiben unter widerstrebenden Umständen“, im „rasche[n] Festhalten von Eindrücken“ (1975: 374) durch den Forscher verwandelt sich jeder Gegenstand in ein Faszinosum. Permanent werden verschiedene Sprachen und in den verschiedenen Sprachen wiederum verschiedene Namen und Bedeutungen aufgerufen, die sich wechselseitig in ihrer Fremdheit bespiegeln und zu weiteren Erkundungen reizen. Die beobachtete Pflanze etwa tritt als „Botska“, „Rasi“, „Angelica“ oder als „Engelwurz“ auf, um „gegessen“ oder per „Caulis“ oder „Stengel“ kategorisiert zu werden und als vielfältiger Wortklang und himmlische Bedeutungsbotin die sinnlich erfahrbaren Dinge zu würzen.
„Abgegrenzt und in ihrer Abgegrenztheit spontan und versehen mit dem Reiz des Spontanen“, kollidieren diese „Vorfabrikate an Worten und Erscheinungsketten, Erfahrungsbrocken“ (1975: 374) in Linnés Tagebuch, ohne dass ihnen irgendeine Methode oder Ordnung aufgezwungen wird:

alles trägt in sich ein Moment des Surrealen und gleichzeitig eine augenblickshafte Erscheinung des Willens und der Selbstbehauptung, die das einzelne Bild und das isolierte Wort hineinstellt in eine umgreifende Erfahrung. (374)

In der Tat erinnern Linnés Notizen stark an das automatische Schreiben der Surrealisten. Gemäß Breton ist der Surrealismus ein „reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle der Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung“; jenseits „vorgefaßter Ideen“ machen sich die Surrealisten zu „bescheidenen Registriermaschinen […] bisher vernachlässigter Assoziationsformen“ des Geistes, denen eine „höhere Wirklichkeit“ zukommen soll. Zugrunde liegt ein Glaube an die „Allmacht des Traumes“ und das „zweckfreie Spiel des Denkens“ (1977: 26ff.).
Was die Surrrealisten durch automatisches Schreiben anstreben und was Linné durch rasches Aufnotieren isolierter Eindrücke und Wahrnehmungsdetails ungewollt gelingt (neue Assoziationsformen des Geistes losgelöst von Kontrolle oder Systematisierungswillen freizulegen), versucht Artmann durch „starkbewußt extemporiert[e]“ poetische Acte umzusetzen (1975: 363). 

III. Poetische Acte als Darstellung und Realisierung von Dichtung
Artmann hat seine dichterische Verfahrensweise in der „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (1975: 363f.) expliziert und zugleich realisiert. Das frühe Manifest ist nicht nur für Artmann selbst, sondern auch für die Wiener Gruppe von zentraler Bedeutung.2 Bevor ich auf die Proklamation selbst eingehe, möchte ich die ihr zugrunde liegende Praxis an einigen Beispielen herausarbeiten. Laut Bayer waren Artmanns „auftritte“ durch „enigmatische ausrufe“ und eine „preziöse gestik“ gekennzeichnet (1985, I: 357). Was unterscheidet sie von herkömmlichen Theateraufführungen, Dichterlesungen und Fiktionen? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die Funktionsweise von Fiktionen zu bestimmen.
Im Vergleich zur referentiellen Verwendung von Symbolen zeichnen sich voll artikulierte Fiktionen durch einen explizit gesetzten Widerspruch bzw. einen „markierten Nicht-Bezug der Äußerungen oder Gesten auf den aktuellen Kontext“ aus. Die Auftaktverse von „:deutsche ansprache an könig artus“ etwa – „herr und könig / deine pracht / vervielfacht / der rose pracht“ (Artmann 1975: 17) – wird niemand auf einen hier und jetzt in der Wirklichkeit anwesenden Artus oder diese reale Rose hier beziehen, sondern dank des traditionellen Status von Artus nur auf eine imaginierte oder sprachlich bezeichnete Entität. Entsprechend dem Theatermodell setzt Fiktion also eine Duplizität zweier Situationen:3 In der aktuellen Realität wird eine fiktive Binnensituation gesetzt, deren deiktische Elemente sich nicht mehr unmittelbar auf die reale Rahmensituation beziehen dürfen und in der von der Realitätsillusion bis hin zur willkürlichen Setzung völlig irregulärer Welten alles möglich ist. Das Jetzt der Bühne entwirft also eine Welt, die mit dem simultanen Jetzt jener Rahmensituation hier und jetzt nicht zur Deckung zu bringen ist, sondern sich unabhängig von ihr und doch gleichzeitig zu ihr entfaltet. Der Nichtbezug wird meist durch codierte Fiktionssignale deklariert – das ist ein Schauspiel, das ist eine Sagengestalt –, kann aber auch durch die mehr oder weniger explizite Umdeutung von Situationskonstituenten in Gang gesetzt werden: Wenn Kinder in den Alpen Cowboy und Indianer spielen und angesichts eines zitternden Zweigs ausrufen: „Da lauert ein Apache“, ist das stimmig in ihrer imaginären Erlebniswelt. Der reale Anlass, zum Beispiel ein verschrecktes Reh, wird nur noch im Hinblick auf seine imaginäre Rollenfunktion hin wahrgenommen, wobei er in seiner Realität weder expliziert noch angetastet wird.
Fiktion bedeutet also ursprünglich bewusste Situationsspaltung und davon ausgehend bewusst spaltende Wahrnehmung aller Situationskonstituenten hinsichtlich ihrer imaginären und ihrer realitätsbezogenen Gestalt, die in den Hintergrund tritt. Die Situationsspaltung ist normalerweise räumlich und zeitlich klar umgrenzt und hinsichtlich der Zeichenverwendungen klar codiert: Die Bühnenrampe trennt Schauspieler und Publikum, die Vorstellung hat einen Anfang und ein Ende, was in fiktionalen Texten erlaubt ist, ist naturwissenschaftlichen Beschreibungen verboten; es gibt fiktionale und normalsprachliche Bedeutungskonventionen.
Die fiktionale Spaltung der Welt dynamisiert Artmann, indem er seine Dichterexistenz als Rolle in die scheinbar so fest gefügte reale Rahmensituation hineinträgt bzw. sie in ihr demonstriert. Das geschieht zunächst dadurch, dass er als empirische Person in jedem Augenblick auch als Darsteller seiner Rollen inklusive der seiner eigenen Person präsent ist.

Ich bin H.C. Artmann, den man auch John Adderley Bancroft alias Lord Lister alias David Blennerhast alias Martimer Grizzleymold de Vere &c. &c. nennt. (1997: 389).

Bei demjenigen, der sich einmal so vorgestellt hat, wird man also nie genau wissen, ob man es mit der realen Person, mit einer fiktionalen Rolle oder gar mit einer aufgeführten realen Person zu tun hat:

Ich möchte gerne das opfer höchst bizarrer verwechslungen sein. Eines abends für Artmann gehalten werden und dabei König Arthus sein, oder König Arthus sein und für Artmann gehalten werden, oder Henri IV heißen und mit Harun al Raschid angesprochen werden. (1971: 22)

Realitätswahrnehmung kann sich in jedem Augenblick als Fiktion erweisen und umgekehrt. Gleichzeitig betrifft die Poetisierung nicht mehr nur das Denken, sondern affiziert die gesamte psychophysische Existenz in dieser konkreten Situation, einschließlich der Person: „Die vermeintlich reale Person fiktionalisiert und erfindet sich […] aktiv selbst – gegen eine personale Realität“ (Paß 2006: 174) oder, was hier auf das Gleiche hinausläuft: gegen eine personale Identität.
Betroffen sind alle verbalen und nonverbalen Äußerungen und Verhaltensweisen dieser Person, die ständig in sich gespalten erscheint, ohne dass man wüsste, wo die Trennlinie in ihr verläuft. Hier einige Beispiele. Ist ein „realer“ Ausruf Artmanns wie „zerbrechen, nichts als zerbrechen… die gestelle der blumenhändler“ als eine Aufforderung zu interpretieren, zur realen poetischen Destruktion zu schreiten, oder als der Beginn einer Spontan-Aufführung von „tod eines leuchtturms“ oder als bloßes Zitat? Kommen Artmanns Ratschläge vom wirklichen Artmann oder hat gerade jemand aus einer anderen Welt in die Wirklichkeit hinein gesprochen? Einem Reisetipp seines Freundes folgend sucht Wieland Schmied etwa in Florenz an einer bestimmten Piazza eine bestimmtes Café, das „Salettl. Dort würden die jungen Florentiner Dichter tagen“ (2001: 14). Nach hartnäckigem Suchen erweist sich das Salettl als unauffindbar; Schmied „war einem Schabernack aufgesessen. […] Aber ich hatte, wie mir freilich erst sehr viel später bewusst wurde, durch mein Suchen sehr viel anderes entdeckt, was mir sonst entgangen wäre“. Nicht im Sinne Artmanns dürfte bei dieser Reaktion Schmieds die rückblickende Aufteilung in Sein und Schein sein. In der Tat geht es darum, beide Kategorien ununterscheidbar zu vermischen.
Auf einer gemeinsamen Italienreise etwa geben Schmied und Artmann in Brescia „eine ,an die Götter‘ adressierte Postkarte auf, deren Sitz wir hier in der Nähe vermuteten“, und rätseln, „wem diese wohl zugestellt würde – wir hatten sie jedenfalls ordentlich frankiert“ (Schmied 2001: 13). Das unbekannte Ziel poetisiert die prosaischen Zustellungswege und umgibt die Realität mit einem enigmatischen Möglichkeitshorizont, innerhalb dessen es offen bleibt, ob die Karte nicht doch an einem göttlichen Ort auf Erden ankommen könnte – und mit wer weiß welcher wunderbaren Berechtigung.
Ähnlich die Mystifikationen in den Mödlinger Nachrichten. In seiner Eigenschaft als Redakteur des Lokalblättchens war es Wieland Schmieds besonderer Ehrgeiz, „jede Woche wenigstens eine total erfundene Meldung zu bringen. Hinter vielen dieser Meldungen stand Artmann als ,spiritus rector‘“, der es liebte, imaginäre Titel, Biographien, Kritiker etc. in die Welt zu setzen, bis „Dichtung und Wahrheit […] ununterscheidbar verschmolzen…“ (Schmied 1972: 117–121). Der Reiz besteht ganz offensichtlich nicht darin, reine Sprachwelten zu schaffen oder „sich als Artefactum zu stilisieren, sich seiner Umwelt selbst als Kunstwerk entgegenzustellen“ (Bisinger 1972a: 8), sondern das eine durch das andere in die Schwebe zu bringen.
Die „erste poetische demonstration une soirée aux amants funèbres“ setzt dieses Programm mit höchster Komplexität um. Als exemplarische Inszenierung der „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (Rühm 1967a: 10f.)4 befreit die Décadence-Prozession das Fingieren von der kontraktuell geregelten Aufspaltung in eine fiktive, „irreguläre“ Binnensituation und eine reale, regelkonforme Rahmensituation. Indem die Prozessionsteilnehmer gewissermaßen die Bühne in und durch die Nachkriegsrealität Wiens tragen, halten sie sich augenfällig nicht mehr an feste, unbewegliche Grenzziehungen und machen die Realität selbst zu einem Teil der Bühne. Dabei verwenden sie zwar zunächst durchaus konventionelle Fiktionssignale (weiße Schminke, Gedichtrezitationen, Musik u.ä.), die aber in dem ungewohnten Kontext plötzlich bizarr wirken: Indem die Fiktion nicht mehr von dem gewohnten Realitätsausschnitt wie die Bühne vom Bühnenvorraum abgegrenzt wird, wird die Grenzziehung selbst labil und treten plötzlich Binnen- und Rahmensituation enthierarchisiert ins Blickfeld. Décadence-Prozession und Nachkriegswien artikulieren sich wechselseitig auf eine retrospektiv nicht rekonstruierbare Weise neu: Wie mag die Uraniabrücke oder der Stephansplatz aus der Perspektive der „oeuvres von Ch. Baudelaire, Edgar A. Poe“ etc. gewirkt haben? Welche Bedeutungen mögen vom realen Rezitationsort auf die Texte übergegangen sein? Wie haben Musik, morbide Blumen und Lampions sowie die „perpetuelle verbrennung von specereien“ synästhetisch die Wahrnehmung verändert? Welcher Realitätsausschnitt wurde eigentlich nicht zur Kulisse? Dergestalt resultiert aus einer simplen räumlichen Verschiebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität eine Doppel- und Umbewertung aller codifizierten Merkmalsbestimmungen: Die Décadence-Prozession wird hinsichtlich ihrer Modernität betrachtet, die Modernität hinsichtlich dessen, was vielleicht unzeitgemäß an ihr ist; die „illusionsbahn“ am Prater verliert ihren Status als profanes Vergnügungsmittel und wird zur Allegorie; die Oper kehrt vielleicht angesichts der Prozession ihren theatralischen Charakter nach außen, statt ihn in sich einzuschließen. In Vermittlung über die Fiktionssetzung kommt es so zu einer Doppelung von Bezugnahmen, in der potentiell jedes reale Objekt im Horizont der Décadence-Prozession und ihrer Codes (englische, französische… Dichtungs-Sprache, vergangene Literatur- und Kunstepochen, Rituale etc.) erscheint und in der jeder Bestandteil der Prozession im Horizont der Realitätskonstruktion als nicht ohne weiteres assimilierbares Element fungiert. Wird diese Vermittlung in der Tat vollzogen, so hat sie auf der Basis einer angeglichen Kontrastierung von zwei Hauptcodes mit (scheinbar)5 buchstäblichen Anwendungsfällen (Fiktion vs. Realitätskonstruktion) entweder eine Suspendierung oder eine permanente Umgestaltung der Codes im Hinblick auf ihre plötzlich anders erscheinenden Anwendungsfälle zur Konsequenz. In der Folge erweist sich mit der Unvollständigkeit der Bestimmungen und der Willkürlichkeit bzw. Transformierbarkeit der Hinsichten, bezüglich derer man einen Gegenstand betrachtet, die Arbitrarität der Realitätskonstruktion,6 ihre real-imaginäre „leuchtende Faktizität“ (1975: 373).
Aus dieser Perspektive lassen sich nun einige präzisierende Bestimmungen des poetischen Actes ableiten. Die Posen Artmanns sind nicht einfach als Selbststilisierung zu werten – „Artmann als der nimmersatte Proteus, der eklektizistisch alles sein kann, nichts eindeutig, aber eindeutig immer Proteus mit der Chrysantheme im Knopfloch“ (Herms 1972: 65). Vielmehr zielt seine „innerlich wie äußerlich zur Schau getragene emphatische Exzentrik“ darauf ab, „Existenz durch Tätigkeit zu begründen, die Poesie zur Essenz von beidem zu deklarieren“ und einen „Prozeß fiktiver Stellungnahme zur Wirklichkeit“ in Gang zu setzen (Prießnitz 1972: 32). Auch wenn diese Exzentrik schließlich in der Wiederholung als konventionell empfunden werden mag, stellt sie stets die Möglichkeit poetischen Handelns hier und jetzt dar; und sie vollzieht er schon qua dieser Darstellung, da sie die selbstverständliche Fortsetzung von Wirklichkeit in der jeweiligen Situation hier und jetzt zu einer nicht mehr selbstverständlichen Wahlmöglichkeit macht. Indem die Pose den „mehr oder minder gefühlte[n] Wunsch, poetisch handeln zu wollen“ (1975: 363), unmittelbar vor Augen führt, spaltet und verdoppelt sie die aktuelle Situation durch den Gedanken an eine unbestimmte imaginäre Situation und klammert die Eindeutigkeit vorgegebener Anschlusshandlungen ein.
Offen bleibt dabei, welches Stück hier und jetzt aufgeführt wird oder werden soll. In Die szenischen Texte der Wiener Gruppe hat André Bucher Möglichkeiten beschrieben, mit dieser Unbestimmtheit umzugehen (1992: 42ff.). Der Leser kann zum Beispiel verständnislos auf die „poetische Situation“ reagieren, in die ihn der scheinbar sinnlose Text oder die exzentrische Handlung bringt, oder er kann beides als Anlass zum starkbewussten Extemporieren (siehe Artmann 1975: 363) in einem „privaten, provokativen Mitspieltheater [auffassen], bei welchem die Mitspieler nicht eingeweiht [sind]“ (Bucher 1992: 48). Geltende Situationsdefinitionen lösen sich auf, ohne dass neue sie ersetzen – es sei denn die, in einem unbekannten Stück mitzuspielen, das eben in der Auflösung solcher Situationsdefinitionen besteht und das ansonsten keine erkennbaren Regeln hat. Die angemessene Verhaltensweise besteht dann nicht mehr in einem Verstehen des Gesagten, sondern in der Reaktion auf den „Gestus, der ihm unterliegt“ (49); und die erfolgt zu den Bedingungen eben dieses Gestus: denkbar sind nur das bewusste exploratorische Aufgeben der Kommunikationsregeln im poetischen Spiel oder die irritierte Abwendung von der unbegriffenen Störung.
Eröffnet wird damit die Möglichkeit einer „starkbewusst extemporierten“ Alogik, die aus der real-fiktiven Gesamtsituation in einem singulären Akt unvorhersehbar hervorbricht:

Die alogische Geste selbst kann, derart ausgeführt, zu einem Act von ausgezeichneter Schönheit, ja zum Gedicht erhoben werden. (Artmann 1975: 363)

Dafür ist weder ein Wort notwendig – eine stumme poetische Handlung ist vorstellbar – noch sind Sprache, Musik oder Darstellung per se ausgeschlossen. Verneint wird lediglich „jede Wiedergabe aus zweiter Hand […], das heißt jede Vermittlung durch Sprache, Musik oder Schrift“ (363; Orig. nicht kursiv). Entscheidend für den poetischen Act ist der unmittelbare Reiz zu einem bewussten Improvisieren, der von einer beliebigen Handlung, einem Sinneseindruck, einem Gedicht, einem Musikstück, einem Film ausgehen kann und sowohl der nach den gleichen Regeln ablaufenden Wiedergabe als auch der „unbewussten“, nicht dargestellten Regelverletzung abgeht.7 Das Moment der Darstellung bzw. der Bewusstheit ist der Geste inhärent und essentiell: der Darstellende identifiziert sich nicht mit dem Act, er wahrt eine suggestive Distanz, die eine eigengesetzliche „schöne“ Entwicklung der Acte erst möglich macht.
Dem entspricht, was Artmann über seinen Einsatz der Sprache über die Erfahrung und poetische Umsetzung seiner „landschaften“ sagt. Er besitzt einerseits Vorstellungen, „private Einzelheiten“, Sinneseindrücke wie den „Geruch einer Straße um 12 Uhr und nicht später“. Andererseits ergibt sich daraus „kein Gedicht. Ich habe Vorstellungen und setze sie ein. Dieser Einsatz entfremdet in gewisser Weise meine privaten Vorstellungen: denn Worte haben eine magnetische Masse, die gegenseitig nach Regeln anziehend wirkt. […] Ich bin ein Kuppler und Zuhälter von Worten und biete das Bett […] ich rede nicht von meinen Gefühlen; ich setze vielmehr Worte in Szene und sie treiben ihre eigene Choreographie“ (1975: 375f.). So entstehen „innere Landschaften, imaginäre Paysagen, Landschaften, die die Worte sich selbst schaffen oder die durch Worte neu erstellt werden“ (376). Ob reine Wortschöpfung oder durch Worte neu erstellt – in keinem Fall geben solche „landschaften“ etwas so wieder, wie es vorher war. Gleichzeitig deutet sich eine Spannung zwischen poetischer Geste und einem Erleben an, das hinter der Choreographie der Worte vollkommen zurücktritt. 

IV. Fiktionalisierung und „leuchtende Faktizität“
Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken von 1964 scheint schon mit dem Titel zu sagen, dass die Suche des Tagebuchschreibers nach dem Schnee von gestern vergeblich ist, aber als Verlust sehr bildkräftig ausgesagt werden kann. Explizite Fiktions- und Genresignale fehlen. Die Erläuterung „eintragungen eines bizarren Liebhabers“ lässt offen, ob es sich um fiktive oder dokumentarische Aufzeichnungen des Autors H.C. Artmann handelt, bereitet aber mit der Rolle des bizarren Liebhabers Überraschungen vor: 

Ich widme dieses diarium höflichst
den schmetterlingen Sascatchewans,
den papageien der Tierra del fuego
und den colibris des Rauriser tals
(1971: 5) 

Nach dieser Widmung an durchaus vieldeutige poetische Geschöpfe fährt der „bizarre liebhaber“ dann mit einem summarischen Selbstporträt fort, das überprüfbares aus Artmanns Leben mit mehr oder weniger Literarischem vermischt: 

Meine heimat ist Österreich, mein vaterland Europa, mein wohnort Malmö, meine hautfarbe weiß, meine augen blau, mein mut verschieden […] mit frauen im stehen gelebt, aus bäumen alphabete gepreßt, karussells in wäldern beobachtet, mit lissabonerinnen über stiegen gekrochen, auf tourainerinnen den morgen erwartet, mit glasgowerinnen explodiert und durchs dach geflogen […]
a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden.
Alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft…

(1971: 7f.)

Das einleitende Statement scheint ganz im Sinne der fiktionalisierenden Rollenspiele und Stilisierungen jeden Authentizitätsanspruch einzuklammern. Doch wenn Artmann stets demonstriert, dass nicht nur immer alle Sprachformen gleichzeitig verfügbar sind (Drews 1972: 138) und er über die „grammatischen Form“ und „das vorgefundene Muster“ die „Präsenz einer Stimmung“ artistisch erzeugt (Prießnitz 1972: 34), so deutet er im Titel „die suche nach dem gestrigen tag“ aber auch an, dass es eine versäumte Hingabe an die Wirklichkeit geben kann, die sich unaufhebbar mit Trauer verbindet. Es tauchen dann Passagen auf, in denen der Fiktionalisierung der Wirklichkeit eine Erinnerung an eine verlorene, weil nicht bewusst genug empfundene Wirklichkeit entgegenarbeitet. Dabei kommt es immer wieder zu Überlagerungen zwischen potenziell realen Ereignissen und poetischen Stilisierungen. Der erste Tagebuch-Eintrag lautet: 

20. SEPTEMBER.
aaaaaaaaaaaWieviel bin ich einem lebensretter schuldig?
aaaaaaaaaaaaaViel! Aber wieviel?
Alles hat seine grenzen – man nimmt ihn einmal in den zirkus mit. Ein gegen meinen kopf gerichteter turmuhrschlag rikoschettiert zuerst an meinem aufgespannten regenschirm, darauf, ein zweites mal, an der plankenwand rechts – dann geht er irgendwie in die gegend ab.
Ich bin noch einmal gut davongekommen.

aaaaaaaaaaaaDer abend. Die luft als solche. Lau.
Zwei möglichkeiten des getroffenwerdens: Entweder man weicht behend dem regen aus und gerät in die traufe – oder man springt aus der unverhofften traufe und schlägt mit dem schädel wider die vorspringende façade.

(1971: 9) 

Es kann durchaus sein, dass Artmann am 20. September hinter seinem Regenschirm den Widerhall eines Turmuhrschlags hörte. Die Beschreibung des Vorfalls blendet ein fiktives Zeigefeld auf („an der plankenwand rechts“) und gibt das Widerhallen des Turmuhrschlags in einer suggestiven Metapher wieder: Das preziös-präzise Verb rikoschettieren bedeutet im Militärischen „aufschlagen, abprallen von Kugeln“, der Ausdruck faire des ricochets sur l’eau „(Steine) auf dem Wasser springen oder hüpfen lassen“. Beides zusammen verleiht dem widerhallenden Schlag eine suggestive optische Prägnanz, angesichts derer man geneigt ist, ein tatsächliches Ereignis zugrunde zu legen. Der mögliche Tatsachenbericht wird jedoch durch die ironische Projektion von vorgefundenen Handlungsmustern und rhetorischen Stilisierungen in seiner Glaubwürdigkeit irritiert.
Da ist zum einen die einleitende moralische Frage, wieviel man einem Lebensretter schuldig ist. Dient die Episode als Exemplum, das vor Augen führt, dass man einem so unabsichtlichen Lebensretter wie dem Schlag abwendenden Regenschirm wahrlich nicht viel schuldig sein kann? Oder ereignet sich die Episode mit gelockertem Bezug – einleitenden Frage in einer Realität, die einem zirkusreife Streiche spielt und in der man nur mit Glück gut davonkommt? Möglicherweise hat Artmann aber auch vorher nur eine Slapstick Comedy gesehen und sich von der wortlosen Körperkomik des Genres inspirieren lassen, um einen alltäglichen Turmuhrschlag für seine moralische Frage zurechtzustilisieren. Für die Slapstick Comedy typisch sind fatale Missgeschicke wie das Ausrutschen auf einer Bananenschale oder das Rennen in Fallen, die man eigentlich für andere aufgestellt hat. Das Ich erlebt sich dabei häufig als Opfer von Attacken einer eigensinnigen Dingwelt, die es zum Spielball von Zufällen und mechanischen Abläufen degradieren – genauso wie hier Artmann, den nur sein zufällig aufgespannter Schirm vor dem heimtückischen Turmuhrschlag rettet. Dass dabei drohender Donner und reale Gefahrlosigkeit sich komisch konterkarieren, passt ebenfalls zur Slapstick Comedy:

Der Begriff Slapstick (deutsch ,Pritsche‘) stammt von der gleichnamigen Theaterrequisite. Der Slapstick ist eine Art Schlagstock, der aus zwei aneinander liegenden Latten besteht. Diese erzeugen bei einem angetäuschten Schlag einen lauten Knall und unterstützen somit akustisch die Aufführung der Schauspieler, die mit diesem Stock eine Prügelei darstellen können, ohne sich dabei zu verletzen.
(Bioandlyrics 2008)

Weiter in die Schwebe gebracht wird der referentielle Status des Tagebucheintrags durch rein sprachliche Mechanismen wie Figura etymologica, metaphorische Polysemie oder Metonymie, die in die Textelaboration eingreifen. Die Situation des „getroffenwerdens“ wird mehr oder deutlich fortgespielt über ein „Treffen: Man trifft sich mit freundinnen, kumpels, schuldnern, […] verwelkten azeleen, lebensrettern, zirkussen […] und hübschen aschenputteln“ (1971: 9). Angesichts einer „photographie des palmenhauses in Schönbrunn“ (9) (implizit ein Schnappschuss) weiß man nicht, ob sich die ausgelösten Assoziationen nicht auch auf das Palmenhaus in Malmö beziehen. Das Treffen endet sprachlich folgerichtig in einem „schuß durch eine der bleigefaßten 25 x 25 cm glasscheiben“ (10). Abschließend sammelt der Autor seine „Aufmerksamkeiten“ trefflich ein – „Ja dieser ganze tag ist durch einen oder mehrere schüsse gekennzeichnet“ und vergisst nicht, „Davon unbetroffenes“ zu erwähnen, dass „Windsbräute, die zeitweise an den jugendstiltraversen klettern, pekineserhündchen, lila gekleidete aschenputtel“ (10) und noch einiges mehr umfasst. Erfahrungsbrocken, Sprachliches, angedeutete Kinoerlebnisse, Fotografien, Gedachtes, Erinnertes vermischen sich unentwirrbar in einem freien Spiel mit Regeln.
Manchmal entschwebt Artmann dabei ganz in die luftigen Höhen eines frenetisch-fantastischen Ballonjuxes wie bei dem heroischen „versuch, der vacuumverpackten grande merde mit anstand zu entfliehn“ (1971: 61). Den Gegenpol dazu bildet die Trauer um die versäumte, nicht wirklich empfundene schöne Zeit. Das Ich beschließt daraufhin, „im kommenden sommer viel aufmerksamer zu sein, viel mehr den vögeln zuzuhören, richtig zuzuhören, wirklich zuzuhören, […] mit allen zehn abdrücken meiner finger nach den kühlerwerdenden abenden der talmulden zu greifen, als wären sie die glatten landschaften der haut, die sich um schönes, lebendiges fleisch spannen“ (74). Es wäre also die Sehnsucht, die Wirklichkeit nicht zu fiktionalisieren, sondern sie jenseits konventioneller Erfahrungsmuster intensiver zu empfinden. Das textliche Pendant dieses Wunsches sind nicht mehr sprachartistische Präsentationen von Emotionen, sondern lebendige Metaphern wie die „speichelfarbenen monate zwischen oktober und märz…“ (74). Drews sagt zu Recht von dieser vielschichtigen Figur, der er einen „schlichten, direkten Stil“ zuschreibt: „Besser als durch dies letzte Adjektiv wurde kaum je die – innere! seelische! – Farbe von Herbst und Winter im Norden benannt“ (1972: 152). In der Tat blendet „speichelfarbene[] monate“ äußere Eindrücke und innere Empfindungen so assoziationsreich ineinander, dass schwerlich ein einziger, adäquat ersetzter Begriff zu rekonstruieren ist. Mögliche Substitutionsbegriffe wie „grau“, „langweilig“, „monoton“, „reizlos“, „farblos“, „abstoßend“, „kraftlos“, „ereignislos“ etc. können den metaphorisierenden Begriff nicht eigentlich ersetzen. Sie markieren nur Teilbedeutungen dessen, was die Metapher im Kontext der Trauer um den Sommer, versäumter Sinnesempfindungen, Todesahnung und Liebe evoziert.8
Auch wenn bei Artmann das Unstilisierte zwischen dem Stilisierten „plötzlich selbst wieder wie stilisiert“ wirken mag (Drews 1972: 151f.), behalten solche Passagen einen gewissen Eigenwert. Jenseits von Referenzillusionen erinnern sie daran, worauf Fiktionalisierung und Sprachartistik letztendlich abzielen: auf eine Intensivierung des Empfindens durch das Bewusstsein seiner Nicht-Wiederholbarkeit. Dabei ist für Artmann Linnés Iter Lapponicum der lesbare Beweis, dass Intensität der Wirklichkeit und Intensität der Sprache sich wechselseitig bedingen und letztlich eine gemeinsame Wurzel haben: „abgesprungene, isolierte Details […] im Strahlenglanz ihrer Faktizität“, surreal „in eine umgreifende Erfahrung“ (1975: 373f.) hineingestellt und -geschrieben.

V. „edle oberflächlichkeit“ als Ziel und als Zustand
Das Hineinstellen in eine „umgreifende Erfahrung“ (1975: 374) bezeichnet eine Haltung die in Spannung zu den zeitweise dominierenden technologisch-positivistischen Tendenzen in der Wiener Gruppe steht. In „das ,literarische cabaret‘ der wiener gruppe“ hat denn auch Oswald Wiener Artmanns „Methode“ mit einer gewissen Distanz charakterisiert. Die poetischen Acte hätten demnach im Wesentlichen darin bestanden, 

durch konfrontationen überkommener und teilweise verschollener klischees in einer art von kollision eine stimmung hervorzurufen, die mit dem gefühl einer erkenntnis verwandt war. jedoch war seine methode immer eine „rein-literarische“ geblieben, und gipfelte konsequenterweise in einer antididaktischen „poetik“, welche nie von primären sinnlichen wahrnehmungen ausging, obwohl sie im effekt stark sinnlich wirkte. wenn wir anderen uns im gegensatz dazu als sprachingenieure, sprachpragmatiker, sahen, benutzten wir die worte im sinne wittgensteins als werkzeuge (allerdings in erweiterter bedeutung), und waren nicht nur am verhalten der worte in bestimmten sprachsituationen („konstellationen“) interessiert […], sondern auch an der steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch. unsere positivistische haltung richtete sich eben auf die sinnesdaten als elemente des eindrucks […]
(1967: 401) 

Des Weiteren erkennt Wiener in Artmanns poetischen Akten die „riten eines zweifellosen monisten“; es handele sich nicht um von Sprachzweifeln genährte „versuche aussersprachlicher mitteilung“, sondern „poetisierungen oder besser mythisierungen eines selten schwankenden lebensgefühls“ (401).
In dieser Charakteristik der Artmannschen Verfahrensweise lässt Wiener alles beiseite was mit der Konfrontation von Poesie und Wirklichkeit sowie der Präsenzqualität der poetischen Acte zu tun hat. Gleichzeitig reduziert er die Wiener Gruppe auf ihre technologisch-reflexiven Praktiken und postuliert als deren Leitfiguren den „Sprachingenieur“ bzw. den „Sprachpragmatiker“: einerseits also denjenigen, der Sprache als zweckmäßiges Werkzeug benutzt, und andererseits denjenigen, der Sprache wissenschaftlich als situationsgebundenen Funktionszusammenhang analysiert. Ergänzt wird das Duo durch die Perspektive der konkreten Situationssteuerung und des Manipulierung von Sinnesempfindungen. Dagegen blendet Wiener an dieser Stelle völlig die Rolle der Schwarzen Romantik und des Surrealismus sowie die Tatsache aus, dass sich die Wiener Gruppe im Laufe einer produktiven Rezeption historischer und zeitgenössischer Avantgarden nie auf eine einzige Position oder Methode festlegen ließ. Der positivistische Erkenntnis- und Machbarkeitsanspruch war nur eine Karte im Sprach- und Wirklichkeitsspiel der Gruppe, das am Ende nicht zu den „funktionalistischen“, sondern zu „literarischen“ Cabarets führte.
So wäre denn dem Sprachingenieur und dem Sprachpragmatiker noch mindestens eine weitere Gestalt an die Seite zu stellen. Passender noch als der Dandy und der Dichter ist jemand, der auf der Titelseite der Taschenbuchausgabe von die verbesserung von mitteleuropa in signifikanter Pose erscheint: Oswald Wiener selbst.9 Korrekt in Schlips und Anzug gekleidet und vor abbruchreifen Häusern auf einem Geröllberg stehend, hält er einen Hammer in der Hand, mit dem er offensichtlich nicht mehr nur philosophiert oder analysiert, sondern mitteleuropäische Behausungen tatkräftig in Schutt und Asche legt. Die sarkastische Ironie der Inszenierung liegt auf der Hand: Der Hammer ist sehr klein für die große Zerstörung, die er anrichtet. Vielleicht ist er auch nur dazu bestimmt, allzu offensichtliche Gleichnisse zu zertrümmern: 

weg mit den symbolen!
ihr teufel ist denn jede tatsache das gleichnis einer anderen in eurem schädel?
weg mit der klarheit!

(Wiener 1969: XXVII) 

Der Anspruch auf Steuerung und Erkenntnis weicht einer Destruktion des Erkenntnismediums Sprache und der ziellosen, keineswegs mehr durch Methoden oder Fragestellungen kontrollierten oder begleiteten Aktion: „einfach einwirken auf andere, auf sich selber einwirken“ (Wiener 1969: xi).10 Nun gilt es, den „augenblick“ oder die „empfindung“ von zeichenhaften Überlagerungen zu befreien. Was sich so herstellen soll, ist mit der surrealen Augenblickshaftigkeit der poetischen Acte sicher nicht einfach gleichzusetzen: Wiener will die Symbolsysteme bei gleichzeitig sich steigernder Reflexion auf die Aktionen zerstören, während Artmann auf eine Erfahrung jenseits einsehbarer Zusammenhänge hinaus will.
Gleichwohl weist die verbesserung von mitteleuropa nach dem „fest der begriffe“ (LXXXIX) auf eine Haltung hin, die deutlich an Artmanns „pose in ihrer edelsten form“ (1975: 363) erinnert: die „edle oberflächlichkeit“: sie „beseitigt die glaubwürdigkeit, und mit dieser die bahn zum verständnis“; sie ist „selbstgefühl, nicht einsicht […]; sie vergisst. sie argumentiert nicht“ (Wiener 1969: IC). Statt „den eigenen ,literarischen standpunkt‘ zu präzisieren“ und zu klären (Wiener 1967: 401f), ist an dieser Stelle die Leichtigkeit des akzeptierten Missverstehens das erklärte Ziel:

sollen wir einander verstehen?
das ist nicht erforderlich.
im gegenteil. wechselseitiges verstehen macht unruhig, führt zur planung.
liegen im missverständnis gefahren?
nur angesichts des axioms, also angesichts der befohlenen anstrengung.
(die familie ist ja die keimzelle des staats.)
wir erzeugen den lärm, um leichter an die oberflächlichkeit zu gelangen;
etwa wie wir strassen bauen, um mit dem wagen an das meer zu kommen.

(Wiener 1969: ic) 

Dieser Beschreibung zufolge würde der Wiener der verbesserung von mittefeuropa mit maximalem Verstehensaufwand lärmendes Missverstehen provozieren, um aus Tiefsinn gleich welcher Art zur „Oberflächlichkeit“ zu gelangen. Lärmerzeugen ist dabei eine höchst zweckmäßig organisierte Tätigkeit (Straßenbau für Autofahrt), die in vollkommener Zwecklosigkeit abbricht. Die Perspektive Artmanns ist eine andere. In kleinere taschenkunststücke lässt er das junge Mädchen Aino sagen:

was wissen wir schon? schwimmen wir doch in einem atlantik von wachen und träumen. das wasser steht uns immer bis an den mund, und wenn das feste land der wirklichkeit auch nur ganz unfern seine ufer erhöbe, wir könnten es in unserer lage dennoch nicht sehen… (1969: 232)

Da Land, von dem Wiener auf das Meer des Unverständlichen hinaussieht, ist bei Artmann nie sichtbar.

Michael Backes, aus Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Aufbau wozu. Neues zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2010

Michael Backes: Literaturverzeichnis

 

Die Wiener Gruppe 1 + 2

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Peter Pabisch + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00