Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle

Rühmkorf-Einmalig wie wir alle

FUTURISMO – TEMPS MODERNES – NO FUTURE

Futurismo – Temps modernes – No future –
heute dies und morgen Dunst –
Gerade bis zum nächsten Dauerknutscher,
na, wie ging nochmal der Sinn der Kunst?

Kunst sei, sagst du, was beliebt, gefällt,
doch die Zeilen stellen ziemlich wirr sich;
Mann, es rundet sich schon nicht mehr wie ein Pfirsich
dir die Welt!

Hast Kairos verpaßt?
Pausenlos von Eilpost überrumpelt…
Wie besehn, man reift ja nicht, man schrumpelt,
unaufhörlich klatscht die Leine an den Mast

Ach, es wird, ach angesichts der Nacht, der Sterne
schwinden hin ganz schnell –
Und am Ende räumst du bitte-gerne
dieses fremdenfeindliche Hotel.

Wahnsinnszart, zum Fürchten schön
senkt sich Nachtreif auf dein Unternehmen –
Nimmer soll die Liebe uns beschweren,
Furcht uns lähmen,
nie das Licht ausgehn.

Einen allerletzten Einblick sich ersaugen
– sssssssssssssssssssssssssss! den Zoom –
Bis sich hinter umgedrehten Augen
deine Himmel lichten, Fragen klären
– absolut posthum –

 

 

 

Der Titel Einmalig wie wir alle

knüpft an eine Gedichtzeile aus Peter Rühmkorfs letztem Lyrikband an. Sich bei sich selbst einzuhaken und dann neu auf die Welt zugehen, gehört zur natürlichen Fortbewegung dieses Dialektikers – ein Thema mit Variationen, das er nicht müde wird abzuwandeln. Seine lyrischen Botschaften, die sind immer sehr einfach und gehen zu Herzen, auch wenn er sie wie hier auf einen klirrenden gemeinsamen Nenner bringt. Die von allen Seiten bedrohte Einmaligkeit des Einzelwesens ist die tiefste Wurzel des menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls – das genau flüstert er seinen „verehrten Mitsterblichen“ zu mit zauberischer Stimme und in augurisch lächelndem Einverständnis. Was seine lyrischen Selbstgespräche an Zweifeln, Fragen und Bedenklichkeiten aufrühren, ist zugleich in die große Weltenrunde und für alle gesprochen. Was er sich selbst an Verunsicherungen zuzieht, mutet er auch seinen immer mitgedachten Leserinnen und Lesern zu; aber er weiß auch, wie im Ernstfall die verbindende Zauberformel lautet:

Eh einer groß im eigenen Kopf aneckt, soll sagen, was er liebt!

Daß Peter Rühmkorf ein großer Virtuose und Levitationskünstler ist, hat sich herumgesprochen; nicht so sehr, wie schwer er sich mit seinen „Auftriebskünsten“ macht. Die Gedichte dieses Bandes und die sie begleitenden Werkstattberichte zeigen ihn auf geradezu schwindelerregenden Höhen, sie demonstrieren aber auch, daß Komposition, Dramaturgie, Bau, Fassung und Verfassung für ihn nicht bloß technische Begriffe sind. Vielleicht ist das Wort „Artistik“ noch niemals so eindringlich als „Arbeit“ buchstabiert worden wie von diesem „lyrischen Bruder Leichtfuß“.

Rowohlt Verlag, Klappentext, 1989

 

Die Passionen des Peter Rühmkorf

– Ein Dichter zieht uns ins Vertrauen. –

Selten geschieht, was in diesem Gedichtbuch, dem neuesten von Peter Rühmkorf, versucht wird: Der Dichter zieht uns, die Leser, ins Vertrauen; er spricht zwischen den Gedichten darüber, worüber die Poeten lieber schweigen, über die Anstrengungen des Lyrikers. Zu seinen Versen, da sie wieder einmal zu der Annahme verführen könnten, „so etwas schüttelt sich unser Freund in zwei, drei Stunden aus dem Ärmel“, zu den lyrischen „Levitationen“ hat er jetzt etliche Briefe, wenige Reden und kurze Essays gestellt, die erklären; welcher Mühe es doch bedarf, den Eindruck aller Mühe „Zu tilgen: hundertfünfzig Seiten Notizen etwa für acht kurze Strophen, siebenhundert Seiten gar, siehe oben, für ein einziges Gedicht.“
„Der poetische Einfall“ sei zwar Voraussetzung jeder Dichtung und „selbstverständlich Augenblickssache“, erfahren wir, mit „Versbau, strophischer Gliederung, Reimtechnik, Dramaturgie, Einschleif- und Absetzverfahren“ jedoch habe er herzlich wenig zu tun. „Artistik“ vor allem sei hier gefordert. Nur:

Im Gegensatz zu populärlandläufigen Auffassungen von Artistik als einer Kunst der forcierten Effekthascherei liegt der Effekt (wenn wir ihn denn so nennen wollen) vor allen Müheaufwendungen erstinstanzlich fest, und was wir mit Kunst zu erhaschen trachten, ist allein der Eindruck, daß die Erleuchtung kommt wie gerufen.

Die scheinbare Aufhebung aller Schwerkraft, „Levitation“ wie gesagt, ist „höchstes Ziel“. Kein ungehemmtes Verströmen der Emotionen, sondern zielgerichtete Gestaltung. Denn: „Immerhin haben Gedichte ja einen Anfang und einen Schluß, und daß sie am Ende anderswo stehen (auch anders dastehen) als zu Beginn, zählt für mich“, so Peter Rühmkorf leicht ironisch und apodiktisch zugleich, „zum recht begriffenen Verfassungsauftrag.“
Es ist dies wohl kaum weniger als das poetologische Bekenntnis eines intellektuellen Lyrikers, der sich nach wie vor der Aufklärung verpflichtet weiß. „Licht! Licht muß her, und zwar mit allen Mitteln!“ heißt es in einem der Gedichte, das wie viele andere als „Gedankendrama“ angelegt ist, obwohl es keine didaktische Inszenierung, bieten will:

Auch noch Denkanstöße vermitteln?
Soweit kommt’s
’n Dichter ist doch kein Zickenbock.

Peter Rühmkorf, der eine seiner schönsten Reden auf Erich Kästner gehalten hat (1979), ist ein brillanter Ironiker, und zuweilen kann er sarkastisch werden, wiewohl er immer öfter zu humorvoller Betrachtung geneigt scheint. Allemal versteht er es – noch darin dem verehrten Moralisten durchaus wahlverwandt –, seine Wirkung sicher zu kalkulieren. Sei es, daß er im Jargon daherredet, hintersinnig in die Umgangssprache verfällt oder schlitzohrig Witze reißt, seine Gedichte sprechen an; und wenn man sie erst hört, dann sind sie geradezu mitreißend.
Stets fühlt man sich als Leser, als Hörer einbezogen ins intellektuelle Spiel, denn es ist die eigene Misere, die Ahnung fortdauernden Verlustes, die wir gestaltet finden, witzig des öfteren, unterhaltsam zumeist und bedrückend gleichwohl:

Mit den Jahren auch nicht mehr ganz in den Zustand,
daß man sich
seine Liebhaberinnen noch persönlich aussuchen kann –
Wahrlich, so ist es, Freunde, keine widerspricht.

Das klingt nicht ohne Absicht wie die gute alte „Gebrauchslyrik“, aufgezeichnet von einem Voyeur, einem „Seher“, einem „Spanner“, der selbst zugesteht:

Während der Redetext sich deutlich engagiert zeigt und die realen Widrigkeiten der gesellschaftlichen Welt konkret zur Kenntnis nimmt, scheinen die Gedichte eher einige Bandbreit über dem steinigen Erdboden zu schweben und sich aus ihren melancholischen Privatpassionen einen guten Tag zu machen.

„Linke Melancholie“ etwa? So könnte man nun, sich an Walter Benjamin erinnernd, womöglich unvermittelt fragen und würde dabei nur wieder übersehen, was der Marxist schon ehedem bei Kästner nicht wahrzunehmen vermochte, daß nämlich auch bei solchen Versen, mit Rühmkorf zu sprechen, die „Anteilnahme am Allgemeinwohl – richtiger vielleicht am allgemeinen Unwohlsein – bis in ihre feinsten Nervenfäserchen hinunterreicht und daß ihr gesellschaftliches Interesse alles andere als ein aufgesetztes ist“. Schließlich geht es um die Entfremdung, um jene Unfähigkeit zu tiefster Verzweiflung wie zu auffliegender Hoffnung, die unser gesellschaftliches Handeln mehr denn je prägt.
Und der Lyriker wird, wo er diesen Zustand erfaßt, notgedrungen zum „Kritiker der praktischen Vernunft, der die Aufklärung bis an jenen kritischen Punkt treibt, wo die Ratio mit ihrem Latein am Ende ist, der uns auch dort nicht im Stich läßt, wo der Jammer über das schwererziehbare Menschengeschlecht nur noch traurige Sorgenfalten wirft“. Wiederum ein Wort von Rühmkorf über Kästner, das jetzt wie das Resümee eigener Erfahrungen erscheinen muß.
Die Brechungen sind vielfach und überlagern einander. Der Aufklärer bleibt ein „Übergangsreisender“, ein „Angstarbeiter“, der sich vergebens mit Ironie, ja mit Spott zu wappnen sucht. Er ist trotz aller Hellsicht zu halbherziger Zuversicht verdammt, selbst wenn er sich, wie in einem Brief zwischen zwei Gedichten zu lesen steht, „ganz auf die Poesie zurückgezogen“ hat, womit er ohnehin nur einer Illusion erliegt, wissentlich erliegt. Denn:

Jede Pièce heischt Salut
– Kopf hoch, Homme de lettres! –
Fort die Schatten, ab den Hut,
daß man dich zerschmettre –

Sind aber die großen Hoffnungen erst einmal verflogen, gar ein für allemal gescheitert – „Früher, wann war das noch, / als wir aufbrachen, uns die Welt anzueignen“ –, dann steht endlich jeder mit sich allein: „einmalig wie wir alle“, heißt es im Titelgedicht, das den Band folgerichtig beschließt. Geht man am Ende ganz fehl in der Annahme, die mit Prosa angereicherte Gedichtsammlung solle als biographisches Dokument befrachtet werden? Der Dichter immerhin zieht uns ins Vertrauen, gleich mit den ersten Versen seines Buches:

All dein Glück wie nie gewesen,
aller Scherz wie nicht von hier,
und da möchtest du es schon mal lesen
daß es jemandem so ging wie dir.

Thomas Rietzschel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.12.1989

 

Disparates an einen Dichter des Disparaten

Doch ne ganze Menge Leute unsres Geistes,
wieder auf’m Haufen,
oder etwa nicht?!

Und überall gute Freundinnen, Freunde,
praktisch das ganze Land (die ganze Aula) voll,

da sollte sich ein einigender Ton
doch wohl finden lassen.

(Peter Rühmkorf: Vom Einzelnen ins Tausendste.)

Wer sich mit Peter Rühmkorf einläßt, wird sehen: was immer man sagen möchte, Rühmkorf hat es schon gesagt, nur schöner.
Ich möchte meiner kurzen Begrüßung ein Motto voranstellen, und da ich inzwischen gelernt habe, daß man unter Germanisten ohne Zitate entblößt dasteht, wehr- und schutzlos ohne den Schild des von einem Dichter autorisierten Wortes, ist dieses Motto natürlich ein Dichter-Zitat – von Peter Rühmkorf. Das Zitat-Motto lautet:

Schön, wenn einer mit Sprüchen vor euch hintritt, nichtwahr,
wo ihr bloß noch mit’m Kopf nicken braucht?!

Dies sagt Peter Rühmkorf, bevor er seinen Toast von beiden Seiten buttert.

Sehr geehrter, lieber Herr Rühmkorf,
Sehr verehrte Frau Rühmkorf,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

der Fachbereich Germanistik hat sich heute vorgenommen, einiges unter einen Hut zu kriegen – einiges Disparates noch dazu. Zu allererst: ein Dichter, ein Provokateur von Berufs wegen also, soll die traditionsreiche Ehrung einer Promotion honoris causa erfahren – oder sollte ich besser sagen: Ein Dichter wird gebeten, einen Doktorhut ehrenhalber zu erdulden. Ist dies als „Provokation des Provokateurs durch Promotion“ zu verstehen? Ich hoffe jedenfalls, es ist nicht – frei nach Odo Marquard formuliert – als „Provokations-Kompensations-Provokation durch Promotion“ gemeint; sonst wäre ja das Disparate wieder zusammengedacht und verlöre seine sprengende Kraft. Einem solchen Ansinnen würden Peter Rühmkorfs Gedichte allerdings widerstehen, da bin ich sicher.
Zu diesem Anlaß werden – auch das paßt nicht zusammen – ein akademischer Literaturanalytiker, der Kollege Oesterle, ebenso sprechen wie der Dichter selbst, das Opfer der analytisch-begrifflichen Spracheingriffe so vieler Germanisten und „Lehrartikler“, wie sie vom Opfer, dem Dichter Rühmkorf, genannt werden. Quer zu diesen disparaten Sprachen, der poetischen Sprache des Dichters und der vor allem begrifflichen Sprache des Wissenschaftlers, steht überdies die Sprache der Musik, die wir schon erleben durften. Michael Naura und Wolfgang Schlüter wagen es, unter den Augen unseres altehrwürdigen Universitätsgründers Landgraf Ludwig und des Namensgebers Justus von Liebig moderne Jazz-Klänge als dissonante Zwischentöne ins Auditorium zu werfen; zu meinem persönlichen Vergnügen übrigens, vergönnt mir dieser Anlaß doch, die beiden – zu meiner Schande sei’s gestanden – erstmals live zu erleben.
Und dann redet auch noch der Unipräsident… – aber diese und dessen Disparatheit überlasse ich Ihrer Phantasie. – Sie sehen, meine Damen und Herren, nichts paßt zusammen, das alles kriegt man nicht unter einen Hut. Doch glaube ich, gerade deshalb wird es Peter Rühmkorf gefallen. Ihm muß es gefallen, sonst wären seine Gedichte nicht, wie er selber sagt, „vom Umgang mit entsprungenen Partikularitäten“ geprägt. Und es wird den Freunden seiner Dichtung gefallen, andernfalls hätten sie seine gedichteten Plädoyers fürs Disparate nicht verstanden.
Ich jedenfalls bin gespannt, wie das heutige Unternehmen ausgeht: als ,postmoderne Einheit der Vielheit‘, wie mancher Germanist oder Philosoph – aufs Ganze fixiert – vielleicht hofft, oder als an die Lyrik Peter Rühmkorfs gemahnende Vielheit, in der das Disparate unausgeglichen bestehen bleibt.
Ich gratuliere Ihnen, sehr geehrter, lieber Herr Rühmkorf, zur Ehrenpromotion, auch zu dem Mut, sich dieser besonderen Herausforderung an einen Dichter zu stellen. Ich beglückwünsche den Fachbereich Germanistik zu seinem Entschluß, Peter Rühmkorf die Ehrendoktorwürde zu verleihen, denn mit der Annahme des Doktorhutes durch Peter Rühmkorf erfährt der Fachbereich Germanistik selbst und damit auch unsere Universität eine große Ehrung. Ich zitiere dazu – etwas aktualisiert – ein Zitat Peter Rühmkorfs. Sie haben richtig gehört, das ist ein doppelter Zitat-Schild, also ein Leckerbissen für jeden Literaturwissenschaftler, denn ich zitiere ein Zitat, das Peter Rühmkorf selbst in einem Gedicht zitiert:

An der Universität ist vielleicht doch etwas dran, strahlte Peter, wenn so einer wie ich Ehrendoktor werden kann…

Als mich der Fachbereich Germanistik zu dieser Begrüßung einlud, habe ich besonders gerne zugesagt. Auch wenn Sie jetzt denken, das ist doch Alltag für einen Unipräsidenten: diesmal ist es für mich eine besondere Freude. Ich habe nämlich ein persönliches Verhältnis zu Rühmkorfs Gedichten. Zugegeben, das besteht noch nicht sehr lange, auch wenn mir der Name des Jazz-Lyrik-Interpreten und manches Gedicht Peter Rühmkorfs seit langem bekannt sind. Das persönliche Verhältnis zu seinen Gedichten entstand, als Peter Rühmkorf vor zwei Jahren aus der Peripherie unserer Republik, aus Hamburg, nach Gießen, ins Zentrum der Bundesrepublik, kam und mir während einer Dichterlesung – dem Institut für Neuere Deutsche Literatur und der Bezirkssparkasse sei dafür Dank seine Gedichte im Wortsinne nahe brachte. Seit dieser Lesung im Netanya-Saal geht mir so mancher seiner Verse nicht mehr aus dem Kopf. Das liegt sicher an der Musikalität, die in allen Rühmkorf-Gedichten zu spüren ist. Es liegt aber auch an der Musikalität, mit der Peter Rühmkorf damals seine Gedichte vortrug; oder kann man sagen: vorsang? Ich verstehe ja nichts von Gedichten, meine lieben Germanisten, vielleicht verstehe ich aber dennoch – oder gerade deshalb? – manches Gedicht, jedenfalls wenn es Peter Rühmkorf vorsingt.
Und dann waren da noch erdichtete, verdichtete Formulierungen, von denen ich wünsche, sie wären mir eingefallen, denn ähnliches hatte ich gedacht oder wenigstens geahnt, z.B.:

Also von mir aus können wir sofort – hier
vom Tisch aufstehn und die Welt umwälzen,
aber mit-wem-denn, mit   w e m ?

So heißt es in Rühmkorfs Selbstportrait. – Ach, ja! – Und dann laufe ich wieder durch die Universität und versuche, Kolleginnen und Kollegen nicht für eine Weltumwälzung, nein, für eine kleine Universitätsveränderung zu bewegen. Meistens mit mäßigem Erfolg, wie ich zugebe. Vielleicht sollte ich das einmal mit einer der drastischen Formulierungen Peter Rühmkorfs versuchen. Das müßte dann heißen:

Komm raus aus deiner Eber-Einzelbucht,
aus deiner Ludergrube.
Komm raus aus deiner kaskoversicherten Dunkelkammer!
Heda, du eingerahmtes Tier, du kriegst
den Kopf wohl gar nicht mehr raus aus dieser Paste, laß sehn!
Unbeugsam reflektierst du dich
an der Schreibtischkante –
Komm raus aus deinem handversiegelten Hockergrab!
Auch Kultur
ist nur eine unmaßgebliche Schutzbehauptung.

Dem darf ich hinzufügen: Wissenschaft ist auch nur eine solche. Ob derartige Formulierungen die Kollegen aufrütteln (?), denke ich; oder meint Rühmkorf mit dem Reflektieren an der Schreibtischkante etwa mich selbst?
Als letztes Beispiel meines persönlichen Verhältnisses zu Peter Rühmkorfs Gedichten ist zu berichten, daß in den vergangenen zwei Jahren, z.B. während meines einwöchigen Besuchs unserer Partneruniversität in Lodz, ein kleines Reclam-Bändchen mit Rühmkorf-Gedichten mein ständiger Begleiter war. Nach Vorträgen, Empfängen, Sitzungen und Ordensverleihungen blätterte ich darin – und konnte wieder denken und fühlen. Dieses Bändchen dient mir als Allzweckwaffe gegen Politikereitelkeit. Herr Kollege Oesterle hatte es mir anläßlich des Besuches von Peter Rühmkorf geschenkt.
Zu meiner Freude fand ich darin als Prolog ein Gedicht, auf das ich zu Beginn meiner Amtszeit als Präsident in der Wochenzeitung Die Zeit gestoßen war. Dieses Gedicht hatte es mir angetan, genauer gesagt, sogar nur ein Vers. Schon die vier Worte dieses Verses verdienen meinen Dank an Peter Rühmkorf. Bei Gremiensitzungen, Verwaltungsquerelen, aber auch bei studentischen Universitätsbesetzungen halte ich mich an ihnen fest. Ich verstehe seit damals diesen Vers als persönlichen Leitspruch vor allem während meiner Präsidentenamtszeit, und ich wünsche uns allen, auch dem Dichter unterm Hut, daß wir ihm gerecht werden. Wenn es mir nicht gelingt, bitte ich Sie, meine Damen und Herren, mich an diesen Vers zu erinnern. Er heißt als Appell für uns alle:

Bleib erschütterbar – und widersteh.

Heinz Bauer, aus Astrid Keiner und Günter Oesterle (Hrsg.): Ein Dichter mit und ohne Hut. Dr. h.c. Peter Rühmkorf, Verlag der Ferber’schen Universitätsbuchhandlung, 1991

Auf einen Seiltänzer

– Die Geburt des Gedankens der Ehrenpromotion aus dem Geist konversationeller Studierlust. –

Hochverehrter Herr Rühmkorf,
sehr verehrte Frau Rühmkorf,
verehrte Festversammlung,

ich könnte es mir einfach machen und Ihnen die zugleich kürzeste und doch wahrhaftigste laudatio liefern, indem ich Ihnen den Eindruck zusammenfasse, den Sie, Peter Rühmkorf, als Gast der Justus-Liebig-Universität in Schloß Rauischholzhausen im Januar 1988 bei uns, den Lernenden und Lehrenden hinterließen:

Er kam, las und überwältigte.

Aber nicht, weil er sich als ,Primadonna‘ der deutschen Nachkriegslyrik in Szene setzte, sondern weil er unverwechselbar er selbst war, scheu, zurückhaltend, ab und an schalkhaft und frech, gerade deshalb gewann er die Köpfe und Herzen aller Teilnehmer und Teilnehmerinnen jenes Seminars in Rauischholzhausen und des Gießener Publikums im Netanyasaal. Es ist immer mißlich, solch eine Situation nachzustellen, aber einen Schatten des Eindrucks müssen Sie doch bekommen, um die Geburt des Gedankens der Ehrenpromotion aus dem Geist konversationeller Studierlust zu begreifen.
Stellen Sie sich also bitte vor: Rühmkorf liest – leise und bedacht –, und Sie alle sind aufmerksam und raten, von wem das vorgetragene Gedicht wohl sei und von wann:

Wer mir eisglatt begegnet und
mich packt als wär ich kugelrund,
dem werd ich wie ein Ball entgleiten.
Redet mir nicht von Schlüpfrigkeiten:
Bei treuen Freunden hab ich festen Stand,
völlig im Lot und klar umrissen –
Nur dem, der selber tappt im Ungewissen,
mal so – mal so, dem roll ich aus der Hand.

Swer mir ist slipfic als ein îs
und mich ûf hebt in balles wîs,
sinewell ich dem in sinen handen,
daz sol zuunstaete nieman an mir anden,
sit ich dem getriuwen friunde bin
einloetic unde wol gevieret.
swes muot mir ist sô vêch gezieret,
nû sus nû sô, dem walge ich hin.

Ja, wer hätte das gedacht, daß man mit so viel Witz, Geschmeidigkeit und aggressiver Unbekümmertheit einen Text aus dem hohen Mittelalter so wiederbeleben, einen Spruch (das Lebensmotto Walthers von der Vogelweide) derart beatmen kann, daß er mitten unter uns tritt, fremd und doch ganz nah:

Wer mir eisglatt begegnet
und mich packt als wär ich kugelrund,
dem werd ich wie ein Ball entgleiten,

und wenn man Peter Rühmkorf dann über das Verhältnis von sozialem Druck und künstlerischem Ausdruck sprechen hört, von Walthers labiler sozialer Identität, seinen Ich- und Freundschaftsgedichten, seinen Polemiken und Frechheiten, die ein Ausdruck gesellschaftlicher Kränkungen und Zurücksetzungen gewesen seien, ein Zeichen dafür, wie Walther seine „offensichtliche Statusunsicherheit mit übertriebener Selbsterhöhung“ wettzumachen suchte, wenn man dazu bemerkt, wie Peter Rühmkorf leicht, fast im Vorübergehen, den Bogen spannt zu den Ich-Auflösungen und Persönlichkeitsverbiegungen der expressionistischen Dichter, die entgegen dem Vorurteil, „alles andere als lockere Vögel, Gammler und Goldsucher, Ausbrecher und Tausendkünstler, notorische Bohemiens oder verbummelte Studenten gewesen seien“, sondern im Gegenteil, alles daran gesetzt hätten, die ihnen aufgepfropften Elternhoffnungen zu bestätigen – dabei läßt Rühmkorf spöttisch die zahlreich mit Doktorhüten ausgestatteten Expressionisten vorbeidefilieren: „den Herrn Doktor Hiller neben dem Herrn Doktor Benn, den Doktor Lichtenstein neben dem Doktor Wolfenstein, den Doktor Stramm neben dem Doktor Klemm und diesen wieder in einer alle stilistischen Persönlichkeitsmerkmale überbrückenden Eintracht neben den Doctores Goll und Stadler und Heym und Blass und Ehrenstein und Wegener“, – wenn man dann Peter Rühmkorf die künstlerischen und sozialkritischen Perspektiven versiert verschränken und übereinanderlegen sieht, dann – ja dann schlägt das Entfernteste plötzlich die Augen auf. Um seine leichtfüßige, gleichsam spielerische geschichtliche Vergegenwärtigung zu bekräftigen, greift er zu dem Brief eines zweiundzwanzigjährigen Kindes an seine Base „Fex Hex“ und liest:

Allerliebstes Bäsle Häsle! Ich habe dero mir so werthes Schreiben erhalten stalten, und daraus ersehen drehen, daß der Herr Vetter Retter, die Frau Bass Hass, und sie wie recht wohl auf sind, Kind (Leitzmann: Rind); wir sind auch Gott Lob und Dank recht gesund Hund. Ich habe heute den Brief schief von meinem Papa haha, auch richtig in meine Klauen bekommen strommen. Ich hoffe Sie werden auf meinen Brief Trief, welchen ich ihnen aus Mannheim geschrieben erhalten haben, schaben. Desto besser, besser desto! Nun aber etwas gescheudes. Mir ist sehr leid, daß der Herr Prälat Salat, schon wieder vom Schlag getroffen worden ist fist, doch hoffe ich mit der Hülfe Gottes (Leitzmann: Spottes), wird es von keinen Folgen sein Schwein…

und während er uns diesen (wir mußten lange raten und fanden’s nicht heraus) Mozartbrief vom Jahre 1777 interpretierte als nicht nur geboren aus dem Spaß am Blödeln und Faxenreißen, sondern zugleich aus Destruktions-, Deformations- und Entstellungslust – wenn Salat auf Prälat und Trief auf Brief und Schwein auf Sein und Spottes auf Gottes reimt – spätestens da wußten wir, welch einen wachen, ja sinneslustigen Leser, Entdecker und vielsinnigen Meister der Interpretation wir vor uns hatten. Als uns dann, es war schon sehr spät nachts und Sturm brauste draußen um’s Schloß, Peter Rühmkorf in die Geheimnisse der dichterischen Inventionslehre, ja der Physiologie der Findekunst einwies, indem er von seinen literarischen Anfängen erzählte, von der mit Werner Riegel herausgegebenen Zeitschrift Zwischen den Kriegen; die beide noch mit der Hand abnudelten, als er schließlich jene Geschichte preisgab, wie aus einem Künstlerulk und Geselligkeitsspaß eine Kunstrichtung wurde, d.h. wie es zur Titelschöpfung des Richtungsnamens ,Finismus‘ kam, der bahnbrechenden Gruppenparole:

Wir hatten getafelt, Käse und Blutwurstschnitten (…). Als wir dann allerdings beim Kapwein angekommen waren, und ich mich kurz um die Ecke empfehlen mußte, rief der stets auf Effizienz und verwendbare Resultate bedachte Riegel mir noch nachdrängelnd zu: „Daß du mir aber nicht ohne eine epochale Prägung wiederkommst!“ Als ich dann mit dem zwar nicht gerade epochemachenden, aber doch wohl Epoche ausläutenden Begriff „Finismus“ wieder in die Runde trat…,

ja, da war bei uns in Rauischholzhausen aus dem Partizipationswunder zugleich ein Produktionszauber entstanden, denn seither gilt im Gießener Rühmkorffreundeskreis, wann immer eine/einer sich um die Ecke empfiehlt das längst verinnerlichte Schibboleth:

Daß du mir aber nicht ohne eine epochale Prägung wiederkommst.

Wundern Sie sich jetzt noch über die seither in Gießen ausgebrochene Begriffsbildungsproduktivität?
Damals war meinem Kollegen Gerhard R. Kaiser und mir klar: wenn jemand, wie Peter Rühmkorf, in drei Tagen einen so reichen Literaturfundus vom Märchen bis zum Reim, vom politischen Lied bis zur Hölderlinschen Hymne, vom Bänkelgesang bis zur Ringelnatzschen Strophe, vom Mittelalter über’s Barock, das 18. Jahrhundert bis zur Jetztzeit vermitteln kann und seine Meisterschaft im „Studierstoff“, „poetischem Reizstoff, Leuchtstoff, Erregungsstoff und Wirkungsstoff“ nicht nur an der Universität Gießen, sondern seit zwanzig Jahren bei Gastdozenturen in Austin/Texas (1969/70), Essen (1975), Warwick (1977), Frankfurt (1980), Paderborn (1985) unter Beweis gestellt hat, dann wäre es eigentlich längst fällig, Möglichkeiten akademischer Ehrung und universitären Dankes zu ergreifen, die Peter Rühmkorfs Literaturpreise (u.a. Annette von Droste-Hülshoff-Preis, Erich Kästner-Preis, Heinrich Heine-Ehrengabe, Arno Schmidt-Preis) akademisch ergänzen würden.
Der Fachbereich Germanistik begreift es deshalb als besondere Ehre, diesem bedeutenden Lyriker und Schriftsteller, dem solidarischen Übermittler älterer Literatur, dem Herausgeber und Biographen, ja dem Kritiker einer kunstvergessenen Germanistik zum 60. Geburtstag die Doktorwürde honoris causa verleihen zu dürfen. Wir holen damit eigentlich nur nach, was seine Lehrer versäumt haben; man kann in Rühmkorfs Die Jahre die Ihr kennt auf den Seiten 32 bis 37 leicht nachlesen, wie vielversprechend Peter Rühmkorf schon damals war, wie er den ihm von autoritären Paukern abgeforderten Bildungsgang dadurch heimzahlte, daß er ihnen den ihrigen unter die Nase rieb, samt ihren Anmaßungen und schmierigen Konversionen. Das war zwischen 1948 und 1950. Er war damals längst entschlossen, sich mit der Dichterei als „Gegen-Produktion“ Luft zu schaffen. Überhaupt könnte man meinen, heute Studierende, Eltern, Lehrer, Hochschullehrer bis hinauf zum Minister könnten von ihm lernen, daß es einem Studenten gelingen kann, verschiedenste Tätigkeiten zu vereinen. Die Selbstcharakteristik auf dem Klappentext seines ersten Lyrikbandes von 1956 mit dem Titel Heiße Lyrik lautet:

Gegenwärtig Teppichklopfer, Reklameschieber, Couvertierer, Babysitter, Bote, Abhefter, Adressenschreiber, Student der Literatur und Psychologie.

Zu lernen wäre…, so wollte ich gerade rhetorisch aufgipfelnd und bildungsteleologisch schlüssig enden: wie man denn doch mit einem guten Examen…, aber da kommen die Prinzipien der Laudatio mit den harten Fakten der Biographie ins Gehege, und ich muß es der Wahrheit zuliebe anders wenden, nämlich so:
Peter Rühmkorf hatte rechtzeitig die Eingebung, daß er produktiver bleiben würde, wenn er sein Studium ohne Examen abbräche, daß er sich nur unverbeamtet als freier Schriftsteller in Auseinandersetzung mit den Zwängen des Literaturmarktes den Stachel der Produktivität bewahren würde und nacheinander im Abstand von vier, fünf Jahren die bedeutendsten Schriften, Kritiken und Charakteristiken verfassen würde, bis er letztendlich mit 60 Jahren, alle anderen weit hinter sich lassend, die wohlverdiente Abschlußwürde erhielte.

Poesie – Polemik – Literaturgeschichte
Seit Januar 1988, der ersten Begegnung mit Peter Rühmkorf in Gießen, hatte ich Zeit, über das erlebte Partizipationswunder nachzudenken. Das führte mich (nolens volens) zu „vorartistischen Schreibanlässen“ Rühmkorfs, zur Frage, wie die unter unseren Gegenwartsdichtern einzigartige Trias Poesie – Polemik – Literaturgeschichte entstanden sein mochte. Ich kann und will nicht die „frühesten Haarrisse“ dieser Entwicklung verfolgen, wohl aber vermute ich, daß Peter Rühmkorf in seiner Kindheit und Jugend etwas durchlebt und durchlitten hat, das die von Reinhard Baumgart so trefflich bemerkte Janusköpfigkeit seiner Generation (zumal des Jahrgangs 1929), die Gleichzeitigkeit von Jugendlichkeit und frühem Alterszynismus, ihren Mangel an „Pragmatik der Lebensmitte“ sowie jeder „Art von Honoratiorentum“ erklären helfen könnte. In dieser Generation fiel durch eine kriegs- und nachkriegsbedingte Ausnahmesituation die übliche Sozialisation in Kleinstfamilie und Schule weitgehend aus. Statt dessen traten schon früh eher randständige oder erst in der Pubertät einsetzende Banden und Gruppen als Sozialisationsinstanzen auf. Das förderte wiederum früh die Entwicklung bestimmter Fähig- und Fertigkeiten, u.a. ein Sensorium für Phrasen und falsche Töne und ein ebenso sicheres Gespür für die Möglichkeiten der vox populi, sich zu wehren und durchzuschlagen, es förderte den prognostischen Instinkt, Unheil zu wittern und sich in Hab-Acht-Stellung zu begeben, kurz – es förderte die zukünftigen Gewitterkundler der Zeit. So bedeutsam und nachhaltig jedoch die Gruppenerfahrung für die produktive Phantasie des einzelnen sein konnte, sie vermochte die soziale Labilität der eigenen Ich-Identität nur beschränkt aufzufangen. Wenn später in den 50er Jahren Peter Rühmkorf und sein Freund und alter ego Werner Riegel „Schulter an Schulter die ganze Kunstwelt“ herausfordern und zugleich gegen den Zeitgeist des ganzen „Restauratoriums“ samt seiner Wiederaufrüstung ankämpfen, dann bewährt sich in der Verbindung von hochidealisierten Zielen und Aggressivität auf sublim kultureller Ebene die sozialpsychologisch vorgegebene Kriegs- und Nachkriegssituation der opponierenden Jugendbanden. Denn die beiden Freunde Riegel und Rühmkorf bleiben beileibe nicht allein, versuchen sie doch, sich durch Ich-Spaltung zu vervielfältigen und zu verstärken. Um dem literarischen Deutschland dennoch so etwas wie Masse, Fülle und Bewegung zu suggerieren, spaltet sich das „Duumvirat in zahlreiche Geisterexistenzen und Teilschreibkräfte“ auf. Werner Riegel wird zu Conrad Kefer, Lothar Leu und Scharbock; Peter Rühmkorf vervielfacht sich zu Leslie Meier, Leo Doletzki und Johannes Fontara (beide nennen sich darüber hinaus noch als politische Polemiker John Frieder). Die Ich-Plurale bekommen arbeitsteilig bestimmte Funktionen zuerteilt: Johannes Fontara schreibt Literaturpolemiken, Leslie Meier lyrische Extravaganzen, Leo Doletzki erhält das Ressort der „abgelegten Sachen“, wobei für uns, den Fachbereich Germanistik, heute das Problem besteht, wem unter all diesen denn nun der Doktorhut zu applizieren sei, insbesondere nachdem vor einem Jahr Leo Doletzki als Durchreisender mit einem kleinen Hinterlassenschaftskoffer plötzlich wieder auftauchte. Doch das ist das kleinste Problem. Diese Ich-Pluralisierungen und Ich-Überhebungen, diese Metamorphosen und Metempsychosen sind für das jeweilige empirische Subjekt entlastend und belastend zugleich; sie sind überhaupt nur durch exzentrische Freundschaft durchzuhalten. Aber das Binnenfiktionsspiel reicht zur Stabilisierung des prekären Selbstbewußtseinsgleichgewichts kaum aus: es bedarf einer Außenstütze, und die findet sich in einem imaginären Bündnis mit vertriebenen und verdrängten Literaturvätern der deutschen Kunstbewegung: dem Expressionismus. Die beiden Freunde hatten Glück. Es signalisierten Döblin aus Paris, Hiller aus London, Huelsenbeck aus New York, Ludwig Meidner aus Frankfurt und Hans Henry Jahnn in Hamburg ihr Einverständnis mit den „Jungen“. Mit solch beachtlicher Rückenstärkung traten die beiden Polemiker und Dichter in ihrem „lyrischen Schlachthof“ und der Rubrik „Links im Bücherschrank“ gegen eine doppelte Übermacht an, die nationalchauvinistische Literaturgeschichtsschreibung und die „Carepaketliteratur“, den kulturellen US-Import.
Erklärt sich so der „dicke Trennstrich“ den Rühmkorf „gegenüber neun Zehnteln der modernen Literatur“ damals zog? Wird so plausibel, warum das Duumvirat, bestehend aus Riegel und Rühmkorf, ein Triumvirat aus Polemik, Poesie und Literaturgeschichte schuf? Wird so das fortgesetzte Bemühen Peter Rühmkorfs verständlich, das Ich nach vorne zu reflektieren auf ein ,Wirichsalle‘? Freilich vermute ich, daß diese in jedem Sinne fragile, weil nur in der Poesie mögliche Exzentrik der Identität, das Bestreben Rühmkorfs, sein Ich nach außen auf ein politisch und künstlerisch gleichermaßen sensibles Kollektiv zu verlängern, zutiefst zu tun hat mit einem unverwindbaren Verlust, dem frühen Tod Werner Riegels, durch den „eine gemeinsame Identität jäh auseinanderriß“. War Freundschaft nach diesem Schock nur selten, vielleicht nur noch in und durch Poesie zu verwirklichen?

Vom Herzton der Rühmkorfschen Poetik
Eine Laudatio hat in meinen Augen dann einen Sinn, wenn sie sich in die Charakteristik des Autors und seines Werkes verwandelt. Charakteristisch für moderne Kunst und Poesie ist aber, daß sie sich ästhetisch selbst reflektiert, ja mehr noch, mit sich ins Gericht geht. Ich kenne keinen Dichter der deutschen Gegenwartsliteratur, der sich so intensiv und selbstentblößend Rechenschaft über sein Schreiben und Dichten gegeben hat wie Peter Rühmkorf. Um so schmerzlicher für ihn, daß wiederum kaum ein Dichter der Gegenwart von der Kritik derart schablonenhaft abgefertigt wurde: zunächst versuchte man ihn als Epigonen Benns auszugeben, dann wurde das Vorurteil formuliert, Peter Rühmkorfs poetische Leistung sei es, Literatur aus Literatur zu produzieren. Daß Rühmkorf aus dem „Himmelplankton“ (wie er selbst sagt) anderer Dichter siebt, dürfte für alle modernen Schriftsteller gelten; die Inzitamente seines Schreibens kommen aber nicht allein aus der Hochliteratur, sondern ebenso aus den Mythen des Alltags, den Sprech- und Sozialgesten der Umgangssprache. Hätten wir Zeit, eine Poetik des Rühmkorfschen Dichtens zu entwerfen, so würde ich auf den von ihm hochgeschätzten Schriftsteller Arno Schmidt zurückgreifen. Dieser hat nämlich eine Phänomenologie der Gedankenspiele entworfen, die wir alle tagtäglich produzieren.
Vielleicht, verehrte Festteilnehmer, macht es Ihnen Vergnügen, sich selbst in jenen Arno Schmidtschen Typen zu entdecken, etwa als Gedankenspieler vom Typ „Bel Ami“ mit entsprechenden Star- und Supermannallüren oder als Querulantentyp, der schon „bei der entferntesten Andeutung von Verwicklungen sogleich lange Rededuelle mit verfälschten Gegnern ersinnt“ oder als der geheimnisvolle Typus des Gefesselten, der als Melancholiker und Nullpunktpessimist immer tiefer seinen Tunnel gräbt. Kurz, alle diese Selbstdarstellungsentwürfe eines Durchschnittsspielers unseres Kalibers kreuzen sich bei einem Dichter, seinem geschliffenen Einfallswinkel entsprechend, kondensierter, plastischer, prägnanter; sie werden aus Prosa verwandelt in reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen durch eine Prozedur, die Bertolt Brecht am gestischen Sprechen von Berliner Straßenverkäufern exemplifiziert hat. Wie sehr Rühmkorf von derlei Beobachtungen affiziert ist, bekundet seine subtil gearbeitete Schreiblehre und Einfallskunde, aus der ich Ihnen wenigstens eine Kostprobe vorlesen möchte, um die Herkunft des Herztons seiner Rhythmik begreiflich zu machen:

Die ganze unermüdlich in Rede und Gegenrede und Selbstgespräche und Beschwörungen und Bitten und Absagen und Wünsche und Abschiedswinke und Wutandränge und Nötigungen und Verlegenheitsfloskeln und Trauerkundgebungen und Freudesanwandlungen verwickelte Welt ist voll der interessantesten Natur- und Sozialgesten, und schon wenn einer sagt „Jaja, so ist das“ oder ein anderer „Nanukommdochmalherdukleinedickeda“ oder eine dritte Person „Nee, nich wie du denkst. Porno läuft hier völlig anders“, dann sind geheime Schwingungen und Resonanzen mit im Spiel, bei denen die Poesie nur aufmerksam in die Schule gehen kann. Erst wer genügend lange und mit der genügenden Geduld auf die Umgangssprache und ihre immer bedeutungsvollen Zeigegesten und Unterbodentöne geachtet hat, kriegt am Ende den richtigen Nerv für die Auf- und Abbewegungen auch der eigenen Brust, da soll er dann das Ohr dranlegen, wenn er kann, und einfach mitnotieren, was ihm der bewegte Atemstrom an Satzansätzen oder Vor-Wörtern entgegenträgt. Bertolt Brecht hat 1938 eine weitere Möglichkeit, Prosaelemente in moderne rhythmische Lyrik einzubilden, erkannt, die Peter Rühmkorf, Michael Naura und Wolfgang Schlüter achtundzwanzig Jahre später ergreifen und ausgestalten werden. Brecht schreibt:

Es ist ferner zugegeben, daß das Lesen unregelmäßiger Rhythmen zunächst einige Schwierigkeiten bereitet. Das scheint mir aber nicht gegen sie zu sprechen. Unser Ohr ist zweifellos in einer physischen Umwandlung begriffen. Die akustische Umwelt hat sich außerordentlich verändert. Man bedenke allein die Straßengeräusche der modernen Stadt! Ein amerikanischer Unterhaltungsfilm zeigte in einer Szene, wo der Tänzer Astaire zu den Geräuschen einer Maschinenhalle steppte, die verblüffende Verwandtschaft zwischen den neuen Geräuschen und dem Jazz mit seinem Stepprhythmus. Der Jazz bedeutete ein breites Einfließen volkstümlicher musikalischer Elemente in die neuere Musik, was immer aus ihm in unserer Warenwelt dann gemacht wurde. Seine Beziehung zu der Emanzipation der Neger ist ganz offenkundig.

Die Vibrationen der Umgangssprache und modernen Musik sind der Schwingungsboden für Gedichte Peter Rühmkorfs und ihre Begegnung mit der vergangenen Poesie.
Eine der offensichtlichsten Bewegungsrichtungen lyrischen Sprechens manifestiert sich parallel zur Entstehung der Ballonfahrt im Aufschwung. Von Klopstocks „Messias“ bis zu Nietzsches „Aus hohen Bergen“, von Baudelaires „Elevation“ bis zu Georges „Entrückung“ reicht das aeronautische Revier der lyrischen Erhebung. Vielleicht genügt als Beispiel, wenn ich die letzte Strophe von Eichendorffs „Mondnacht“ in Erinnerung rufe:

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus.
Flog durch die stillen Lande
Als flöge sie nach Haus.

Wer Rühmkorfs Gedichte kennt, weiß, wie sehr sie an der Aufschwungbewegung teilhaben und wie sehr diese ihm zugleich als legitimes Erbe religiöser Selbstvermittlung suspekt ist und er beobachtet, wie bestimmt der Dichter sie mit sensualistischer, erdennaher Konkretheit beschwert. Unüberhörbar ist dies in den Variationen auf Friedrich Gottlieb Klopstock „Der Zürchersee“:

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
mit entspanntem Munde gepriesen; schöner ein künstlich Gebiß,
das in den großen Gedanken
einer Schöpfung noch einmal käut.

Dort, wo der schimmernde Fluß sein Kleingeld verspielt,
oder hobest du dich schon wieder ab in den Äther –?
komm, da der Abend den seidenen Stander setzt, bleu-weiß-rot,
die Fahne aus Hauch und Traum…

komm, oh komm auf der farblosen Schwinge des Winds
– so wie er den zartgesalzenen Flügel rührt –
dreigestrichnes  B e w u s s t s e i n:
dem am Reißbrett entworfenen Phönix gleich.

Vielleicht rühren wir hier an ein vertracktes Produktionsgeheimnis der Dichtung Peter Rühmkorfs, das seine Verwandtschaft mit Kierkegaards Kunstkritik nicht verleugnen kann: Dichtung muß befreien und erheben; diese, ihre Transzendierungstendenz muß jedoch widerrufen werden, weil sie sonst zu Illusionen verlockt. Zum Ausweg wird eine Metaphysik des Schwebens, der Artist auf dem Hochseil.
Während des 19. Jahrhunderts setzte sich kollektiv und konkurrierend zur Aufschwungbewegung eine andere lineare Bewegungsdynamik auf ein bestimmtes Ziel hin durch; sie wird am prägnantesten durch das Aufkommen der Fortbewegungsform Eisenbahn illustriert. Während Peter Rühmkorf die lyrische Aufschwungbewegung parodistisch dekomponiert, überläßt sich seine polemisch-poetische Energie der linearen, telosbezogenen Bewegungsdynamik. In seinem Gedicht „Fahrtwind“ werden die beschleunigte Bewegung, das Tempo auf der Autobahn und das Tempo einer eskalierenden Wirtschaft ineinander geblendet. Trotz Vorbehalten haben Rühmkorfs Gedichte subkutan Anteil an diesem telosbezogenen Rhythmus; er beginne gerne – gab er einmal im Gespräch zu bedenken – mit einem Fragezeichen, um mit einem Ausrufezeichen zu enden.
Schließlich findet sich eine dritte Form des Rhythmus; es ist vielleicht die charakteristischste Amplitude des Lyrikers Peter Rühmkorf: ein arabeskes Verwandlungsspiel zwischen Aufstieg und Fall, Linearität und Telos, ein Aufhebungsspiel aller zielgerichteten Bewegung, ein bloßes Schwingen: „Jede Zeile nur Durchzug, ein Vorüberwehen, im Übergang zu ihrer Modulation und Variation“, wie Reinhart Baumgart treffend beschreibt. Rühmkorf hat selbst dafür ein Bild gefunden: „Platons huschende Höhlenbilder: ins Positive entwickelt.“ Zwar ist es immer mißlich, das Gedicht eines Autors vorzutragen, wohl wissend, daß er es selbst tausendmal besser kann, aber ich wage es dennoch, nicht nur um Ihnen den Variationsgenuß der Übersetzung vom Hamburgischen ins Schwäbische zu gönnen, sondern auch, weil ich in diesem Eröffnungsgedicht des neuen Lyrikbandes von Peter Rühmkorf die arabeske Bewegung und Affinität eines altersresignierenden, lyrischen Ichs zum Traum eines Philologen zu entdecken glaube:

All dein Glück wie nie gewesen,
aller Scherz wie nicht von hier,
und da möchtest du es schon mal lesen,
daß es jemandem so ging wie dir.

Ganz genau so unbegründet
mitten aus der Fahrt zu Fall –
Daß ein Ich sein Echo findet
in dem sterneleeren Überall.

Wie ein Lied aus bessern Tagen
streift dich der Gefangnen Chor –
Ausgesprochene Versagersagen
reißen den Gestrauchelten empor.

Oder du auf deiner Einmannliege,
nachts, auf dem verrutschten Tuch,
wirst du deiner Einzigkeit gewahr –
und es wär schon gut, wenn jetzt ein Buch
über dir zusammenschlüge
wie ein lichtgesäumtes Flügelpaar.

Es ist ein herrlich ironisches Liebesgedicht: da wo der Lyriker resignativ verzichtet aufs Leben und sich altersmüde mit dem Buch bescheidet, ist der Philologe ja immer schon vor Ort: das Buch als seine einzige Geliebte

Vom trennenden Dornengestrüpp zwischen Poeten und Literaturwissenschaftlern und von der fortdauernden Leidenschaft für Kunst und Literatur
Damit bin ich bei meinem letzten Thema angelangt, das ich abschließend nur kurz umreißen möchte: das Verhältnis des Poeten, des Dichters Peter Rühmkorf zur Literaturwissenschaft. Rühmkorf hat die Altherrengermanistik, die „Lehrstuhlinhaber der herrschenden Lehrpoesie“ arg gezaust; er hat die Damen und Herren Studierenden der Literaturwissenschaft, die nur noch auf die von ihnen gewünschten ideologischen Leitplanken starrten, nicht weniger scharf angegriffen. Die einen sind heute obsolet, die anderen pensioniert und vergessen. Rühmkorf zeigt aber auch auf Probleme der gegenwärtigen Literaturwissenschaft. Er notiert die Gefahr einer „nobel neutralistischen Gegenwartsphilologie“, die, weil sie keine Mission mehr hat, gleich auf eine Vision verzichtet und weil Ideologie verdächtig wurde, gleich alle Leidenschaft für Kunst und Literatur denunziert. Peter Rühmkorf trifft hier ins Konfliktzentrum des wie immer auch zu lockernden Spannungsverhältnisses zwischen methodisch kontrollierter Literaturrezeption und lebendiger Überlieferung, wenn er darauf hinweist, „daß literarische Tradition und literarische Legendenbildung zueinander gehören wie zwei Seiten einer Medaille und, daß Überlieferung ohne (…) greifbares, auf Zuneigung gegründetes und mit aktuellen Hoffnungen verknüpftes Gleitfett gar nicht stattfindet. Literatur, die sich nicht als legendenfähig erweist, wird gar nicht weitervermittelt“.
Doch inmitten des „trennende(n) Dornengestrüpp(s)“ zwischen Poesie und Wissenschaft zeigt sich biographisch auch ein Hoffnungsschimmer: „Es war im Sommersemester 1956 – es war in jener versunkenen und mit sich selbst in trügerischem Einvernehmen befindlichen Stillhaltezeit, daß ich“ schreibt Peter Rühmkorf „auf dem Bildungswege mit Heinrich Heine bekannt wurde, und der uns die ersten Weihen gab, war mein geliebter Unilehrer Hans Wolffheim. Wolffheim war ein akademischer Außenseiter, der schon im Nazistaat nicht ganz unverschont durch die Zeit gekommen war und in der Nachkriegsära niemals über den außerordentlichen Professor hinaus, der unterhielt sein Jakobinerkränzchen (das waren wir) gern mit schwer verdaulichen Zweideutigkeiten. Statt uns einen Heine nahezulegen, wie es seinerzeit vielleicht opportun gewesen wäre einen mosaisch gefaßten Altersheine, der die revolutionäre Harfe mit der Lazarusklapper vertauscht hatte –, führte er uns den revolutionären Freigeist in seiner ganzen griechischen Jünglingsfrische vor Augen, (aber er zog den gemeinen verwertungsgenossenschaftlichen Nutzvorstellungen auch gleich den erhofften Kartoffelboden unter den Füßen weg: Wer war Heinrich Heine? Ein Sohn der Französischen Revolution, aber in der Kunst war er Supernaturalist).“
Deshalb bin ich leichtfertig genug, die Märchenhoffnung auf das gute Ende nicht preiszugeben, daß sich das „trennende Dornengestrüpp“ zwischen Poeten und Literaturwissenschaftlern nach langer Zeit zu guter Letzt doch einmal lichten möge.

Mit List und Tücke hat daher der Fachbereich Germanistik der Justus-Liebig-Universität die Absicht, Ihnen, hochverdienter und -verehrter Peter Rühmkorf, das bestmögliche aller Schlichtungsverfahren anzubieten, nämlich das der Mitgliedschaft auf der Sünderbank dieser suspekten Zunft. Sie wissen jetzt, auf was Sie sich einlassen. Müssen wir fürchten, daß Sie zukünftig in den Zwiegesprächen mit uns zur Wucht Ihres Doktorhammers, wie einstmals Doktor Benn, greifen werden?
Wie heißt es doch in dem von uns beiden so geliebten und von Ihnen so meisterhaft interpretierten Gedicht von Ferdinand Hardekopf:

ZWIEGESPRÄCH.

Doktor Schein und Doktor Sinn
Gingen ins Café;
Schein bestellte Doppel-Gin,
Sinn bestellte Tee.

Seitlich von dem Plauderzweck
Nahmen sie dabei:
Schein – verlognes Schaumgebäck;
Sinn – verlornes Ei.

Dialog ward Zaubertext,
Nekromantenspiel;
Zwieseits wurde hingehext,
Was dem Geist gefiel.

Was dem Sinn Erscheinung schien,
Was der Schein ersann.
Schein gab Sinn, und dieser ihn,
und die Zeit verrann.

Und die Stunde kam herein
Leis’ des Dämmerlichts.
Schein verging zu Lampenschein,
Sinn verging zu nichts.

Günter Oesterle, aus Astrid Keiner und Günter Oesterle (Hrsg.): Ein Dichter mit und ohne Hut. Dr. h.c. Peter Rühmkorf, Verlag der Ferber’schen Universitätsbuchhandlung, 1991

„Selbstporträt mit und ohne Hut“

Lieber Herr Präsident Bauer,
lieber Herr Dekan Rötzer,
lieber Herr Professor Oesterle,

meine sehr geehrten lieben Damen und Herren,
mein sogenannter „Festvortrag“ trägt den Titel „Selbstporträt mit und ohne Hut“, worunter Sie sich vielleicht etwas Kurioses, vielleicht auch Kryptisches vorgestellt haben, anders Sie sicher nicht so zahlreich zu dieser Nachmittagsveranstaltung erschienen wären. Trotzdem sehe ich meiner eigenen Rede eher mit Befangenheit entgegen. Die lustig gemeinte Sache lief mir in den letzten Wochen etwas aus dem Ruder, sodaß ich jetzt gar nicht recht weiß, ob ich den erwarteten Selbstenthüllungen wirklich gerecht geworden bin oder ob ich mich allzu bedeckt gehalten habe. Rückblickend hat allerdings das ganze 1989 für mich nicht den erwarteten Verlauf genommen: Man bewegt sich zunächst auf Grund idealischer Entwürfe voran und richtet sich am Ende nach dem realen Leben und dessen wirklichen Verwerfungen. Das Jahr begann mit der Arbeit an drei Büchern – in Worten: drei, drei, wie Dreieinigkeit und drei, wie „aller guten Dinge sind drei“, – denn mit leeren Händen hatte ich dem bevorstehenden Sechzigsten nicht gern entgegentreten wollen. Aber dann starb im Februar mein immer für unsterblich gehaltenes Mütterchen im Alter von 94 Jahren, was für ein Mutterkind (kein Muttersöhnchen, wohlverstanden) schon einen eigenartigen Lebenseinschnitt bedeutete. Wir trugen sie unter der herzlichen Anteilnahme ihres Heimatdorfes, in dem sie einige Jahrzehnte lang als Lehrerin gewirkt hatte, und dessen zahlreichen Sorgenkindern und Problemnaturen sie immer eine gute Sorgenschwester und Beichtmutter gewesen war, zu Grabe.
Warum ich Ihnen das heute erzähle? Nun, vor allem, weil ich meine Mutter gern mit in diesem freundlichen Kreis gesehen hätte, und weil mein Eintritt in ihr Leben nicht gerade mit besonderen Ehrenbezeugungen verbunden war. Ganz im Gegenteil war mein Zurweltkommen eher mit einem „Makel der Infamia“ behaftet (um ein Wort von Heinrich Heine zu benutzen) und im Gegensatz zu ihrem Vater (einem evangelischen Superintendenten im seinerzeitigen Kreis Land Hadeln) war der meine eine ziemlich windige Erscheinung. Als Puppenspieler von Beruf und Liebhaber zahlreicher brotloser Künste im allgemeinen, hatte er sich dem gutgläubigen Pfarrerstöchterchen mit allerlei Artigkeiten genähert und sich später um so unartiger, aber recht artistisch aus der Affäre gezogen. Ich will ihm daraus gar keine posthumen Vorwürfe machen. So etwas passiert auf dieser von ungleichen Anziehungs- und Fliehkräften beherrschten Welt ja immer wieder einmal. Immer wieder sehen wir die Unschuld vom Lande in den Zauberkreis von unsteten Fahrensmännern und Reisegeistern geraten, immer wieder den Mann von der Landstraße von solchen seßhaften Flammen oder stetigen Herdfeuern angezogen. Die Weltliteratur berichtet unentwegt von derartigen unmöglichen Begegnungen; aber was heißt hier eigentlich unmöglich, auch das wirkliche Leben ist voll davon: man kann fast noch von Glück sagen, daß am Ende keine ausgewachsene Gretchentragödie dabei herausgekommen ist.
Vielleicht hätte mein damals noch junges Mütterchen auch gut daran getan, sich durch gewisse, nicht ganz unverfängliche Selbsterklärungen meines Vaters warnen zu lassen. So ganz und gar bis an die Nase vermummt und ohne bedeutungsvoll phosphoreszierende Fingerzeige hatte er sich auch wieder nicht bei dem Fräulein Elisabeth Rühmkorf eingeführt. In dem ihr als Geschenk und Andachtshilfe hinterlassenen Stundenbuch von Rainer Maria Rilke findet sich beispielsweise folgende Strophe besonders dick unterstrichen:

Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn.
Du bist der Leiseste von allen,
die durch die leisen Häuser gehn.

Und in der frühlingsgrasgrünen Peer-Gynt-Ausgabe mit dem herzblutroten Titeletikett ist die sicher auch nicht belanglose Widmung zu lesen:

Zu unserm Glück oder Unglück, wie man’s nehmen will, sind wir Leute von der Landstraße alle mehr oder weniger Peer-Gynt-Naturen – Dein Pulcinelli.

Also wie gesagt, wie gemeint: auf ihre eigene fahrige Weise sind solche Zugvögel fast schon wieder berechenbar, und sie müssen auch unentwegt Kunde geben von ihrer habituellen Leisigkeit und Reisigkeit. Sie sind – wie immer man zu ihnen stehen mag – nur eben nicht aus jenem Stoff wie dem zum Bleiben, und wer sich lieber an einer Patriarchen-Stele emporranken möchte, sollte von solchen Pulcinellen die Hände lassen.
Ob mein Vater heute noch lebt – ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, ob er unversehrt durch den letzten Krieg gekommen ist, es hat mich eigenartigerweise nie besonders interessiert. Dieses gewisse sentimentale Gewese, das man neuerdings wieder um Bluts- und Rootsbande macht, ist mir mein Leben lang fremd, um nicht zu sagen unangenehm gewesen. Die Vorstellung, eines aufgeklärten Tages von einem wildfremden Kerl ans Vaterherz gerissen zu werden, war für mich eher mit dem Beigefühl der Peinlichkeit verbunden. Ich bin ein gelerntes Mutterkind, wie Sie gehört haben, und ich bin es geblieben, und ödipale Vaterphantasien habe ich schon früh einem mythologischen Fabelreich überlassen, in dem dunkle Ahnungen und bunte Vermutungen sich gern ein poetisches Stelldichein geben sollen.
Freilich erzähle ich Ihnen das hier nicht bloß zu Ihrer Belustigung. Worauf ich Ihr Augenmerk lenken möchte, das ist der scharfe schiefe Blick eines nicht von Haus aus Gleichgestellten, eines eigentlich schon von Geburtswegen Zukurzgekommenen, eines zweifellos früh auf seine soziale Abseitsstellung aufmerksam Gemachten, der gleichwohl immer gleichwohl angesehen werden wollte, gleich unter anderen, eine ganz normale und legale U.a.-Existenz, und weil ich das eine lange Kinder- und Jugendzeit lang nicht war, haben mich Gleichheits- oder Gleichstellungsfragen immer ganz besonders interessiert. Wo sich bei anderen Heranwachsenden oft schon früh die Freiheitsgöttin als eine oberste Gedankenlenkerin in Szene setzt, ist sie in meinem eigenen kleinen Ideenhimmel nie ohne den Beistand und die mäßigenden Gertenstreiche der Gleichheit zu denken gewesen, die Liberte nicht ohne Egalite, was Sie sich dann nach Belieben als Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit und artistischem Gleichgewicht übersetzen können. Allerdings habe ich unter dem von mir gern ins Feld geführten Begriff Artistik niemals nur technische Fertigkeit verstanden, die sogenannte Virtuosität. Bei den bedeutenderen Balanciernummern unseres Literatur- und Geisteslebens haben die Götter und -innen vor das mit Bangen erwartete Equilibrium meist zunächst einmal die Gleichgewichtsstörung gesetzt, den Schlag ins Genick oder den Schubs in die Kniekehlen, weshalb ich mir meine Helden mit Vorliebe unter den Verhaltensgestörten im Kreise unserer Geistesheroen ausgesucht habe. Die vor kurzem erschienene Porträtsammlung Dreizehn deutsche Dichter führt Ihnen meine Lieblinge noch einmal in einem exemplarischen Bogen vor Augen. Die ständig von den Schatten der Gleichheitsguillotine bedrohten Freiheitsvorstellungen Heinrich Heines oder die mörderischen Selbstanfechtungen des Volksschriftstellers Kurt Tucholsky vor dem deutsch-nazistischen Volksentscheid, die Flucht des lebenslang vom Odium der Lächerlichkeit begleiteten Joachim Ringelnatz in die schadensabwehrende Selbstkarikatur oder die auf ziemlich kleinkarierten Inferioritätsgefühlen aufgebauten Überlegenheitsphantasien Arno Schmidts, das sind alles keine normalen Erfolgskarrieren zu normalen Geschäftsbedingungen und mit bis ins Rentenalter verlängerbaren Entwicklungsperspektiven – was zur Debatte steht, ist in jedem einzelnen Fall das aus der Bahn geratene Leben selbst, beziehungsweise das Bewußtsein einer durch Bewußtsein allein gewiß nicht zu begradigenden Schiefstellung in der Welt. Wie sich die Daseinsfatalitäten aber schließlich doch zu jener erlösenden Kunst-Heiterkeit auflösen können und Schmerzensmänner sich gelegentlich als Komödianten aufführen, wird mir bis zum Ende meiner Tage ein Anlaß der Neugier und der Bewunderung bleiben.
Daß meine Mutter die ungerade Herkunft ihres Einzigen vor diesem zu verbergen suchte, gehört dabei sowohl zu meinen frühen Prägungen wie die Leidenserfahrung, daß ich nie mit Kasperpuppen spielen durfte. Trotzdem bin ich mit den Jahren und nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen in bürgerlichen Berufen doch so etwas wie ein reisender Artist und Possenreißer geworden, der auf wechselnden Bühnen seine Sinnbilder an der Wäscheleine tanzen läßt. Wem es gefällt, der mag darin vielleicht sogar einen signifikanten Schlag in die Richtung des Vaters sehen. Eine heimliche und aus der Tiefe in die Fläche wirkende Imago, so scheint es, hat die eingeborenen Interessen gegen alle pädagogischen Behinderungen gelenkt und den verborgenen Vater unversehens aus dem Hut springen lassen. Ich selbst habe an solche genealogischen Nachfolgewunder freilich nie recht glauben mögen. Was ich bereits in sehr frühen Jahren leidvoll wahrnahm und was mir anhaltend zusetzte, war meine familiäre Ungleichstellung vor der Weh. Was ich als Debet auszumachen vermochte, war mein wackliger Stand im Gelände, mein halbierter Stammbaum, meine in Ariernachweise und Ahnenforschungszeiten immer wieder freigelegte Wunde, die ich zu bedecken versuchte, freilich im Medium der Kunst, der Literatur, und daß mich gerade der Reim zeitlebens als meine liebste Balancierstange begleitet hat, muß man wohl auch als ein ins Ästhetische übersetztes Bemühen um Gleichstellung lesen.
Aber halt, so weit sind wir noch gar nicht. Noch stecken wir ziemlich verquer in den Bleyle-Hosen des acht – neun – zehn – elf – zwölf Jahre alten Schülerleins. Noch haben wir zunächst einen Blick auf das jugendliche Nervenbündel zu werfen, dessen reales Bewährungsfeld die Schule war und die Kunst allenfalls ein läßlicher Zeitvertreib. Zwar habe ich in diesen vergleichsweise frühen Kinderzeiten auch schon gedichtet und Verschen verfaßt. Und gewiß habe ich aus diesen protoliterarischen Hervorbringungen bereits eine Art von Selbstgenuß gezogen, den meine schulischen Leistungen mir nicht verstatteten. Rückblickend sehe ich freilich eher ein von den unterschiedlichsten Interessen hin- und hergezogenes Kleinlebewesen, charakterologisch merkwürdig ungeprägt und begabungsmäßig nur vage umrissen. Man muß sich wirklich wundern, daß sich die Lust an der Poesie dann irgendwann als künstlerischer Leittrieb herausgeschält und die jugendliche Fließfigur sich zur faßlichen Gestalt errafft hat. Ja, wenn meine Kunst doch wenigstens einen anderen Namen getragen und ein netteres Ansehen gehabt hätte. Ein früh-markanter Geigenstrich zum Beispiel oder ein bombensicherer Pianoanschlag, so etwas hätte die Mitwelt vielleicht aufhorchen lassen – damit konnte ich aber nicht dienen. Oder wenn ich doch wenigstens eine ansprechende Gesangsstimme besessen hätte, beziehungsweise die von mir immer höchst bewunderte Fertigkeit, ein paar Noten vom Blatt zu singen – auch davon konnte leider nicht die Rede sein. Ein herausragender Sinn für Farbe und Form oder ein mimetisch hochentwickeltes Zeichentalent hätten sicher auch mit einigem Aufmerken rechnen können – ich konnte nur meine Lehrer einigermaßen treffend karikieren, was mir allerdings mehr Tadel als Beifall einbrachte. Zwar dilettierte ich in allen möglichen Künsten mit Leidenschaft, aber bei Lichte besehen, ließ sich kaum von irgendwelchen bemerkenswerten Himmelsgaben sprechen. Meine schulischen Tätigkeitsnachweise bezeugen eher eine beleidigende, wenn nicht niederschmetternde Durchschnittlichkeit. Nach Meinung eines Klassenlehrers dem mittleren Drittel zuzurechnen – was ja nichts anderes als unauffälliges Mittelmaß hieß – hatte ich sogar immer zu strampeln, um wenigstens dieser Mittelmäßigkeit genügen zu können, und je weiter ich mich später in der Oberschule emporarbeitete, um so lächerlicher kontrastierten meine Leistungen gegen den mütterlichen Erwartungshorizont. Nein, ich war keine wie auch immer augenfällige Frühbegabung. Selbst im deutschen Aufsatz – wo man vielleicht ein angemessenes Kompensationsfeld hätte vermuten können – war ich gerade eben „gut“, also wieder mal nichts besonderes, was allenfalls zu der Hoffnung berechtigen mochte, daß noch einmal ein Volksschullehrer mit dem Schwerpunkt Deutsch aus mir werden würde.
„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ist eine Sache (das heißt die Sache von wirklichen Hochbegabungen) – die Geburt der Poesie aus dem Geist der Tragödie eine andere. Tatsächlich begannen sich meine diffusen Talente erst zu einiger Kenntlichkeit zu entfalten, als ich zwischen meinem achtzehnten und zwanzigsten Lebensjahr in die Turbulenzen einer nun wirklich extraordinären Zwangsneurose geriet. Was es mit solchen spätpubertären Störungen auf sich hat, können Sie in den einschlägigen Fachbüchern nachlesen, meinetwegen auch in meinem eigenen Memoband Die Jahre, die Ihr kennt. In ihm hatte ich mir die (mittlerweile über zwanzig Jahre zurückliegenden) Verwerfungen als Grundstörungen in der sozialen Privattektonik zurechtzureimen versucht, was sie sicher einerseits auch waren. Andererseits neige ich heute eher dazu, sie als individualpsychologisch begründete Versagungsängste zu lesen, Angst vor dem bevorstehenden Auszug ins tätige Leben, Angst vor dem Abschied vom Mutterhaus, Angst, den Anforderungen des Studiums genügen und in der Welt meinen Mann stehen zu müssen. Übergreifend ließe sich wohl am ehesten von Angst vor dem Erwachsenwerden sprechen, denn daß die Verstörungen sich mit allen Merkmalen einer Anorexie anließen, einer pubertären Magersucht also, ist ja ein deutliches Zeichen. Wie es bei seelischen Krankheiten so geht, sprechen sie freilich eine metaphorisch verkleidete Sprache, die die Gemeinten dann oft als Letzte entschlüsseln können. Ähnlich wie die Sinnbilder der Poesie verhüllt auch die symbolische Ausdrucksweise der Neurosen oft ebenso viel wie sie zum Ausdruck bringt. Wie dunkle Vexierrätsel blicken sie ihre Produzenten an, die gleichzeitig die unfreiwillig Leidtragenden sind, interessante und bis heute noch nicht gänzlich aufgeklärte Zusammenhänge zwischen der Körpersprache der Dichtung und den Ausdrucksgebärden der Krankheit, wobei die Künste wiederum der befreienden Entwicklung von Komplexknoten dienen können. Zu meiner eigenen Leidenslage will ich nur so viel bemerken, daß ich schließlich nur noch in gekrümmter Stellung auf unserem Wohnküchensofa dahinvegetieren konnte, und daß der Versuch, die selbstgewählte Couch zu verlassen, augenblicklich von Krampfzuständen begleitet war, quälenden Eingeweidespasmen, auch asthmatischen Beängstigungen, und daß das unheilvolle Körpergeschehen gleichzeitig mit einem gesteigerten Trieb zur Selbstbeobachtung einherging. Ich lauschte mit bösen Vorahnungen auf mein verqueres Innere, und die verzogene Besaitung begann sich um ein übriges zu verspannen. Ich verfolgte so unschuldige Lebensvorgänge wie das Essen, das Kauen, das Schlucken mit einem mehr als ungesunden Interesse und mit dem Erfolg, daß mir der Appetit nun restlos verging. Ich begann meinen Atem zu behorchen und auf das regelmäßige Auf und Ab der Lungen zu achten, was dann sofort von Atemnot gefolgt war und mich hilflos nach Luft japsen ließ. Nur noch zur Nacht konnte ich mich in einen halbwegs von Ängsten und Zwängen verschonten Schlaf flüchten, bis ich auch den Übergang zwischen Wachen und Verdämmern zu beobachten begann, und kaum daß sich ein zartes Diaphragma von Vorschlaf um mich gebildet hatte, zerriß auch dies schon wieder unter den Klauen des ewig wachen und unendlich gefräßigen Bewußtseins. Kurzum, es war schließlich kaum noch irgendeine unwillkürliche Lebensäußerung zu denken, die nicht schneller als postwendend von dem fürchterlichen Huckauf gefolgt und unterbrochen wurde, und irgendwann erwischte er mich sogar noch beim Lesen, weil sich das Auge – zack – seines Umspringens am Zeilenende bewußt wurde – zack –, was den Zusammenhang des Textes und die organische – zack – Kontinuität der Sätze in lauter – zack – nur noch mechanisch zu begreifende Druckeinheiten zerstückelte.
Ich möchte Sie nun wirklich nicht über Gebühr mit solchen unliebsamen Sensationen unterhalten – nachher kommen Sie sich noch in ähnlicher Weise auf die Sprünge, auf die Schliche, und mit Ihrer Ruhe ist es dahin. Ich unterstelle allerdings, daß Sie vergleichbare Phänomene längst aus der Erfahrung kennen, nur daß Sie sie dann schleunigst verdrängt und mit dem Mantel des Vergessens zugedeckt haben. Gerade vor kurzem erzählte mir eine gute Freundin, daß sie soeben einen größeren Scheck habe ausstellen wollen und daß sie angesichts der lauernden Blicke des Bankkassierers nicht einmal mehr ihre zügige Unterschrift absatzlos zuwege gebracht habe. Ein guter Bekannter und Jazzliebhaber berichtete von einem schier unabwendlichen Hustenreiz, der ihn einmal mitten in einem Keith-Jarett-Konzert befallen hatte, obwohl, nein, gerade weil er wußte, daß der Maestro auf solche Störungen manchmal ziemlich ungnädig reagieren konnte – im Ernstfall mit dem Abbruch des Konzerts. Um das befürchtete Zuklappen des Pianodeckels zu vermeiden, habe er sich schließlich spitzfüßig aus dem Saal entfernt, und auch da habe ihn die Furcht vor einem Fehltritt sogleich zu einem bösen Verstolpern verleitet. Wie gesagt also, es ist in allen, jedenfalls ansatzweise; aber wenn der böse Selbstbeobachtungszwang schließlich jede natürliche Regung hintertreibt, kann man eigentlich nur noch drei Kreuze hinter das eigene Dasein schlagen, es sei denn, man entschließt sich zu pharmakologischen Lockerungen, die aber auch das wahre Leben ja nicht sind.
Um Sie nicht mit derart pessimistischen Aussichten in die nachfolgenden Feierlichkeiten zu entlassen, möchte ich Ihnen als tröstendes Dichterwort zurufen: „Keine Angst, der Verfasser lebt noch“, ja, er hat sich sogar dazu verleiten lassen, seine Verstörungen in seine literarische Signatur zu übernehmen. Immerhin gab es für den seinerzeitigen Patienten noch ein winzigschmales Schlupfloch, eine Nische, einen positiven Bezugspunkt gegenüber dem heillos progredierenden Bewußtsein, und der war dort zu suchen, dort zu finden, wo der spontane Einfall, der Gedankenblitz, der momentane Lichtblick sich als vergleichsweise ratio resistent erwies. Während ich zusammenhängende Gedankengebäude schon gar nicht mehr aufführen konnte, sah ich mich gleichwohl ständig von partikelhaften Anwehungen begleitet, einem lichten Schlenker hier, einem signifikanten Wischer dort, und da sie mir allemal gehaltvoll, reizvoll und lebendig schienen, begann ich mich an diese Elementarteilchen zu klammern, als wären sie ein ganz besonderer und unveräußerlicher Besitz. Mit zerbröckelnder Schrift – auch mein flotter und absatzloser Sütterlinduktus hatte sich in ein unschönes Buchstabengedruckse aufgelöst – brachte ich diese flüchtigen Auflichtungen meines Inneren augenblicklich zu Papier, und tatsächlich, wenn ich heute wieder mal in diesen alten von Blitzen zersiebten Papieren blättere, sehen mich die Rapidnotate von gestern gar nicht einmal so altbacken an. Ob es Ihnen nun merkwürdig im positiven oder bedenklichen Sinn erscheint: diese besondere Art, spontan und auf die Reize der Außenwelt und die Ausschläge des Innenlebens zu reagieren, ist mit der Zeit eine eigene literarische Methode für mich geworden, zumindest Teil einer Methode, denn wo das klug Ausgedachte, mühsam Ertüftelte und perspektivisch Vorausgeplante meist gar nicht den Verrottungshorizont des öffentlichen Kommunikationsgeredes überschreitet, sind es oft genug diese aus der Art geschlagenen Kollisionsfunken, die dem grauen und allgemeinen Bla-bla ein seltsam illuminiertes Aha entgegensetzen.
In einer sogenannten „Einfallskunde“ aus dem Jahre 1979 habe ich mich mit diesem quantenweisen Erfassen der Wirklichkeit schon einmal eingehend auseinandergesetzt. Sie können die Betrachtungen im Anhang des Gedichtbuches Haltbar bis Ende 1999 jederzeit nachlesen. Freilich habe ich auch dort schon zu bedenken gegeben, daß geblitzt natürlich noch lange nicht gebaut ist und gefunkt noch nicht richtig verfaßt. Genau an diesem Punkt – das heißt an dieser vorwärtsweisenden Problemstelle, wo die einmalige und unwiederholbare Wahrnehmung nach nichts so sehr verlangt wie nach Verfassung und literarischer Vergesellschaftung mischt sich noch einmal ein neues Buch aus diesem Jahre ins Gespräch. Sein Titel: Selbst III/88. Sein Untertitel: „Aus der Fassung“. Und sein poetisches Bestreben: Die Konstruktion einer lyrischen Galaxis aus Tausenden von disparaten Einzeleinfällen einmal an einem handlichen Modell vorzuführen. Es verzeichnet auf – sage und schrieb – 730 Seiten DIN A 4 den Bildungsgang eines einzigen Gedichtes, eine einigermaßen singuläre Wahnsinnsunternehmung, wie ich hoffe, die dann allerdings wie jeder ernstzunehmende Wahnsinn auch Methode haben kann. „Statt mir die Erde als einen konkret zu bearbeitenden Klumpen Lehm vorzunehmen“, steht dort geschrieben, „halte ich mich lieber an die zahllosen versprengten Lichteinfälle, die mich in guten Stunden erreichen, und die ich mir schon in jungen Studentenjahren als ,Quanten‘ zu bezeichnen angewöhnt habe.“ Das entspricht in gewisser Hinsicht meinen Bemerkungen von vor zehn Jahren, setzt dann aber noch einmal neu zu einer genaueren Beschreibung der numinosen Vorgänge an. „Wo immer ich gehe, stehe, sitze, liege oder fliege“, heißt es nämlich weiter, „rast, flattert, flimmert, wedelt, taumelt, fegt und schwebt so viel poetischer Leuchtstoff auf meinem inneren Wahrnehmungsschirm vorbei, daß ich ihn in der Eile weder verbinden noch zur Ordnung rufen kann, und den ich (statt ihn einfach in den städtischen Müllsack segeln zu lassen) in diesem vorläufigen Zustand einer ersten Anwehung festzuhalten suche.“ Man kann, wo wir schon so weit ins vergleichende Reden abgeglitten sind, natürlich auch von „Fragmenten“ sprechen, „Athenäumsfragmenten“ wie die Brüder Schlegel, von „Blütenstäuben“ wie Novalis. Man kann sich dem Phänomen über Walter Benjamins „Kurze Schatten“ nähern oder über die „Fenster“, „Fotos“ und „Momentaufnahmen“ Arno Schmidts. Man kann sich – wenn einem mit der Freude über die Einmaligkeit gleichzeitig deren gräßliche Hinfälligkeit zu schaffen macht – auch in die Nachbarschaft so illuminierter Augenblicksanbeter wie Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche begeben, bis einem das erfleht-erhoffte Einmalnoch zum rappelnden Noch-einmal-und-noch-einmal und schließlich zur „Ewigen Wiederkehr“ gerät. Man kann, in ungeordneter Reihenfolge, aber auch an Lichtenbergs „Sudelbücher“ denken oder an Pounds und Joyces „Epiphanien“ oder an Karl Bühlers „Aha-Erlebnisse“, was in jedem Fall bedeutet, daß wir es mit scharf und unsystematisch gerissenen Erkenntnisfetzen zu tun bekommen, die uns die schwer durchschaubare Welt vorübergehend aufhellen und uns dann mit unseren lichten Ahnungen allein lassen.
Der Einfall ist die kleinste belebte Einheit des Gedichtes, fraglos seiner selbst sicher und doch zugleich der Ausdruck universaler Fassungslosigkeit. Als Lichtblick oder Begleitschatten spiegelt er die Gereiztheit des Subjektes an einem bestimmten Zeitpunkt und an einer bestimmten Stelle, wobei allein der bewegende Moment die Flugbahn der Gedanken vorgibt und ihnen ihre unverwechselbare Gelegenheitsfarbe verleiht. An ihrer flüchtigen Verlaufsform gibt es im nachhinein meist gar nicht mehr viel zu verbessern. Was sie auszeichnet vor einer Welt geschlossener Systeme (auch dem formalen Ordnungssinn von regelrechten Strophen) ist ja gerade ihre unüberlegte Sprunghaftigkeit, Leichtfertigkeit und Treffsicherheit – sie schlenkern so hin und sitzen. Woran wir uns freuen sollten, ist ihr mit Kunst allein nicht zu erwirkender Improvisationsgeist, der ihnen bleiben muß, auch wo sie sich mit unseren staats- und hüttenbildenden Kulturidealen nur schwer zusammenspannen lassen. Allenfalls gewisse statistische Regelmäßigkeiten lassen sich vielleicht zu einem Gemeinschaftsprofil hochrechnen: besondere Neigungsstereotypen oder unverwechselbare Aversionskonstanten; methodisch verbohrte Zwangsgedanken oder markant aus der Richtung weichende Hoffnungslinien; charakterologisch signifikante Massierungen also, die bei späteren verwertungstechnischen Überlegungen freilich wieder entflochten, entmischt und einem ästhetisch geordneten Ganzen zuliebe umverteilt werden müssen.
Der Romancier, der seine Figuren zielstrebig und am Faden einer vorbedachten Handlung, sei es ins Weite, sei es durch die Verkaufsabteilungen von Hertie / Karstadt / KadeWe geleitet, ist hier gewissermaßen das durch perspektivisches Sehvermögen ausgezeichnete Gegenbeispiel. Er weiß, wohin er seine Helden haben will und koloriert dann die jeweiligen Entwicklungsstationen mit frisch erinnerten oder neu recherchierten Farben aus der wirklichen Welt. Derartige zweckdienliche Erkundigungen gibt es zwar auch auf der Fertigungsebene des Gedichtes, denn wer ein Beispiel aus der eigenen Praxis – auf den Schlag die hundert auf dem Markt verfügbaren Speiseeissorten herbeten will, muß sich vorher schon mal auf den Anschauungstafeln der Firmen Schöller, Warncke und Langnese umgesehen haben. Das betrifft den Bildungsprozeß des Gedichtes aber erst in zweiter oder dritter Instanz. Womit sein Autor zunächst zu rechnen hat, ist vielmehr ein Myriadenheer von unzusammenhängenden Wahrnehmungs-, Beobachtungs- und Empfindungspartikeln, die manchmal noch nicht einmal den Qualitätsansprüchen eines Aperçus, eines Epigramms oder einer parabolischen Leuchtspurgarbe genügen. Nehmen wir als heuristischen Ahnungshauch wenigstens so viel zur Kenntnis, daß es sich um versprengte Massenteilchen aus dem Sternbild „Lyra“ handelt (von uns ab jetzt so benannte „Lyriden“), die sich ihrer verlustig gegangenen Heimat wegen einer utopischen Sammelstätte namens Lyrik entgegensehnen. Dies nämlich läßt sich doch wohl ohne Unterstellung behaupten, daß sie der Vereinzelung entkommen und zueinander in Beziehung treten möchten, alle wie sie da sind. Ihr ganzes nervöses Flimmern, ihr erregtes Pulsieren, ihre motorische Zappeligkeit hat im Letzten mit jener ungestillten Beziehungssucht zu tun, die der Vereinzelung anhängt wie die Angst dem Bewußtsein, wie der Schmerz der Wunde, nur daß sie das erforderliche technische Ordnungsvermögen leider nicht von sich aus besitzen, und daß die Göttinnen/Götter vor das erhoffte Vermählungswerk immer noch als probatestes Bindemittel den guten alten Schweiß gesetzt haben.
Schweiß, Mühe und Arbeit, meine verehrten lieben Damen und Herren, lassen sich eher bereden als belegen – ich glaube aber, daß dies dicke Buch in meinen Händen doch so etwas wie ein document humaine darstellt. Ich habe sie nämlich wirklich alle gesammelt, die unansehnlichen Schweißtropfen, die mir während der Arbeit von der Stirn geronnen sind. Sie haben neben meinem Schreibtisch eine eigene Salzlache gebildet und ein eigenes Sediment abgesetzt, und was Sie hier vor sich sehen, ist sozusagen ein vielschichtiges Petrefakt. Weil man über das Dichten und das sinnbildliche Reden eigentlich nur in Bildern sprechen kann – und die Bilder dann ihrer Natur gemäß leicht zu weiteren Vergleichen und Metaphern überleiten, ließe sich natürlich auch an Sägemehl und Hobelspäne denken, meinetwegen auch an Verschnitt, an Scheite oder Scheiter, und das sind sie dann wiederum in einem ganz besonderen Sinn: Zeugnisse oder Hinterlassenschaften einer ständig vom Scheitern bedrohten Wegstrecke, von der man erst im Nachhinein sagen kann, daß sie doch auf einen strukturierten Längsschnitt hinauslief.
Daß mein Leben über lange Zeiträume auch eine ziemliche Scheiterstrecke war, bitte ich nicht nur als spielerischen Gedankensprung zu betrachten, es gibt da schon Entsprechungen. Ich bin auf der Schule sitzengeblieben und auf der Universität nicht bis zu den höheren Weihen vorgedrungen, schon gar nicht in greifbare Nähe zu einem Doktorhut. Ich hatte über den Reim bei Gottfried Benn und Bertolt Brecht promovieren wollen und nur leider das Wohlwollen unseres seinerzeitigen Ordinarius Hans Pyritz nicht dafür gewinnen können. Ich hatte mich dann an eine Arbeit über Hans Henny Jahnns Romane gewagt, zumal über den Fluß ohne Ufer, was freilich seinerseits ein uferloses Unternehmen wurde, bis der genannte Lehrherr mich aus unterschiedlichen Gründen aus seinem Seminar verbannte. Obwohl ich mich zwangsläufig für einen Versager halten mußte, hat mich auch der Zwang zur Selbstpromotion lebenslang begleitet, und da ich mich in den herkömmlichen akademischen Disziplinen gescheitert sah, habe ich mir oft genug meine eigenen Disziplinen aus dem Boden stampfen müssen. Ich habe eine literarische „Strömungslehre“ geschrieben (eine Wissenschaft, die es vor mir nicht gab) und eine „Einfallskunde“ verfaßt, was nun schon völlig ein Begriff aus dem Jenseits war. Ich habe mich an einer „Naturgeschichte“ des Reims versucht und eine Theorie der für solche literar-akustischen Phänomene zuständigen „Anklangsnerven“ entworfen. Ich habe mich schließlich noch an so etwas Unbegreifliches wie eine „Kleine Fleckenkunde“ gewagt – vielleicht um sogenannten moralischen Makeln eine literarische Rechtfertigung nachzuliefern – vielleicht auch nur, um den reinen Wissenschaften ein paar unverfängliche Kleckse an den Rock zu hexen. Nur eines ist mir trotz heißestem Bemühen nicht gelungen: mir mit solchen Künsten die Liebe oder die Achtung der hamburgischen Alma Mater zuzuziehen, sie ist mir eine Rabenmutter geblieben, auch als die alten Feudalherren schließlich abtraten oder hinsanken und die neuen Revolutionsprofessoren dort das Regiment übernahmen. Sie werden also verstehen, daß ich die erbauliche Idee, mir hier in Gießen einen Doktorhut zu walken, mit ganz besonderer Genugtuung zur Kenntnis nehme. Ich danke allen, die sich meine Rehabilitation eine Aufgabe sein ließen, vor allem dem Herrn Professor Oesterle vom Fachbereich Germanistik, und ich danke herzlich auch den jungen Damen, die mir diese schöne Ausstellung im Foyer Ihres Hauptgebäudes ausgerichtet haben.
Nur eines möchte ich zu deren Information und Ihrer Belustigung noch hinzufügen. Beim Zusammenstellen der Exponate hatte ich lange nach einem Gedichtzitat für die dort zu betrachtende Hut-Galerie gesucht, es hatte mir nur leider nicht einfallen wollen. Eine kleine Weile später kam mir aber doch noch eine passende Stelle in den Sinn, sie ist kurz und lautet folgendermaßen:

Und behalten Sie den Hut bitte gleich oben; solch ein Schweißband hält nämlich die Gedanken viel besser zusammen.

Das fotokopieren Sie doch bitte auf Ihrem Rank-Xerox-Gerät und schicken es mit meiner Widmung an die philosophische Fakultät der Uni Hamburg – vielleicht, daß man sich dort einmal bedenkenvoll an die freie und hansestädtische Schlafmütze faßt.

Peter Rühmkorf, aus Astrid Keiner und Günter Oesterle (Hrsg.): Ein Dichter mit und ohne Hut. Dr. h.c. Peter Rühmkorf, Verlag der Ferber’schen Universitätsbuchhandlung, 1991

Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden?

– Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf. –

Manfred Durzak: Herr Rühmkorf, in einem Ihrer Gedichte, das in dem Band Gesammelte Gedichte erschien und den Titel trägt: „Schluß der Audienz“, finden sich einige sehr schöne ironische Verse:

Friedlich
in meinen Chippendale-Sessel gelehnt
(das sei überhaupt keine Stellungnahme? Es ist die meine!)
fülle ich meine Person mit der unverbindlichen Abendluft.
Ja, ich entwickle hier noch meine eigene Klassik.

Es sind natürlich ironische Verse, aber vielleicht ist es erlaubt, im Sinne eines kleinen Versuchsballons, den man hochgehen läßt, diese Verse einmal ernst zu nehmen, was die Aussage „ich entwickle hier noch meine eigene Klassik“ betrifft. Sind Sie nicht inzwischen in der Situation, daß Sie selbst historisch zu sehen beginnen, was Ihre Leistung in der deutschen Gegenwartsliteratur, was Ihre eigene lyrische Produktion betrifft? Sind Sie also mit anderen Worten nicht in der Tat dabei, ein Klassiker zu werden, vielleicht auch mit jenen Widerhaken, die sich in einer Rezension von Piontek erkennen lassen? 1965 notierte Piontek, als Krolows gesammelte Gedichte zu seinem 50. Geburtstag erschienen, folgendes:

Gewöhnlich bekommt man hierzulande erst dann die Chance, seine Gedichte zusammenzufassen, wenn man nur noch geehrt, aber nicht mehr gelesen wird.

Sind Sie also dabei, ein Klassiker zu werden, oder sind Sie gar schon einer?

Peter Rühmkorf: In diesem Sinne wohl kaum. Die Frage nach der Klassik und nach dem Klassischen hat dabei viele Einfallstüren, und durch alle möchte ich am liebsten gleichzeitig gehen. Halten wir uns der Übersicht halber zunächst einfach an das Zitat. Wenn ich einmal gesagt hab – wann war das noch? – „Ja, ich entwickle hier noch meine eigene Klassik“, dann war das gewiß zu zwei Dritteln ironisch gemeint. In einem Chippendale-Sessel so etwas wie eine Balancierunterlage sehen, richtiger wohl, etwas wie einen gutgepolsterten Ruhesitz, in dem nichts mehr schmerzt und nichts mehr drückt und an dem auch die Widrigkeiten des Lebens dann gar nicht mehr ruckeln können, das kann ja nur eine ziemlich sarkastische Selbstanzeige sein. Praktisch habe ich solche Positionen dabei wohl selten eingenommen. Praktisch hab ich ja immer angesichts von gewissen Fallhöhen operiert. Trotzdem – sicher – gibt es dann schon mal so Anwandlungen, wo man sich fragt: wie ist deine Stellung in der Welt, wie sehen deine Freunde aus und wie deine Gegner, welche Vorstellungen von individueller Abweichung möchtest du unbedingt hochhalten, und was ist daran bereits privater Luxus oder unverbindliches Geschnörkel? Mit einem Schreibtisch zwischen sich und der Welt hält man sich die Gefährdungen natürlich auch ein bißchen weit vom Leibe. Nichts kommt mehr so ganz direkt an einen ran. Auch den unheilvollen Weltzustand betrachtet man aus dieser gewissen klassischen Entrücktheit. Also, da muß man sich fragen lassen dann, beziehungsweise, man fragt sich am besten gleich selber: bist du noch deine eigene Versuchsperson, die du rücksichtslos und unvorsichtig ins Leben hineinbuffst, oder machst du es dir bereits auf deinen eigenen Lebenssedimenten bequem. Sediment, das ist ja wirklich eine grauenhafte Zustandsform. Eigentlich das Gegenteil von spannungsvoller Balance. Etwas in Frieden Abgesetztes. Ich könnte auch sagen, Abgestandenes. Also, wenn du merkst, daß dein Bedürfnis nach Weltharmonie und Lebensbalance in der bloßen Kalkablagerung sein Genüge findet, dann gilt es, diesen klassischen Vorruhestand mal kräftig zu unterminieren. Mit einem anderen Bild – wieder auf unseren Chippendale-Sessel zuführend –, ich bin der Wurm in meinem eigenen Ruhestandsmöbel.

Durzak: Das ist ja eine interessante psychologische Erklärung dieses Zustandes, möglicherweise ein Klassiker zu werden: diese Balance, die sich herstellt zwischen den Dingen, die einen belagert haben, die Probleme gewesen sind, und dem eigenen subjektiven Zustand. Beides wird also in Einklang gebracht. Das ist ja mit einem gewissen Aspekt von Zufriedenheit, vielleicht sogar von Glück verbunden. Dieses Zustandsgefühl ist sicherlich seltener in den vorangegangenen Jahrzehnten Ihres Lebens vorhanden gewesen. Ich habe diesen ironischen Köder in Ihren Versen aufgegriffen, um auch ein bißchen auf gewisse Klischees in Ihrer Wirkungsgeschichte hinzuweisen. Denn man könnte ja sagen, Rühmkorf ist klassisch geworden in dem üblichen Sinne – Sturm-und-Drang-Zeiten, intensives politisches Engagement, starke Präsenz in den Medien, Mitarbeit an einer umstrittenen Zeitung – alles das hat er sozusagen wie Schlacken abgeworfen, er hat sich auf sich selbst konzentriert, lebt auch jetzt zeitweilig in einem idyllischen Bauernhaus in der schleswig-holsteinischen Landschaft. Alles das könnte ja im mißverständlichen Sinne auch als ,Klassischwerden‘ unterstellt werden in dem Sinne, daß die Wirklichkeit sozusagen zurücktritt und daß die Widerstände, die man in den vergangenen Jahrzehnten zu bewältigen hatte, keine große Bedeutung mehr haben. Das ist gewiß ein Mißverständnis?

Rühmkorf: Bauernhäuser haben vor allem eines an sich, sie haben Fassade. Daß ich Fassade liebe und immer an Fassade gehangen habe, muß ich gewiß erklären. Auch der Ausdruck Pokerface hat für mich etwas ungemein Verlockendes, Anziehendes – ich habe nämlich keines. Im Gegenteil haben mich Irritationen in meinem privaten Dasein und in meinem Gedankenleben – auch politische Zwiespältigkeiten – immer derart mitgenommen, daß sie sich sofort in meinen Gesichtszügen spiegelten. Wenn irgend etwas in den Grundlagen verrutscht oder gegensätzliche Wertvorstellungen an einem rumzerren, dann verzerrt sich sofort auch meine öffentliche Miene. Meine Nerven sind eigentlich noch genauso reizanfällig wie zu meinen schlimmsten Jünglingszeiten, und insofern kann man sich schon mal sagen, Arbeiter- und Bauernhäuschen, in Ordnung, klassizistischer Eindruck, auch gut, Hauptsache, die Mitwelt kann einem nicht frontal in die Karten gucken. Warum ich überhaupt so lange darauf eingehe? – es sind reine Ressentiments. Ich hasse diese Künstlertypen, die auf jeder gebotenen Gelegenheit die Kultfigur raushängen lassen. Und ich bin auch entschieden dafür, daß man sich unter Mitbürgern erst mal als Bürger bewegt, wobei man sich meinetwegen dreimal fragen kann, ob das womöglich auch eine Rolle ist.
Mit dem Bild, das sich mir bei Ihren Fragen einstellt – also ob man da etwas ausgereift in einem eigenen Himmel hängt – na, ich weiß nicht so recht. Für abgeklärt halte ich mich in keinem Fall, und was von außen vielleicht so aussieht, das fühlt sich von innen ganz anders an. Auch diese Gliederung, die Sie meiner Biographie da eben haben angedeihen lassen, scheint mir einigermaßen schematisch. Sie übersieht, überfliegt die wirkliche Dialektik der inneren Biographie und trifft nicht einmal auf das äußere Curriculum vitae zu. Sehen Sie mal, im Augenblick sehen Sie mich doch auf allen möglichen Bühnen herumtanzen oder vielleicht auch trommeln, pfeifen und für bessere politische Zustände werben. Das heißt, genaugenommen, für die bessere Möglichkeit SPD. Und da grenzt dieser aktuelle Paukboden sogar ziemlich nahtlos an die öffentliche Austragungsebene meiner Kinder- und Jugendzeiten an. Mißverständnisse und Mißkennungen rühren dabei meist nur aus der Unkenntnis meiner wenig aufregenden Aktivitäten her. Wenn Günter Grass mich also bezichtigt – wie das neulich mal vorgekommen ist –, ich hätte mich aus der Tagespolitik ins Schneckenhaus der Selbstbetrachtung zurückgezogen, dann heißt das doch nur, daß Grass in der Zwischenzeit auf anderen Hochzeiten aufgespielt hat, möglicherweise Jubelhochzeiten, Fernsehübertragungen, auf denen ich nicht anwesend war. Aber in der Zwischenzeit war ich dann vielleicht bei den „Ärzten gegen den Atomtod“ oder bei den „Naturwissenschaftlern für den Frieden“ oder bei „Poets and Artists for Nuclear Disarmament“, und da fühl ich mich dann auch eher als Dienstmann und gar nicht so sehr als Diva. Gerade neulich haben wir mal wieder mit unserer alten Mischung „Jazz und Lyrik“ im Landestheater Schleswig gastiert, und eben nicht, um den Museen als solchen zu opfern, sondern um unsere musikalischen Fähigkeiten in den Dienst von gemeinsamen politischen Idealen zu stellen.

Durzak: Das ist im Grunde auch mein eigener Eindruck, den ich ja an einigen Erfahrungen, die Sie betreffen, bestätigen kann, also beispielsweise Ihr Auftreten jetzt vor wenigen Tagen auf einer Konferenz in Lübeck, wo es um die Probleme von Literatur in Schleswig-Holstein ging. Da sind Sie aufgetreten, Sie sind auf dem Künstlerabend in Kiel aufgetreten usw. Was sich offenbar geändert hat, ist die Aufmerksamkeit der Medien, und das ist natürlich der Unterschied zu Grass. Grass ist noch immer ein Medien-Ereignis und von daher im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit sehr viel stärker präsent, während Sie Dinge mit der gleichen Intensität auf einer anderen Ebene betreiben, ohne daß die Medien das nun unmittelbar dokumentieren. Es hat ja mal eine Zeit gegeben, wo Sie sehr viel stärker in den Medien präsent waren.

Rühmkorf: Ja, das stimmt. Aber die Gelegenheiten sind doch vergleichsweise geringfügig, und die Umstände derart bescheiden, daß man ein Medieninteresse kaum voraussetzen kann. Ich sage das gar nicht aus übergroßer Bescheidenheit meinerseits. Wer Politik sagt, der sagt notwendig Breitenwirkung. Und er sagt auch Vervielfältigung und Akkumulation, und insofern wäre es mir schon lieb, wenn sich aus unterschiedlichen Rinnsalen richtige breite Gewässer bildeten, überhaupt nichts dagegen. Es ist nur eben so, daß ich ein Mann der kleinen Form und des begrenzten genossenschaftlichen Rahmens bin, und da kann man nicht verlangen, was die Medien nicht mitempfinden. Mir haben mehrerlei Leben offengestanden, ich hab mich da entscheiden, auch bescheiden müssen, und manches, was großen Effekt macht, macht mir keinen Spaß mehr. Nervlich zuwider und ganz und gar gegen den Strich geht mir zum Beispiel der Präsentierteller. Offizielle Rollen und offizielle Anlässe sind mir ein Greuel. Als da neulich in Hamburg der PEN-Club tagte, hab ich mich meines Sonnenbalkönchens erfreut, das ist mein Freiluftbüro, indem ich über dem Elbstrand schwebe und meine Privatwolken hüte, das ziehe ich in jedem Fall dem CCH-Center-Mief vor. Daß das vielleicht unklug ist, weiß ich auch. Daß das in diesem Fall ein Versäumnis war, hat Freund Günter Grass mir privatim unter die Nase gerieben, nun gut, aber was ist auf dieser verqualmten und verquaselten Tagung denn nun praktisch Erleuchtendes herausgekommen? Nein, auf solchen Öffentlichkeiten verschließt sich mir alles, zumal Verbandsleben steht mir fern, und das nun gar nicht mal, weil ich nicht bündnisfähig wäre, sondern weil ich keine Lust hab, mit all den Individualnarzißmen und Alleinvertretungsansprüchen zu kämpfen, zu ringen. Aber über die Dörfer geh ich nun wirklich, auch im Verbund mit anderen Künstlern, und da wirken wir dann in diese kleine Diaspora hinein. Man sollte vielleicht auch bedenken, daß überall versorgungsbedürftige und genossenschaftslüsterne Menschen sitzen. Und, soll ich Ihnen mal sagen, was die wollen? Die wollen erbaut und erhoben werden, angesprochen als einzelne und trotzdem zur Solidarität ermuntert, das ist uns bei gutem Rückenwind und günstigen akustischen Bedingungen dann auch öfter gelungen. Eigentlich verkörpern wir, na, sagen wir, versinnbildlichen wir – als Gruppe von Außenseitern – ja beinah ein klassisches Ideal. Wir beweisen unserm Publikum, daß das Musenkind keine politische Unperson sein muß und daß der Homo politicus gelegentlich ganz schöne Privatmusik machen kann, beziehungsweise ganz schön verrückte Verse in die Welt entlassen, und an dieser Harmonie der Gegensätze wirken wir nun schon seit einigen zwanzig Jahren. Anders gesagt, wir wollen mutmachende Beispiele geben. Beispiele mit vielen Längsrissen und Quersprüngen, das ist wohl wahr. Harmonikale Vertrauensmuster, die vielleicht gerade deshalb vertrauenswürdig sind, weil sie die Grunddissonanz von Individuum und Gesellschaft, ich könnte auch sagen von privater Freiheitslust und sozialem Gleichheitsgebot erst mal richtig kräftig auf allen uns zur Verfügung stehenden Klaviaturen anschlagen. Aber Zerrissenheit an sich ist natürlich noch kein Programm. Der sogenannte kaputte Typ keine ernst zu nehmende Utopie, auch nicht ein Kunstideal. Was uns vorschwebt, na, vielleicht sprech ich doch lieber nur im Singular, was mir vorschwebt, ist der hochgespannte Mensch, der trotzdem mit diesen Spannungen leben kann, der aus ihnen lebt, was man dann allerdings fast nur im Medium darstellen kann.

Durzak: Ich finde, das ist eine sehr überzeugende Zurückweisung des Klischees vom Klassiker, eines Klischees, das eben auch in den genannten Versen verborgen sein könnte. Und es ist ja in der Tat so, wenn man das Beispiel ,Grass‘ aufgreift und Ihr Buch Die Jahre die Ihr kennt dagegenhält, dann staunt man wieder über diese kontinuierliche politische Arbeit bei Ihnen von Anfang an, buchstäblich ja schon vor 1945. Sie haben zudem politisch immer weiter gearbeitet und die verschiedensten Erfahrungen gesammelt. Das ist also eine komplexe und intensive Erfahrung, ein Erfahrungsvolumen, das man eigentlich kaum vergleichen kann mit politischen Erfahrungen bei anderen Autoren, auch nicht bei Grass. Das ist im Grunde etwas, das zu wenig bekannt ist im heutigen literarischen Leben. Interessant war ja auch die Reaktion, die es gegeben hat bei Grass-Freunden und bei Grass selbst über Ihre Kommentierung der politischen Anfangsphase bei Grass, daß er eben über das Godesberger Programm nicht hinausgekommen sei. Das ist viel zitiert und als arrogantes Abkanzeln empfunden worden, aber es ist im Grunde gerechtfertigt, wenn man tatsächlich die von Ihnen dokumentierten politischen Erfahrungen gegen die politische Arbeit von Grass hält.
Aber ich will doch diesen Komplex jetzt einmal verlassen und ein bißchen die Meinung vertreten, daß Sie auf eine andere Art und Weise in der Tat so etwas wie die Statur eines Klassikers, aber eines lebendigen Klassikers erreicht haben. Es scheint mir möglich zu sein, das auf dem Hintergrund Ihrer kontinuierlichen Arbeit als Poet zu begründen. Sie haben in den verschiedensten historischen Phasen Ihre individuellen poetischen Reaktionen in Gedichten festgehalten. Deshalb scheint es mir möglich, ab 1945 sozusagen eine integrale Geschichte der deutschen Lyrik zu erarbeiten nur an den Beispielen Ihrer Gedichte. Das ist der eine Punkt, und der andere, der mir vielleicht noch interessanter zu sein scheint, hat mit einem gewissen Lob zu tun, daß Sie einmal Gottfried Benn gezollt haben. Ein Lob, das auf Sie mit der gleichen Berechtigung zutrifft. Sie haben in Ihrer Autobiographie an einer Stelle von der wirklich komplexen Dichtungstheorie gesprochen, die Benn auszeichnete und die ein unterscheidendes Merkmal war zu diesen sogenannten Lyrikern der Naturpoesie, mit denen Sie sich ja am Anfang kritisch auseinandergesetzt haben. Diese sehr komplexe Lyriktheorie läßt sich mit einer erstaunlichen Geschlossenheit auch an einer Reihe von Essays ablesen, die Sie geschrieben haben. Und jeder dieser Essays ergibt so etwas wie ein Röntgenbild einer bestimmten literarischen Entwicklungsphase in der Lyrik wieder, auch und vor allem im Rückblick, so daß beide Momente – die Kontinuität Ihrer lyrischen Produktion und der sehr intensive theoretische Diskurs bei Ihnen – zusammenkommen, so daß man tatsächlich sagen könnte, es ist ,klassisch‘ im Sinne von repräsentativ, weil es sozusagen eine Epoche enthält. Ich würde gern den Versuch machen, diese Hypothese zu begründen, indem ich auf diese Essays näher eingehe und Sie bitte, das eine oder andere oder die historische Situation des jeweiligen Essays zusätzlich darzustellen und zu erläutern.
Einer der wichtigsten Essays, der am Anfang steht, trägt den Titel „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“. Es ist ja auch abgedruckt in
Die Jahre die Ihr kennt und auch 1960 in einem sehr interessanten, alle Bereiche des damaligen kulturellen und politischen Lebens zusammenfassenden Buch erschienen – Richter hat es herausgegeben: Bestandsaufnahme. Dieser Essay nimmt nicht von ungefähr einen kanonischen Platz im Nachdenken über die deutsche Nachkriegslyrik ein. Sie haben darin als Poet und als sich mit der deutschen Restauration politisch auseinandersetzender junger Autor eine Position bezogen, die damals sehr extrem schien, aber im nachhinein sehr zu unterstreichen ist. Es geht um die Zeit, als Sie unter einer Reihe von Pseudonymen auch publizistisch aufgetreten sind: z.B. als Leslie Meier. Viel von dem, was Leslie Meier in der Tageskritik einer Studentenzeitung damals gemacht hat, ist dann sozusagen eingeflossen in diesen Essay. Können Sie vielleicht diese Hintergründe mit einigen Streiflichtern charakterisieren?

Rühmkorf: Ich will es versuchen. Dabei reizt mich ein Reizwort, das Sie eben geäußert haben, besonders, es heißt ,kanonisch‘. Solche Kanonisierungen stellen sich aber meist erst im nachhinein ein. Als das Buch herauskam, hoffte ich eher, mein Aufsatz würde vielleicht als eine Art Kanonenschlag gefeiert werden – es war nur leider in keiner Rezension von ihm die Rede. Das heißt, man erwähnte ihn in den zahlreichen Kritiken überhaupt nicht. Er war niemandem so richtig aufgefallen. Da hatte ich wirklich geglaubt, ich hätte ein paar neue Schneisen in das Unterholz der deutschen Nachkriegslyrik geschnitten, ein paar fundamentale Gedanken geäußert, ein bißchen Ordnung in das scheinbare Durcheinander gebracht, aber nichts davon zu der Zeit, im Gegenteil, von allem anderen war die Rede, nur nicht von der offensichtlich allgemein langweilenden Poesie. Ob der Aufsatz dabei an der Pariastellung einer öffentlich vollkommen irrelevanten literarischen Spezies partizipierte, ich kann es nicht sagen. Ich kann nach einigen Jahren Liegezeit für alle beteiligten Beiträger nur feststellen, daß all diese tollen Zeit-, Gesellschafts- und Kulturanalysen offensichtlich schimmelig geworden sind, daß das damals mißachtete Kindchen, aber ohne jede Zutat von meiner Seite, ganz hübsch an Gewicht zugenommen hat. Man hat den Aufsatz viele Male nachgedruckt und in Doktorschriften zitiert. Man hat ihm richtiggehend Ehren angedeihen lassen, und, das darf ich einfach mal sagen: so ist es mir mit vielen Arbeiten gegangen. Zuerst sieht man überhaupt nichts. Der Nerv der Zeit ist auf gänzlich andere Dinge gespannt, die Szenengespenster wirbeln über alle nur denkbaren Bühnen, und meine scheinbaren Abgelegenheiten kriegen öffentlich gar keinen Boden unter die Füße. Fortuna sei Dank, hab ich diese verspäteten Aha-Erkenntnisse dann öfter erleben dürfen, so daß sich aus Anfangsmißerfolgen fast eine statistische Gewißheit entwickelt hat und aus statistischen Häufigkeiten eine Art von Schicksal, man muß nur abwarten können, und irgendwann geht dem Zeitgeist dann mit Sicherheit ein Kronleuchter auf. Klingt das ressentimental? Kann es ruhig. Ich pflege meine ressentimentalen Zukunftsgewißheiten und darf immer wieder mal Auferstehung feiern.

Durzak: Sehr schön finde ich den Zusammenhang von ,kanonisch‘ und ,Kanonenschlag‘. Aber ich meine, als Kanonenschlag wurde das doch auch empfunden, sagen wir, in der Vorphase von „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“. Da hat es ja bezeichnende Reaktionen von Autoren gegeben. Die Reaktion Peter Härtlings z.B., der ungeheuer beleidigt und aggressiv reagiert hat, haben Sie ja in einem Briefauszug auch in Ihrer Autobiographie abgedruckt. Von daher war doch Wirkung da. Ich kann selber von einer meiner starken Erinnerungen als Student an den damaligen Literaturbetrieb berichten: Das war damals der ,heiße Tip‘ unter den Studenten. Abgesehen von den ,offiziellen Literaturvermessern‘ Anfang der sechziger Jahre war unter den literarisch Interessierten, sozusagen denen, die von dem Kanonenschlag getroffen wurden, schon eine große Wirkung zu spüren.

Rühmkorf: Los ging das ja alles schon in der Mitte der fünfziger Jahre. Da hatten wir die Zeitschrift Studentenkurier gegründet, die später konkret hieß, wo ich auch diese monatliche Kolumne „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“ unterhielt. Aber nun glauben Sie bitte nicht, daß ich mich damals schon einer ganz besonders positiven Resonanz erfreuen konnte. Das Gegenteil war der Fall. Was praktisch an Antworten ins Haus kam, waren Schmähbriefe. Alle geprägt von dem Ausdruck hochunachtungsvoller Beleidigtheit. Alle Welt – das heißt, die damalige geistige Welt – erklärte mich für einen Mißgünstling und Neidhammel. Himmel ja, wir hatten als ganz junge Menschen eine eigene Zeitschrift und konnten darin alles ungeniert drucken, was uns am Herzen lag oder an die Nieren ging, das konnte andererseits schon Neid auslösen. Dann nannte man mich einen Dilettanten, einen hochgradig Unbefugten – ich war ja damals noch ein ganz junger Spund und mitten in der Ausbildung. Heute sieht das natürlich alles schon ganz anders aus, und man sagt dann eher, schon als Azubi solche Lichtblicke, alle Achtung. Wenn ich zum Beispiel an Universitäten gastiere, höre ich von jüngeren oder mitteljungen Universitätslehrern öfter das erfreuliche Geständnis:

Herr Rühmkorf, wir sind ja alle mal in Ihre Schule gegangen.

Das finde ich dann absolut erfreulich und kann es trotzdem kaum glauben. Vor allem die Gerechtigkeit eines Schicksals nicht, die einem immer wieder diese späten Rechtfertigungen beschert. An das Problem, daß es Schicksal natürlich nicht gibt, will ich damit gar nicht rühren. Wir sind alle nur rumhuschende Lichter, und die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit ist nichts als blöde Anmaßung. Andererseits gibt es aber tatsächlich – und da hab ich mitgezählt – diese gewissen statistischen Häufigkeiten, und die häufen sich ihrerseits mit der Anzahl der abgerissenen Lebensjahre. Was man subjektiv und objektiv daraus ableiten kann, ist immerhin zweierlei. Erstens so ein gewisses Hochgefühl von ,Nichtunterzukriegen‘ und zweitens der öffentliche Eindruck vielleicht von Rechthaberei. Meinetwegen das beides, für mich ist es jedenfalls ein Motor, so weiterzumachen, immer wieder gegen die Mißverständnisse an, immer wieder in die Resonanzlosigkeit hinein, und vielleicht, wenn wir wieder mal Glück haben, sammeln wir nach vielen Jahren dann den erhofften Lorbeer, egal, ob er praktisch schon welk ist.

Durzak: Das ist für mich interessant, ein subjektives Phänomen, das Sie vielleicht noch erläutern könnten. Es ist ja normalerweise so, daß ein junger Autor eher introvertiert ist und nach Vorbildern sucht, daß er Themen aufgreift, die seinem subjektiven Zustand entsprechen, also nicht jemand ist, der sozusagen aggressiv Schläge austeilt. Sie haben ja auch so eine Übergangsphase gehabt, in der Sie ein Rilke-Epigone waren – so haben Sie sich selbst an einer Stelle in einer Autobiographie benannt. Das überraschende Moment ist nun eigentlich dieses polemische Feuer, diese Aggressivität, diese Bilderstürmerei in dem Sinne, daß Sie da Gipsbüsten von den Sockeln heruntergerissen haben. Die Namen dieser Gipsbüsten waren Rudolph Alexander Schröder, Bergengruen usw. Woher stammt diese Energie?

Rühmkorf: Das sind ja alles sehr freundliche Zuwendungen von Ihnen, die auch keineswegs an mir vorbeigehen, trotzdem möchte ich lieber so sachlich wie möglich antworten. Subjektiv sachlich selbstverständlich. Also gelernt habe ich bei allem, was gut und teuer war, aber teuer im Sinn von erlesen. Ich habe bei Rilke gelernt, als ich etwa sechzehn/siebzehn war, was ja sicher kein schlechter Lehrmeister ist. Ich habe bei Benn gelernt, ohne Zweifel, allerdings auch, wo man seinerseits besser ein paar Zweifel einflechten sollte. Ich bin durch die Schule des Expressionismus gegangen, der Berliner Frühexpressionismus hat mich unendlich tiefbeeindruckt, Heym, Lichtenstein, Hardekopf, Blass, Boldt und so weiter. Trakl war für mich und ist nach wie vor eine ganz und gar verehrungswürdige Erscheinung. Parallel dazu lief aber wieder ein ganz anderer Zug, die sogenannte ,Neue Sachlichkeit‘, als oberste Größe Ringelnatz, der immer noch nicht und sicher erst im Himmel ranggemäß Gewürdigte, dann Kästner, Tucholsky, auf keinen Fall zu vergessen Brecht, und in diesem zweigeschossigen Bildungsgebäude bin ich mir selbst dann immer nähergekommen. Daß das alles längst unterlagert war von richtiggehender Klassik, also Goethe, also Heine, also Klopstock, Klopstock vor allem, komischerweise, möchte ich ganz gern noch hervorheben. Mit Klassik fingen wir ja an vorhin, und jeder junge Autor wählte sich seine eigenen Klassiker. Daß Klopstock für mich schon ziemlich früh sehr hoch rangierte – nämlich schon in meinen Schulzeiten –, ist sicher ein bißchen wunderlich, aber Magnetismus kommt niemals von ungefähr. In den frühen Gedichten Klopstocks, auch im Anfang vom „Messias“ herrscht so eine ganz bestimmte Feurigkeit des Subjekts, so ein emphatischer Zug im Kamin, in dem ich verwandtschaftliche Züge entdeckte. Eratmete, möchte ich fast sagen. Als es mich während meiner Studentenjahre dann nach Hamburg-Ottensen verschlug, in die Arnoldstraße 74, wohnte ich sogar nur ein paar hundert Meter von Klopstocks Grab entfernt, und das schien mir beinahe ein Zeichen. Ich bin dann oft zu diesem Grab gewallfahrtet, im Verein mit Freunden und Freundinnen, meistens letzteren, und da haben wir die „frühen Gräber“ und den „Thau, grell wie Licht“ und das „ernste Moos“ zitiert, aber was heißt schon zitiert, das war ja alles ganz wirklich bis auf das dahin wallende Gewölk, und da hab ich dann oft gesagt: „Da liegt der große Mann, von dem ich so viel gelernt habe.“ So viel zunächst zum Büstenhochhalten und zur Denkmalpflege!
Auf der anderen Seite der Gips. Also ein junger Autor, wenn er gar nicht richtig weiß, wer er ist, der fetzt nicht nur seine subjektiven Sachen aufs Papier, der fetzt vor allem erst mal seine Gegenspieler weg. Wer nicht in sein Muster paßt, wer nicht bestimmte innere Gewebefasern mit ihm teilt, der wird von ihm zer-fasert, auseinandergenommen, im ärgsten Fall ,geschlachtet‘, ein Begriff, den ich heute gar nicht mehr schätze und tatsächlich fast zurücknehmen möchte, aber das geht ja nicht. Daß das auch eine Temperamentsfrage ist, will ich nicht bezweifeln. Ich habe meine eigenen Grenzen immer gern im Streit erkundet. Ich fühlte mich aufgerufen zu scheiden das Gute und das Schlechte, das Lebendige und das Tote, wobei mir manche Zeiterscheinung schon ziemlich abgestorben erschien und mancher unbeachtet Dahingeschiedene als ganz hübsch lebendig. Eigenartigerweise habe ich die literarische Bühne schon sehr früh als Arena empfunden, eine Arena, in der Meinungen verfochten und Werte im Streit ermittelt wurden, eine Auffassung, die in der Windstille des Restauratoriums fast für degoutant galt. Andererseits kam mir diese geschäftige Allduldsamkeit meines Zeitalters ziemlich pervers und verkommen vor. Jeder duldete jeden und jede. Jeder versuchte in diesem gestaltlosen Pluralismus seinen kleinen Claim abzustecken und seine bescheidene Duftmarke zu setzen, beispielsweise die Naturlyriker. Vielleicht hab ich diese uns frisch verheißene Freiheit des Wettbewerbs überhaupt viel zu naiv wortwörtlich genommen und den Markt als Kampf- und Tummelplatz verstanden. Das Wort Markt steht bei mir ja nie nur so am Rande, es ist ein wirklicher Schlüsselbegriff. Es ist ein Warenumschlagplatz, nun gut, beziehungsweise schlimm. Seine Haut zu Markte tragen, seine Seele verkaufen, seine Talente vermarkten, das sind für mich schon in jungen Jahren Metaphern des Verkommens, der Verderbtheit gewesen, wir werden sicher später noch mal darüber sprechen. Aber Markt ist natürlich auch Agora, das heißt Ort der Volksversammlung, Turnierplatz, Wettkampfarena, und in diesem archaischen Sinn habe ich ihn als lebendige Form von Öffentlichkeit verstanden. Hier habe ich meine eigenen Meinungen im öffentlichen Wettstreit ausgetragen. Hier hab ich manchem Mitbewerber um die Wahrheit die seine um die Ohren gehauen. Demokratie ist für mich ein ununterbrochener Wertestreit, und weil ich von Döblin gelernt hatte, „Ein Kerl muß eine Meinung haben“, hab ich die meine rausgelassen immer dann, wenn ich auf der anderen Seite fade Meinungslosigkeit, Standpunktlosigkeit, ödes Strömungsverhalten und Anpassertum vermutet habe. Ob ich tatsächlich ein Bilderstürmer war, möchte ich eher bezweifeln. Ich habe mindestens so viele Privathelden auf einen öffentlichen Sockel gehoben wie Scheingrößen runtergeputzt, vor allem dann, wenn ich die falschen Leute erhoben sah oder wirklich astrale Größen mit Vergessen bedeckt. Ja, ich habe neben meinen Ausdrucksorganen auch diese kritische Ader, aber woher die kommt? Ich kann es nicht sagen.

Durzak: Gut, aber das machen andere Autoren vielleicht in Form des Tagebuchs. Da reagieren sie sich so ab. Ich meine aber, es gibt einige wenige Beispiele, die Ihnen von der Wirkung her an die Seite zu stellen wären…

Rühmkorf: Nehmen Sie den jungen Heine, nehmen Sie den jungen Brecht. Die haben beide sehr genau gewußt, was sie wollten und was sie für wert hielten. Und sie haben sich andererseits auch ihre Gegner schon früh sortiert und zu Sträußen gebunden. Seine Sympathiezirkel und seine Frontlinien zieht man meist schon im Jugendstadium aus, wobei es gar nicht so interessant ist, ob man objektiv recht hat, sondern ob Freund und Feind organisch zu einem subjektiven System paßt. Wenn ich mir meine Artikel aus meiner Studentenzeit noch mal vor die Nase nehme, krieg ich manchmal sogar einen Schreck. Einen doppelten Schrecken. Zum einen, wie flotzig das alles geschrieben ist, auch wie verspannt über lange Strecken, was ja gar kein angenehmer Widerspruch ist. Und zum andern hat das dann wieder auf eine Weise Struktur und System, daß man sich beängstigt fragt, ob man sich in der langen Zeit nicht ein bißchen umstrukturiert hat.

Durzak: Das ist ja eine illustre Ahnenreihe, die Sie da aufgestellt haben. Sicherlich, da gehören Sie mit hinein. Und daß diese Aggressivität gegen eine verstaubte und verlogene Tradition bei Ihnen eben auftrat wie bei keinem anderen Autor Ihrer Generation, beleuchtet ja auch an einem konkreten Beispiel die Besonderheit Ihrer Rolle, das Repräsentative, das Ihnen zukommt.

Rühmkorf: Ich habe immer diesen kontrovers ausscherenden Blickwinkel gehabt: einerseits auf ein verehrungswürdiges Erbe und andererseits auf verlogene Traditionen. Als repräsentativ habe ich die von mir verfochtenen Absichten eigentlich nie empfunden. Ich hatte auch keine Gelegenheit, mich als Repräsentanten fühlen zu dürfen – mitten im Getümmel. Rückblickend ja, ist man vielleicht gelegentlich mal geneigt zu sagen, doch, das war Zeitgeist, und zwar vom doppelt destillierten. Seinerzeit schlug uns jedenfalls immer nur der Wind ins Gesicht, das machte aber nichts, das empfanden wir als erfrischend. Was Sie gerade eben Aggressivität genannt haben, könnte ich natürlich auch als Emphase bezeichnen, aber Sie haben schon recht, ich vertrete meine Ansichten mit einer gewissen Militanz. Wo mich etwas schmerzt, gibt es Ausschläge, und wo der Schriftsteller auf einen peinigenden Außenreiz reagiert – Kränkungen, Beleidigungen, Angriffe auf sein Wertsystem –, äußert sich das eben nicht bloß in Nervenzuckungen, sondern in Ausschlägen seiner Feder. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, daß ich ein gelehriger Schüler des Polemikers und Pamphletisten Kurt Hiller war. Diese kämpferische Musik in seiner Schrift „Geistige Grundlagen eines schöpferischen Deutschland der Zukunft“ riß mich hin. Noch während meiner Schulzeit hatte ich mich bei ihm zur Genüge verproviantiert, um dem neuen Restaurationsmief, der durch die Pennale wogte, mit dem nötigen Rüstzeug begegnen zu können. Der Einfluß dieses streitbaren Geistes auf mein eigenes Schreiben ist dann noch weiter bis in meine Studentenjahre zu verfolgen. Damals nahm Kurt Hiller den allerlebhaftesten Anteil an unserer Zeitschrift Zwischen den Kriegen und überhäufte mich mit Lob und Zuspruch, was dann auf seine Weise als positiver Verstärker wirkte. Ich habe Hiller bis heute meine tiefe Anhänglichkeit bewahrt, auch in meinem ,melioristisch‘ geprägten gesellschaftlichen Denken, obwohl ich nicht alle Seitenpfade Hillers mitgehen konnte. Leider gab es später, wohl Ende der fünfziger Jahre, einen von beiden Seiten als schmerzlich empfundenen Dissenz. Da er schlechthin alle Schreiber im Sinne seines politischen Aktivismus zu definieren suchte, auch zu lenken, auch umzudirigieren, verweigerte sich der auf radikalen Selbstausdruck bedachte Teil meines Wesens diesem doch etwas engen politischen Zieldenken. Es haben bei mir ja immer politischer Verbesserungsgeist und unverbesserlicher Poetensinn um die Palme konkurriert. Ein eigenes Widerspruchssystem, das meine innere Unruhe lebenslang in Gang gehalten hat. Da läßt man sich nur ungern von außen ins Getriebe fahren.

Durzak: Nun ein anderer Name in dem Zusammenhang, den Sie auch erwähnen in Die Jahre die Ihr kennt: Alfred Döblin, zu dem Sie ja damals auch literarische Kontakte geknüpft haben. Es gab eine Korrespondenz, er hat Sie an Hans Henny Jahnn verwiesen. Döblin trat ja im Goldenen Tor mit einer ähnlichen Aggressivität auf. Er vergab auch sozusagen ,Auftragsartikel‘ an Gleichgesinnte, um einige der Scheinautoritäten, die sich damals wieder etablierten oder etabliert hatten, von ihrem Sockel herunterzureißen.

Rühmkorf: Was mich mein Leben lang im Mißtrauen erfüllt hat, ist anerkannte Größe gewesen. Erfolgsmythen. Geniekult in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist. Als Döblin schon ziemlich bald nach dem letzten Krieg nach Deutschland zurückkehrte, und es wurde ihm nun gar nicht die Wertschätzung zuteil, die ihm gebührt hätte, schien mir das andererseits ein Zeichen. Es kam mir fast so vor, als ob die einstmals ,Verbotenen und Verbrannten‘ nun noch einmal aus dem Bewußtsein der deutschen Leseöffentlichkeit verdrängt würden – durch demonstrative Nichtbeachtung. Um es noch härter zu sagen: Die Verfolgten von gestern hatten nach wie vor um ihre Anerkennung zu kämpfen. Das Restauratorium erwies sich also auch auf diesem kulturpolitischen Gelände als ein Rechtsnachfolger des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Während man einerseits Wiederbewaffnung und dann bald auch atomare Rüstung propagierte, wurden die kritischen und produktiven Geister der Vornazizeit auf eine geradezu beleidigende Art und Weise ins Abseits gedrängt. Wer im einzelnen dafür verantwortlich zu machen war, sei im Augenblick mal dahingestellt. Im Überbau der Kulturideologie sind die reaktionären Drahtzieher immer nur schwer ausfindig zu machen, man stößt auf einen schier undurchdringlichen Filz von ideologischer Glaswolle. Jedenfalls schien für Döblin kein Platz in der bundesdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit und für Hans Henny Jahnn ebenfalls nicht, was sie mir einmal mehr zu geradezu auratisch umflorten Gestalten werden ließ. Ja, mit Döblin habe ich dann einige Briefe gewechselt, noch während meiner Schulzeit. Meine ersten Gedichte wurden 1951 in seinem Goldenen Tor abgedruckt. Und zu Hans Henny Jahnn spannen sich dann auch bald Kontakte an, zunächst persönliche, später auch politische, was der Liebe ja keinen Abbruch tut. Als ich diesen großen Dichter dann bald auf unterschiedlichen Tribünen wirken und predigen sah, eigentlich immer glücklos, eigentlich ewig bemißtraut und scheel angesehen, hat das mein eigenes Wertsystem nur noch einmal stärken und bestätigen können. Noch mal zurück zu dem, was Sie vorhin mit Wörtern wie „Aggressivität“, „Polemik“ und „Bilderstürmerei“ bezeichnet haben. Allerdings hatte sich bei mir – und das schon während der Nazizeit – ein persönlicher Wertekanon herausgebildet, der im Gegensatz zum seinerzeitigen Zeitgeist stand und der insofern ständig mit Militanz verteidigt werden mußte. Daß die Nazis sich schließlich als brauner Dreck entlarvt hatten, war ja bestimmt kein moralischer Beinbruch. Ich habe selten – jedenfalls kaum je wieder so stark – das Gefühl von einem Sinn der Geschichte gespürt, als in jenem kurzen Zeitraum nach den Nazijahren. Nur daß dieser von mir, von uns erträumte geistige und moralische Umbruch dann in Wirklichkeit gar nicht stattfinden wollte und das kulturelle Curriculum unserer neuen Bundesrepublik sich bei einem längst untergegangen geglaubten Traditionalismus eingleiste. Traditionalismus oder Rückgriffe auf unser bestes modernes Erbe, das war der wirkliche Streitpunkt, das war die kritische Reibestelle, an der sich die Geister schieden und der meine sich seine eigenen Bundesgenossen suchte. Daß der verehrte Gottfried Benn sich in solches bundesgenossenschaftliche System nicht fügen wollte, hat mich besonders gekratzt. Diese flüchtige, wenn auch enge Tuchfühlung zu den Nazis, Gott ja, die hätte man ihm noch nachgesehen. Es gibt bei Künstlern manchmal ganz eigenartige Ressentiments, die jemanden aus Uneinverstandenheit mit der Gesellschaft auf die falsche Seite eilen lassen. Aber daß er in den fünfziger Jahren dann zu einer Kultperson der Kulturrestauration wurde, mit allen ehemaligen Nazis im Gefolge, hat mir mächtig zu schaffen gemacht. Man möchte ja immer gern beides: den bedeutenden Künstler, der auch als moralische Autorität was hergibt. Also das wirklich plastische Sinnbild. Und nun hakten sich bei Benn auf einmal die dubiosesten Restaurateure und Rechtsintellektuelle ein, man konnte wirklich fast den Geschmack an ihm verlieren. Trotzdem habe ich dem überragenden Artisten bis heute die Treue gehalten. Er hat so wunderbar ergreifende Melodeien für das arme, vom Bewußtsein gepeinigte Erdenschwein gefunden, daß ich ihm nie ganz gram sein kann. Manchmal erscheint er mir ganz in der Nähe von Goethe, an dem sich die Börnes reiben – und sogar zu Recht –, aber von dem die Heines immer noch sagen können: Mein Gott, wie schön ist das gesungen!

Durzak: Es ist interessant, daß Sie das jetzt noch einmal mit so großer Sympathie für Benn gesagt haben. Benn ist ja in diesem Essay „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ eine der großen Gestalten, die zwar mit einer gewissen Reserve betrachtet, aber doch ausgespart wird bei diesem Kahlschlag, den Sie vornehmen. Er ist ja für Sie auch eine Art von Vorbildfigur gewesen. Sie sprechen mit dieser großen Sympathie über Benn, entdecken aber durchaus auch die Widersprüchlichkeit an ihm, die Sie wiederum nicht zum Anlaß nehmen, ihn als Autor insgesamt zu erledigen. Dies taucht auch in einigen versprengten Passagen Ihrer Autobiographie auf – bezogen auf Ernst Jünger. Da erwähnen Sie einmal das Auftreten von Jünger in der Villa Massimo, wo Sie ihn praktisch wie einen ,Kulturspieß‘ schildern, der die junge Truppe da in Augenschein nehmen will, also mit sehr starken negativen Vorbehalten. Es gibt noch eine andere Passage, wo Sie berichten, daß Sie sich in einem der Tagebücher von Jünger lesend verloren haben, und dann sehr witzig und ironisch dokumentieren, wie stilisiert und wirklichkeitsfern das alles ist. Aber müßte man nicht eigentlich dem Ernst Jünger – das stelle ich jetzt als eine provozierende Frage – in ähnlicher Weise gerecht zu werden versuchen, wie Sie gerade Gottfried Benn gerecht geworden sind?

Rühmkorf: Ernst Jünger hat niemals wirklichen Sog für mich besessen. Seine Persönlichkeit setzt sich aus Interessen zusammen, die mir fremd bis antipathisch erscheinen. Seine Themen – antizivilisatorisch bis antizivilistisch – betrachte ich mit der äußersten Reserve. Seine inneren Gefährdungen, die sich nur im Waffenrock fangen können, sind nicht die meinen. Seine Selbsterprobungsrituale, bei denen der Kriegsschauplatz als Austragungsbühne rangiert, besitzen keinerlei verlockenden Reiz für mich, ganz im Gegenteil. Es ist kein schlechter Autor, wenn ich das mal so salopp sagen darf, aber ein bißchen strohig fand ich ihn immer. Als da neulich die Geburtstagswogen hochgingen, und er hatte wieder nur geneigte Satrappen an seinen Hof geladen – Audienzen statt Interviews –, berührte mich das beinah peinlich. Sehen Sie, ich bin ja für jede Anfechtung zu haben, vor allem Anfechtungen des Kopfes. Deswegen bleibt mir der Benn auch nachhaltig interessant, weil: das Gehirn nicht als Fortschrittsorgan, sondern als Leidensquelle, das ist schon Großtragödie und Tantalidenlos. Und nun Jünger, dünnlippig schmunzelnd, immer wieder den durchlöcherten Stahlhelm von Anno Wilhelm vorzeigend: als eine Art von Amulett und Votivbehältnis, diese Stahlgewitternummer fand ich denn doch ’n bißchen degoutant. Was die wirklichen Anfechtungen des Kopfes angeht, scheint mir Jünger beinah ein vorsichtiger Charakter. Ein Etappenhengst der Selbsterprobung. Als ich vor einiger Zeit in sein Drogenbuch guckte – aus einem Interesse, das durchaus mit Erfahrungen zu tun hat –, war ich wieder mal enttäuscht über diesen doch sehr pillendreherhaften Umgang mit sich selbst. So ein bißchen an sich herumprobieren, so ein bißchen mal am Schleier der Maja zupfen, und dann läßt man lieber die Finger davon. Vielleicht steht es mir gar nicht zu, darüber zu richten, der philisterhafte Teil meiner eigenen Persönlichkeit hat es über den Selbstversuch hinaus bisher nicht zur Selbstvernichtung kommen lassen; aber ich habe mich nie nur als wandelnden Erlenmeyerkolben betrachtet.

Durzak: Nun, die Frage nach Jünger ist ja auch ein Nebengleis gewesen, weil sich die Analogie aufdrängt. Sie haben In Stahlgewittern erwähnt, und es leuchtet mir durchaus ein, daß Gottfried Benn mit seiner Lyrik jemand gewesen ist, der Ihnen sehr viel näher stand als dieser sich stilisierende und in gewissen Büchern sich auch gefährlich stilisierende Ernst Jünger. Wenn man sich diesen Essay „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ anschaut, dann ist es ja nicht nur das polemische Feuer, das diesen Aufsatz immer noch so lebendig macht. Es ist wirklich ein Pamphlet im besten Sinne des Wortes. Was einen gleichzeitig verblüfft, eigentlich viel stärker noch jetzt aus dem Rückblick von mehreren Jahrzehnten, ist die erstaunliche Feinfühligkeit und Treffsicherheit in der Wertung der Autoren, die für Sie damals wichtig gewesen sind, die aber auch im Rückblick als die wichtigen Autoren dastehen. Die Art und Weise, wie Sie also Benn vorhin schon dargestellt haben, auch mit gewissen Reserven, das entspricht ja auch der heutigen Einschätzung von Benn. Das heißt, man sieht durchaus die große Qualität, die expressionistische Phase, die für ihn sehr wichtig gewesen ist und die in dieser restaurativen Idolisierung von Benn, von der Sie vorhin gesprochen haben, gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Sie erwähnen an einer Stelle im Aufsatz auch, daß hier die Möglichkeit gewesen wäre, an die deutsche Großstadtpoesie anzuschließen bei Benn. Aber statt dessen hat man sich nur auf die ästhetizistischen Positionen, etwa in den Statischen Gedichten, beschränkt und sich damit identifiziert und die eigene ästhetische Wirklichkeitsflucht darin bestätigt gefunden. Also die ganze Darstellung Benns läßt sich eigentlich auch heute noch so vertreten, aber dann etwa auch Ihre Hinweise auf Autoren, wo Sie einen Neubeginn sehen. Also etwa die Einschätzung von Höllerer, von Ingeborg Bachmann und von Celan.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein: Wolfgang Weyrauch hat mir mal erzählt, als er im
Rowohlt-Verlag Lektor war und die ersten Gedichte von der Bachmann bekam, ist er zu Rowohlt gegangen und hat gesagt:

Das ist großartige Lyrik, und das müssen wir drucken.

Und das wurde dann, nachdem auch die Meinungen von anderen Lektoren eingeholt worden waren, mit dem Urteil quittiert, das sei schlecht und tauge nichts. Ich will damit nur illustrieren, daß durchaus in der damaligen Situation Mißverständnisse üblich waren, was die Qualität von jungen Autoren betraf. Ihr Urteil war also erstaunlich hellsichtig. Ich sehe auch Ihre Ablehnung der Sackgasse der konkreten Poesie als eine Position, die man inzwischen durchaus wieder vertritt, also auch das, was Sie über Heißenbüttel damals mit einer gewissen Sympathie für seine Person, aber auch mit einer gewissen Abwehr seines Kunstanspruches ausgeführt haben. Die Anerkennung der Lyrik von Enzensberger und der frühen Lyrik von Grass ist eine Vermessung von neuem Gelände in der damaligen Lyrik mit einer Sicherheit des Urteils, die geradezu verblüfft. Nichts von diesen Markierungen wäre eigentlich im Rückblick zu revidieren. Das erklärt natürlich auch, daß jemand, der sich aus der heutigen Situation mit der damaligen Lyrik beschäftigt, gar nicht anders kann als sich auf diesen kanonischen Text zu beziehen. Auf diesem Hintergrund ist es ein repräsentatives Dokument und in diesem Sinne klassisch zu nennen.

Rühmkorf: Wenn Sie es so sehen wollen – da freu ich mich natürlich über den Zuspruch. Ich bin ja auch gar kein Amusus. Und ich denke auch gar nicht daran, für hochaufgeklärte Prinzipien meine Reverenz gegenüber den außerplanmäßigen Künsten zu mäßigen. Wenn ich sehe – und das kommt wohl beinah täglich vor –, daß da jemand in eine Richtung wandelt, die ziemlich konträr zu meinem eigenen Lebenspfad verläuft, aber er geht diesen Weg mit seinem eigenen verbohrten Eigensinn, aber es ist ein David und kein Goliath, aber er folgt keiner Mode, sondern einem unabänderlichen Zwang, dann lenkt eine übergeordnete Sympathie meine sonst etwas zugespitzten Interessen. Ein Künstler muß nicht jeden andern Künstler verstehen können, verstehen wollen, das wäre ja geradezu fürchterlich. Dieser beliebige Pluralismus der Wertschätzungen und der Geschmäcker hat ja gerade so ein hochachtungsvolles Allgemeinverhalten erzeugt, das schließlich nur noch Allgemeinheiten blühen läßt, statt des Ungemeinen das Gemeine. Celan ist für mich seit seinen lyrischen Anfängen ein besonders schwieriger Charakter gewesen. Ich selbst bin kein Reduktionist der Sprache – ich bin ein Allesfresser. Volksmund und Klopstock, Kunstsprache und Kant, Lingua alta und Gelegenheitsgesabbel, das muß erst mal durch mich hindurch und miteinander in Kontakt und zueinander in Beziehung gebracht werden, und was nicht paßt, das wird dann a posteriori ausgeschieden. Außerdem hat gerade Celan diesen fürchterlichen letalen Sog, dem ich mein Leben lang – nein nicht ausgewichen – dem ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Ausrufezeichen und den ihnen verbundenen Imperativen begegnet bin. „Bleib erschütterbar und widersteh!“, „Allein ist nicht genug!“, „Phönix voran!“ und so weiter und so fort, das ist meine Welt, aber natürlich, auch Celan ist eine Welt. Und die Gedichte von Ingeborg Bachmann und von Günter Grass und von Walter Höllerer sind natürlich auch Welten für sich, alles kleine, in sich geordnete Galaxen. Mit Enzensberger habe ich sicherlich am wenigsten Mühe gehabt, es ist ein verwandter Geist. Wir sind von dem gleichen Jahrgang, wir haben irgendwann mal ähnliche Grundverwerfungen erlebt, und das zeigt sich dann sofort im Ausdruck. Wirklich entzückend fand ich es, daß wir manchmal, durch viele hundert Kilometer voneinander getrennt und durch keinerlei Nachrichtensystem miteinander verbunden, fast deckungsgleiche Formulierungen, Metaphern, Allegorien für den Zeitgeist gefunden haben. So etwas ist dann reines Glaubensfutter für den Objektivitätssinn. Ich meine, das ist schon toll, wenn das scheinbar unverbindliche Subjekt plötzlich so was wie gesellschaftliche Relevanz erfährt, kaum zu fassen. Trotzdem bin ich ganz froh inzwischen, daß man uns nicht pausenlos mehr in einem Atemzug nennt. Das sind doch Individuen, die hier Laut geben, nicht bloß irgendwelche Analogiepuppen. Ich meine, da können sich die Ableitungswissenschaften und das kritische Gewerbe durchaus die Hand geben. Statt Individuen als Individuen zu begreifen, zu beschreiben – was ich neben meinen strömungskundlichen Exkursionen wirklich immer wieder versucht habe –, versperrt man sich selbst den Weg zur Erkenntnis durch diesen unermüdlichen und ewig fruchtlosen Beziehungswahn.

Durzak: Sie beschreiben ihn an einer Stelle in Die Jahre die Ihr kennt als den möglichen Partner und Mitstreiter und Geistesverwandten, aber Sie haben ja auch in diesem sehr schönen, witzig-ironischen Porträt von Enzensberger zugleich auf die Momente aufmerksam gemacht, die verhinderten, daß es zu dieser Partnerschaft gekommen ist.

Rühmkorf: Da gibt es sicher viele Gründe. Erstens ist Hans Magnus Enzensberger ja nicht dieser Genossenschaftsmensch, mit dem man ohne große Umstände handelseinig werden könnte. Ich meine, im Hinblick auf politisches Handeln. Und zweitens habe ich mich immer näher an der Basis gehalten, das heißt, auf den vorhin schon genannten Dorftanzböden. Der Medienhimmel, der ihm schon seit frühen Jahren offenstand, war mir verschlossen; oder er zeigte sich mir doch nicht vergleichbar freundlich. Bei aller Verwandtschaft in den Interessen – wozu neben der Politik auch das Kinderlied und die Romantik und die ganze artistische Spielsphäre gehört –, sind wir doch grundverschiedene Charaktere. Das betrifft auch die unterschiedlichen Öffentlichkeiten, in die wir uns hinausbewegt haben: Enzensberger immer mit dem Blick auf den großen Medienmarkt und ich mich im Hinblick auf den Krambudenmarkt und auf die überschaubare Resonanzarena. Ich will gar nicht leugnen, daß ich ihn gelegentlich fast ein bißchen beneidet habe wegen dieses – na, sagen wir mal glatteren Durchkommens. Das ist aber weder ein Anlaß zur Mißgunst noch zum Selbstmitleid – man kann nicht einerseits in Bodennähe zirkulieren wollen und sich andererseits in diese anderen Galaxien hinaufwünschen. Alles hat auf seine Weise seine Ordnung, und wer bei dem unberechenbaren Szenentreiben überhaupt noch sichtbar geblieben ist, kann von Glück sagen.

Durzak: Was die Kritik betrifft, die Sie da an Enzensberger üben, die wird ja eigentlich getragen von der Kritik an der Rolle, die er im Kulturbetrieb gespielt hat, d.h. die fast schon übertriebene Souveränität, mit der er den Kulturbetrieb bedient hat und ihn sich auch sozusagen untertan zu machen versuchte. Ich denke da an das Porträt, das Hans Werner Richter vor einigen Monaten in seinem Erinnerungsbuch Im Etablissement der Schmetterlinge von Enzensberger entworfen hat: Enzensberger im Pepitaanzug unterwegs nach Moskau, wo sich dann Richter, der eigentlich die Delegation anführte, plötzlich in der Rolle des Statisten wiederfand, während der große Mann im Mittelpunkt der Medien, der von den Journalisten bedrängt wurde und die Interviews gab, Enzensberger war. Diese ,Wieseligkeit‘, die Enzensberger besessen hat und vielleicht auch noch besitzt, ist ja durchaus ein Negativum, daß jetzt nicht allein Ihrer subjektiven Wertung entsprach.

Rühmkorf: Also von mir aus gesehen, verstehen wir uns auf unsere alten Tage immer besser, wobei seltsamerweise nicht das Politische den eigentlichen Sympathiekitt bildet. Wir haben – bei wechselseitiger Wertschätzung – früher eigentlich nur wenige private Berührungen gehabt, allenfalls auf den Tagungen der Gruppe 47. Ein etwas peinliches Tête-à-tête gab es mal vor einigen – nein, schon vor etlichen – Jahren in Florenz, als ich eine ,Deutsch-Italienische‘ Kulturwoche besuchen wollte und dann auf einem ,Hans-Magnus-Enzensberger-Symposion‘ erwachte, ich hatte da wohl nicht richtig auf die Einladung gesehen. Aber er ist doch eben ein schneidiger Diskutierer und Thesenverfechter auf vielen Ebenen und in allen möglichen Sprachen, davon soll man sich ruhig mal imponieren lassen. Ein besonders feiner Zug von ihm scheint mir, daß er anderer Leute Feinheiten neidlos bewundern kann, beispielsweise meine subtilen Versgefüge. In einer vielbeachteten und oft nachgedruckten Rezension hat er mich mal einen ,metaphysischen Dichter‘ genannt, was mich überhaupt nicht gekratzt hat, wofür ich ihm geradezu dankbar war, weil ich seitdem nicht mehr bloß für diesen flachen ,Kabarettisten‘ und ,Satiriker‘ gelte. Das sind doch wirklich nur meine weltlichen Rollen-Egos, meine irdischen Mundstücke, durch die ich verkünden lasse. Nun, vor einigen Wochen haben wir zusammen in Hannover Benn gelesen, er die seinen Lieblingsstücke und ich die meinen, was sich oft genug ziemlich nahekam; und auch darüber hinaus waltete da ein Geist von wirklich schöner Neigung und Freundschaftlichkeit.

Durzak: Ich möchte jetzt auf einen weiteren Essay noch eingehen. Mir scheint, in diesem Essay „Einige Aussichten für Lyrik“, den Sie ja dann auch haben abdrucken lassen in Die Jahre die Ihr kennt mit dieser sehr interessanten Erwiderung von Adorno, da zeigt sich ja eine neue Position, die sich herausgebildet hat auch im Kontext mit einer sich intensivierenden politischen Arbeit, die dann in der Studentenbewegung kulminierte – so erscheint es einem zumindest im Rückblick. Da ist es doch auf einmal so, daß die Mittelpunktsrolle im positiven Sinn, die Gottfried Benn in dem vorangegangenen Aufsatz hat, sozusagen an die Peripherie rückt. Sie setzen sich jetzt eigentlich für eine Lyrik ein, die um einen sehr engen Kontakt mit politischer Arbeit bestrebt sein soll. Es ist eigentlich also die Position des politischen Gedichtes, des Zeitgedichtes, die sich herauszukristallisieren beginnt und hier mit einer mehr theoretischen Polemik gegen eine formalästhetische Position, die Position des L’art pour l’art, verbunden scheint. Und das ist nun wiederum auf dem Hintergrund der mittleren und späten sechziger Jahre betrachtet eine durchaus repräsentative Neuorientierung, die sich da abzeichnet.

Rühmkorf: Ja, ich bin dieser nun schon bekannte Spät-Repräsentant, den sich die Mitwelt nur selten als solchen vergegenwärtigt hat. Als ich im Jahre 1963 zu einem Beitrag für die Adorno-Festschrift aufgefordert wurde, traf mich der Antrag vergleichsweise unvermittelt. Ich bin ja nicht Adorno-Schüler im eigentlichen Sinn. Ich hatte auch gerade damals besonders viel Schmirgelmasse angehäuft, weil: die literarische Bühne begann sich neu zu politisieren, und da schienen mir Adornos ästhetische Verweigerungstheorien ganz besonders grätig gegen den schönen neuen Fortschrittsgang der Dinge zu stehen. Je mehr ich mich einlas, um so enger rückte sein Theorem vom autonomen Kunstwerk in die Nähe von Benns bekannten Forderungen nach dem ,absoluten Gedicht‘. Das geschlossene, von der Welt abgeschlossene und nur in sich begründete Kunstwerk, wie es Benn in den fünfziger Jahren noch und noch propagiert hatte – obwohl das eigentlich propagandistische Moment wohl erst von seinen Herrn Nachrednern ins Spiel gebracht wurde –, faßte sich nun noch mal neu in einem Begriff von ,Autonomie‘, der auf nichts Besseres hinauslief als Intransigenz. Ich sah es noch fataler. Während Benn immer nur von ,Gegenwelt‘ gesprochen hatte, lief es bei Adorno auf einen Anschein von ,Widerstand‘ hinaus. Während Benn das Wort ,hermetisch‘ immer gleichzeitig mit einem solchen Hauch von apart oder separat versehen hatte, las sich ,Autonomie‘ bei Adorno auf einmal als gesellschaftlicher Verweigerungsgestus. Das schien mir neu gefährlich, und das habe ich dem partiell schon von mir bewunderten Exegeten dann zu seinem 65. Geburtstag nahezubringen versucht.

Durzak: Was diese Position betrifft, die Adorno vertritt, ist mir ein Sprachbild im Gedächtnis haftengeblieben, das Sie in einem Ihrer wichtigen Aufsätze gebrauchen, und zwar im Nachwort zu Ihrem Gedichtband Haltbar bis Ende 1999, dieser Essay ist mit „Einfallskunde“ überschrieben. Da formulieren Sie als eine der Aufgaben, die ein Gedicht hat, „sich des Unrats demonstrativ [zu] entledigen“. Ist das nicht in gewisser Weise doch auch die Funktion, die das Gedicht etwa bei Baudelaire hat? Bei Adorno taucht ja häufig Stefan George auf. Also: alles das abzustoßen, was sozusagen als Unrat empfunden wird, und sich auf einer kleinen Position auf das Substantielle zu konzentrieren, aber es sprachlich dann so zu fassen, daß der Protest gegen den Unrat im Gestus des Gedichts erkennbar wird? Wenn der Protest auch nicht unmittelbar im Gedicht artikuliert wird, im Gestus ist er da. Was Sie sozusagen wollen, ist, daß dieses demonstrative Abstoßen des Unrats sich auch in der Sprache des Gedichts artikulieren soll, indem eben vertraute Wendungen, Klischees auftauchen und so ironisch umgebogen werden, daß sie lächerlich wirken. Das ist sozusagen eine Vorphase, bei Adorno sind die Schlacken schon abgestoßen, aber das Ergebnis steht vielleicht nicht unbedingt im Widerspruch zu Ihrer Position?

Rühmkorf: Nun, da drehen und wenden sich uns aber schon die Begriffe hin und her. Beziehungsweise wir benutzen ein ähnliches Vokabular und meinen doch nicht das gleiche. Als ich Adorno damals wieder las und mir so meine Gedanken machte, flog mich ein Bedenken an, das ich dann auf die Formel brachte: sich reinhalten wollen, indem man sich heraushält. Sich hindurcharbeiten, sich in den Erdenstaub einmischen, sich hindurch wühlen und – vielleicht – am Ende im Licht dastehn, das ist etwas gänzlich anderes als das apriorische Schmutzvermeiden. Solche Berührungsängste habe ich nie geteilt, und ich glaube auch nicht, daß sie der Kunst guttun. Das gemeinsam betonte Experimentelle kann sich ja nicht im luftleeren Raum abspielen, auch nicht im leuteleeren. Experimente, als bloßes Sprachexperiment gedacht, erfahren schließlich nur noch die Sprache als ihren Widerstand, und das kann doch unser Gegner gar nicht sein. Jeder ernstgemeinte literarische Versuch ist ein existentieller Selbstversuch, wobei das sogenannte lyrische Ich den leibhaftigen Probanden voraussetzt. Wer ist das? Nun, im Zweifelsfall doch wohl der Dichter persönlich, beziehungsweise sein irdischer Widergänger, und der muß erst mal raus in die Welt und rein in den Dreck, und wie er am Ende dasteht, das ist immer wieder neu die Frage. Erst ein fragwürdiges Ich, und nicht das als rein und in sich ruhend vorgefaßte Ich hat Anrecht auf unser Interesse. Insofern scheint mir die Selbsterprobung auch der bessere Weg gegenüber dem blinden Herumprobieren mit der Sprache. Das ist doch eine ganz und gar unheilvolle Dialektik – wenn man überhaupt noch von Dialektik sprechen kann –, daß sich jemand statt gegen die Gesellschaft gegen die Sprache aufwirft und statt den Menschen neu zu verfassen die Sprache decollagiert. Es ist doch so: Wer Autonomie sagt und die Welt vorzeitig von sich abstreift, der tauscht gar nicht die Zeit gegen die Ewigkeit ein, sondern gegen das ewig Gestrige, kein bißchen anders muten mich diese weltvergessenen Sprachexperimente an.

Durzak: Aber es gibt in dem Adorno-Aufsatz die Stelle, wo er sagt, die guten, die hervorragenden Gedichte – ich paraphrasiere das jetzt dem Sinn nach – sind diejenigen, die mit ihren Unvollkommenheiten Glück haben. Das heißt, die Defekte, wenn sie da sind, sind sozusagen die Korrosionsspuren der Realität. Da öffnet sich das scheinbar in sich geschlossene reine Kunstwesen, da kommt die Realität hinein.

Rühmkorf: Richtig. Das schieben wir jetzt noch als unerledigten Rest vor uns her. Adorno kann natürlich auch nicht davon absehen, wer könnte das überhaupt, daß sich die gewünschten astralen Zusammenhänge des Kunstwerks nicht programmgemäß herstellen lassen. Also zitiert er die ausgeklammerte Realität als beiläufigen Einschluß, als unvermeidlichen Erdenrest a posteriori heran, und da soll er dann leisten, was die Abdichtungstheorie von sich aus verweigert: menschliche Anteilnahme und ein freundliches herzliches Rühren. Ich halte es da eher mit Brecht, der in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“ sagt: „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge“ und „Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser“, was heißt, wir sollen uns lieber auf einen schwierigen Durchgang gefaßt machen als uns vorzeitig in Kathederweisheit fassen.

Durzak: Als ich jetzt Ihre Essays noch mal im Zusammenhang gelesen habe und mir die verschiedenen Positionen auch in einem historischen literarischen Kontext zu vergegenwärtigen versuchte, da bin ich eigentlich immer – jetzt auch in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Essay, von dem wir gerade sprechen – auf eine Position gestoßen, die Brecht einmal in einem Tagebuchnotat festhält, wo er darüber reflektiert, daß nach Goethe eigentlich die Einheit in der Lyrik verlorengegangen sei und daß so etwas stattgefunden habe wie eine Aufspaltung in einen sakralen Weg und in einen profanen Weg. Es hat also eine Gabelung gegeben. Aber weiter zurückverfolgt sind es beides Wege, die miteinander verbunden sind. Ist nicht jetzt auch die Position, die Adorno einnimmt, auch angesichts seiner Vorlieben für gewisse Autoren, von dieser Überlegung Brechts her zu rechtfertigen als eine bestimmte historische Entwicklungslinie, die er für sich beansprucht: die des sakralen Gedichtes, des L’art-pour-l’art-Gedichtes? Lauter Nomenklaturen, die man zur Kennzeichnung dieses Weges verwenden könnte, während Sie sich für den anderen Weg entschieden haben. Da muß man vielmehr den Blick auf die Position dieses profanen Gedichtes richten. Das ist ja auch nach Goethe für Brecht die Position, die Heine einnimmt. Sie haben Klopstock als eines Ihrer großen Vorbilder erwähnt, und das ist auch alles nachzuvollziehen, aber der Autor der Tradition, der sich Ihnen unmittelbar zugesellt als ein historischer Ahne, ist wohl Heine. Und wäre das nicht vielleicht dann noch zusätzlich ein Argument für die Begründbarkeit, daß Sie hier auf der Position des öffentlichen Gedichtes stehen, des Zeitgedichtes, des kommunikativen Gedichtes, und daß eben das andere, das sich abschließende Gedicht, nur die andere Weiterentwicklung der einstmals verbundenen gemeinsamen Position darstellt? Sind das nicht nur verschiedene Entwicklungswege? Sind Sie nicht eigentlich ein Autor, der auf der Position des öffentlichen Gedichtes steht, des Zeitgedichtes?

Rühmkorf: Meine Gedichte sind öffentliche Gedichte, deshalb habe ich auch mit ihnen auf die Straße gehen können und sie im Zusammenhang mit Jazzmusik vorgetragen. Es sind öffentliche Gedichte von ihrem ganzen Gestus her. Sie wenden sich an jemanden. Sie gehen aus sich heraus und auf die immer mitvorgestellten Adressaten zu. Praktisch in jedem Gedicht ist ein angesprochenes Du anwesend und nicht nur in der Form des geduzten Selbst. Wie das Ich durchlässig wird für allerlei kollegiale Ansprachen, so öffnet das Du sich andererseits dem mitfühlenden Ich des Zuhörenden. Das ist im Prinzip sicher gar nicht so neu, aber als Methode doch so weit entfernt von den Bennschen Monologen wie vom didaktischen Duktus Brechts. Dabei scheint mir Methode nicht einmal das passende Wort, es handelt sich um ein natürliches Verhalten des besagten Subjekts, das sich in Sprache abbildet. Ich möchte noch eines hinzufügen. Das sich selbst erörternde Ich weiß jederzeit, daß es in die Öffentlichkeit hinaus und auf die Bühne hinauf muß und daß ein Teil seines Wesens Mitteilung, Kommunikation, Dialog heißt. Die von mir vertretenen Gattungen oder Untergattungen zehren sämtlich von der Vorstellung eines öffentlichen Daseins. Da haben wir zum Beispiel das gesellige Lied. Andere Gedichte haben den Duktus der Ansprache, der Rede, der Anfeuerung, ja, des Werbeträgers, aber da geraten wir jetzt schon auf den schwankenden Bühnenboden des Masken- und Rollenwesens, auf den ich jetzt noch nicht möchte. Wichtiger erscheint mir im Moment, daß es sich um Mitteilungs- und Zuwendungsformen handelt, die den Adressaten oft genug mit aufführen, den Freund, die Freundin, den Genossen, Kollegen, Bruder in spirito und Bruder im Spirituosengeschäft, und wenn das seinen erwünschten Widerhall findet, dann schlägt das mit Sicherheit auf die Schreibweise zurück.

Durzak: Ja, es ist historisch schon so, daß Ihr Engagement für das Zeitgedicht, für das politische Gedicht ja in etwa auch der damaligen historischen Situation entspricht. Das heißt, im Zuge der Studentenbewegung war es so, daß Lyrik, die sich individualistisch gab, von vornherein dem Verdikt der Öffentlichkeit verfiel. Das hat ja Peter Schneider im Nachwort zu seinem Essayband Atempause berichtet: Wenn Ende der sechziger Jahre Lyriker zu Lesungen auftraten und individualistische Lyrik vortrugen, dann wurden sie fast gesteinigt. Auf diesem Hintergrund wird also auch ein bißchen der Pendelausschlag in der damaligen historischen Situation widergespiegelt. Diese Position des öffentlichen Gedichts wird ja dann auch weitergeführt in einem anderen wichtigen Essay, der kurze Zeit später entstanden ist: „Das Gedicht als Lügendetektor“ von 1967, wo Sie sich sehr stark für einen Lyriker einsetzen, der auch von seiner Absicht her politische Lyrik, aufklärerische Lyrik schreibt, nämlich für Erich Fried. Ich glaube, daß an einer Stelle dort von Ihnen der Begriff des nachbrechtschen Lehrgedichtes ganz positiv verwendet wird. Aber es ist nicht so, daß das eigentlich eine Entwicklungsrichtung ist, die dann später von Ihnen wieder zurückgenommen wurde?

Rühmkorf: Ich habe da etwas gefordert und auch befürwortet, was gar nicht innerhalb meiner eigenen Möglichkeiten lag. Auch nicht auf der Linie meiner poetologischen Selbstbestimmungen. Meine Frage ging damals nach Gedichten, die politische Frontstellungen markierten, wie ich sie in der Prosa und dann auch auf dem Theater vertreten hatte, und da kam mir Erich Fried mit seinen Vietnam-Gedichten gerade recht. Daß ich selbst in der Zeit – und die ging im ganzen über ein Jahrzehnt hin – kein einziges Gedicht geschrieben habe, ist natürlich ein Zeichen. Dieser Gedichttypus verweigerte sich mir, ich verweigerte mich ihm, die Politik, die wir so gern im alliterativen Zusammenhang mit der Poesie betrachten, hatte ihre Kombattantin an die Wand gespielt. Das Verhältnis von Poesie und Politik ist für mich nie widerspruchslos gewesen, nie gänzlich ungetrübt. Ich habe das vielzitierte Dioskurenpaar immer wieder als Gegenspieler erlebt, und wenn das eine flach und in die Breite wirken wollte, so hing das andere gerade an seinen individuellen Ecken und Zacken und Ausbeutelungen. In der Prosa war alles viel einfacher. Prosaisch wie sie war, ließ sie sich leicht für nüchterne Alltagszwecke her und für den politischen Kampf verwenden. Die Niederschläge, teils gesammelt und hier und da nachgedruckt, teils als Blätter im Winde zerstreut oder im Ablageschrank der Geschichte vergilbt.
Aber nun die Gedichte, ja, wie soll man das bloß klarmachen? Sie sind ja gänzlich anderen Wesens als die rational gelenkten Prosaarbeiten, obwohl die gemeinsame Verfasserschaft auch wieder nicht aus der Welt zu leugnen ist. Lassen Sie mich mal versuchen, das so ein bißchen assoziativ hinzureiben. Sie haben da vorhin solch einen ideellen Gegensatz vom sakralen und vom weltlichen Gedicht aufgerissen, und fast hätte ich dazu genickt, allerdings in beide Richtungen, womit ich Sie nicht verwirren wollte. Wir hatten uns ja auch gerade so lange mit dem undialektischen Autonomie-Begriff herumgeschlagen. Aber zwischen dem Gedicht als anhänglichem Erdenwesen und himmelstrebendem Musenkind bestehen natürlich schon die seltsamsten Hinundherbeziehungen, die Erde ist ja nicht ewig und immerdar, im Gegenteil, gerade wer sich so häufig für sie erklärt wie ich, der macht sich über die Endlichkeit schon so seine Gedanken. Und da kommen wir nun an eine Kehre, wo mir Heine manchmal schon ganz jenseitig erscheint. Beziehungsweise Klopstock, der „heilige Sänger“, wie ein ziemlich bodenorientierter Grashüpfer. Und wenn Sie sich jetzt noch mal an Enzensbergers freundliches Votum von dem „heimlichen Metaphysiker“ erinnern, kommen wir der wirklichen Wahrheit schon ein beträchtliches Stückchen näher.
Noch lieber wären mir allerdings so Begriffe wie ,magisches Sprechen‘ oder ,Gleichniszauber‘. Jedes Gedicht ist für mich ein vielseitig beziehungsvolles ,Wie‘ und ,Als-ob‘. Gedichte bilden den inneren Menschen ab, sie sind sein wahrhaftigster Ausdruck. Das bedeutet aber auch, daß sie nicht einfach sagen, was man vorne irgendwie will, daß sie einfache Handlungsanweisungen geben und die Leute auf der Publikumsbank da zurechtwinken, sondern daß sie Zeugnis ablegen, ecce-homo-mäßig, dies ist mein Fleisch und Blut, beziehungsweise, ,Es bedeutet‘, aber der wirklich gläubige Magier sagt natürlich ,IST‘. Da ich selbst eher zu den glaubenslosen Magiern gehöre, sage ich besser ,bedeutet‘: dies sind Wörter, die den Menschen bedeuten. Womit wir über den gar nicht so weiten Umweg über die Zauberei doch wieder auf der Bühne, auf den Brettern und in der Arena gelandet wären.

Durzak: Das ist ja eine wichtige Korrektur zu dem, was ich ausgeführt habe.

Rühmkorf: Ich möchte noch eines hinzufügen. Man hat ja sein Leben lang immer so Etiketten draufgepappt gekriegt, und die meinen sind besonders oblatenhaft geraten. Fad und dünne. Bei den meisten Flachmännern gelte ich auch heute noch als satirischer Dichter, also als Dünnbrettbohrer. Ich glaube, Sengle hat das sogar mal von mir gesagt, aber Sengle kann ja auch nicht tiefer gucken als Wieland lasiert hat. Nun lieb ich ja wirklich selbst diese glattpolierten Oberflächen, und ich habe, weiß Gott, wissen’s die Musen, viel Mühe darauf verwendet, den Oberflächenspiegel glänzend zu arbeiten. Glänzend und undurchdringlich. Das schlimmste, was einem in der Kunst begegnen kann, sind doch diese in der Tiefe steckengebliebenen Gedanken. Kunst ist nun einmal die Kunst, wo der Inhalt postwendend an den Ausdruck geht. Aber wenn ich für etwas ganz Grauenhaftes, etwas eigentlich nicht mehr Annehmbares, was auch gesellschaftlich perspektivisch nicht mehr aufgeht, eine tänzerische Figur gefunden hab, den artistischen Aufhebungssehlenker, dann sagt das verehrliche Publikum in Form von Herrn Professor Sengle: dünne Bretter, Kabarett, Satire. Na ja, schön, ist doch schon hübsch, wenn man überhaupt noch erwähnt wird. Wohin wollten wir eigentlich? Politische Lyrik – Zeitkritik – gesellschaftliche Relevanz – ja alles sehr wichtig, und daß das Ich auch ein Sozialpunkt ist, hab ich selbst oft genug hingeschrieben. Dann kommt aber doch auch wohl noch der Liebesliederdichter mit hinzu, und den kann man bei mir so wenig abdestillieren wie bei Heinrich Heine.

Durzak: Das leuchtet mir schon ein. Ich glaube, es ist eine wichtige Korrektur, die Sie zu dem, was zumindest bei mir impliziert war, vorhin gebracht haben, daß nämlich dieses sogenannte nachbrechtsche Lehrgedicht, das es ja heute auch noch sehr stark gibt, den Versuch macht, die Sprache zusammenzudrängen auf das Lakonische, um die sinnliche Wirkung des Gedichtes zu erreichen durch das, was Brecht das Gestische genannt hat, d.h. durch eine spezifische Wortstellung und nicht durch die Anreicherung mit neuen sprachlichen Elementen.

Rühmkorf: Es ist das Gestische, wie es Brecht beschrieben hat, ein ungemein fruchtbarer Begriff. Wenn ich ihn auf mich selbst anwenden darf, dann könnte ich ihn als Selbst-Mitteilung bezeichnen. Mitteilung und Anteilnahme, ohne daß ich das jetzt moralisch verstanden wissen möchte. Man ruft hinaus und horcht zurück. Das ist aber gewissermaßen nur der pantomimische Charakter des Gedichts. Beziehungsweise sein sozialer Duktus. Nun kommt aber – was ich bei den Klippschülern der Lehrpoesie so sehr vermißt habe – auch noch die gemütliche Bewegung hinzu. Die Sprache der Leidenschaften. Die Stimme des Zorns und der liebenden Anteilnahme. Der Gefühlsstrom. Das ist es doch, was ich bei Klopstock gelernt habe oder doch als verwandtschaftlich empfunden, daß die subjektive Empfindung auch in politischen Fragen noch ein Wörtchen mitzureden hat. Das wäre doch ganz furchtbar, wenn nur der Kopf sich etwas erklügelt, und es beatmet sich nicht.

Durzak: Das ist ja im Grunde dann eigentlich die Position, die sich historisch bei Ihnen herauskristallisiert hat. Sie gehen ja dann auch auf den Vietnam-Zyklus von Erich Fried ein: Diese Position, die er einnimmt, das nachbrechtsche Lehrgedicht, wird von Ihnen ja überwunden, das wird ganz deutlich. Das ist wiederum die nächste Orientierungsboje, der nächste theoretische Essay, der in diesem Zusammenhang wichtig ist. Es ist das Nachwort von 1979 zu Ihrem Gedichtband Haltbar bis Ende 1999: „Einfallskunde“, wo Sie die Formulierung von den Lehrstuhlinhabern der Lehrpoesie gebrauchen, etwas, das diese Leute völlig verdrängt haben…

Rühmkorf: Es kam Überdruß auf. Mit der Zeit, versteht sich. Zuerst fand ich es höchst lobenswert, daß der brechtsche Typus des Lehrgedichts endlich einmal Nachfolge fand, und das war gar keine bloß formale Frage. Das fragende, nachbohrende, dialektisch ermittelnde Gedicht kam einem gesellschaftlichen Erfordernis entgegen, als das Fragen und Ermitteln und Nachbohren ganz und gar für unschicklich galt. Über Vietnam und das unheilvolle Wirken der Schutzmacht durfte Mitte der sechziger Jahre nicht öffentlich nachgedacht werden, das muß man sich doch bitte mal vorstellen. Und auch dies, daß die Poesie hier ein Versäumnis wettmachte, das die sogenannte freie Presse mitzuverantworten hatte. Nur daß diese Notnagelfunktion, die das Gedicht erfüllte, sozusagen als Notlösung verewigt wurde, als gar nicht mehr Not am Mann war. Die behelfsmäßige Spezies begann sich breitzumachen und dicke zu tun, als ob sie der alleinige Weg zur menschlichen Glückseligkeit wäre. Dabei wurden die Pointen immer dünner und dummer. Das dialektische Bewegungssystem verkürzte sich auf ein – wie ich es mal genannt habe – ,einerseits – andererseits – peng‘. Von etwas wirklich Bewegendem konnte schließlich gar nicht mehr gesprochen werden, von individuellem Schwung und mitreißender Begeisterung und persönlicher Farbe überhaupt nicht zu reden. Jedenfalls dieser kritisch sich voranfragende Gedichttypus kam schließlich selbst in eine kritische Phase, und da habe ich mich enttäuscht von ihm abgewendet.

Durzak: Dieser Appell, wie Sie es an einer Stelle eindringlich formulieren, für dieses ,verkrumpelte Gelegenheits-Ich des Privatmanns‘ impliziert also, was Sie vorhin mit dem Affektiven bezeichnet haben: eine Gefühlsintensität, eine bestimmte individuelle Auffassungsweise von Realität. Das wird ja dann auch mit dem formalen Appell verbunden, Umschau zu halten nach interessanten Natur- und Sozialgesten, d.h. eine Öffnung des Gedichtes zu einem Bereich zu vollziehen, zum Volkstümlichen, zum Profanen, das man in der Regel eher am Gegenpol zu Lyrik sieht. Das wäre jetzt statt des Hohen Tons also der Niedere Ton, durchaus im Sinne von Volkstümlichkeit, von Farbigkeit.

Rühmkorf: Als die Lehrpoesie als Kathederpoesie ihren Geist aufgab, hab ich mich umgehorcht, wo es vielleicht in der freien Natur was zu lernen gäbe. Nun waren mir Volks- und Kindermund nicht gerade neu, ich hatte ja schon Anfang der Sechziger solche volkstümlichen Verlautbarungen gesammelt. Das Mißvergnügen an der Verschulung der gesamten deutschen Poesie ließ mich dann noch mal neu die Probe aufs Exempel machen, und siehe da, die alten Naturidiome waren frisch wie ehedem. Man sollte, meine ich, den gesellschaftlichen Bezug von Poesie nicht immer nur an ihren Lippenbekenntnissen ablesen. Auch ist das nicht unbedingt ein ganz wunderbares Lebenszeichen, wenn etwas ganz fürchterlich in Mode kommt, im Gegenteil. Es schien mir also wieder mal Zeit für ein klärendes Wort, und weil ich mittlerweile auch selbst wieder ins Dichten geraten war, hab ich der ziemlich ins Klappern geratenen Mechanik der Didaktiker so etwas wie eine Organlehre entgegengehalten. Ich darf vielleicht eines noch in eigener Sache hinzufügen. Ich hatte mich ja schon öfter mal poetologisch geäußert und zumal meine parodistischen Umsingetechniken erläutert. Das hatte dann zur Folge gehabt, daß man mich immer wieder auf dies eine Gleis festzulegen suchte und schließlich meinte, meine Gedichte wären alle nur literarisch inspiriert. Dem entgegen, aber auch, wie gesagt, aus dem geschilderten Unmut über die deutsche Schulstubenpoesie, hab ich mich an etwas so total Verrücktem wie einer Inspirationslehre versucht, der ich dann den Titel „Einfallskunde“ gegeben habe. Über den Einfall als Götterwink und Musenkuß und himmlischen Anhauch ist natürlich schon viel in den Poetiken der Alten herumgerätselt worden. Der Einfall ist für mich ein Naturgeschöpf, das Kind einer Laune, das Ergebnis einer Anwehung, daran gibt es überhaupt nichts zu rütteln und schon gar nichts zu drücken. Einfälle kommen einem im Fluge zu, und wenn sie einem zufallen, empfindet man sie als einen glücklichen Fund. Nun gibt es allerdings Funde, die nicht unbedingt den Erfindungen zuzurechnen sind, das sind die überall und nirgendwo herumgeisternden Naturlaute der Poesie, manchmal nur Hauche, eine beseelte Wendung hier und ein aus der Richtung weichender Flötenton dort, denen man ruhig mal sein Ohr leihen sollte. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um ausgeformte Verse, Kinderverse vielleicht. Worum es geht, sind einfach so inspirierte Kleinigkeiten, wie sie jedem Menschen mal frisch von der Leber kommen und über die Lippen gehen, manchmal nur Schlenker, spontane Wischer, Seufzer, Zwischenatmer, Gedankensprünge, da hab ich mir im Vorübergehen, Vorüberwehen so allerhand mitnotiert. Ich will das hier nicht noch mal im einzelnen ausführen, dafür müßte ich jetzt extra meine Sammelmappen öffnen. Ich will nur dies noch mal sagen, daß das Poetische an der Poesie in den klassischen Versmaßen gar nicht aufgeht. Daß die regelrechte Behandlung von Jambus, Trochäus, Daktylus und so weiter noch lange nicht den Segen der Musen herabbeschwört. Und daß die Dichtung sich ruhig mal dort verköstigen sollte, wo man poetische Hauche eigentlich gar nicht erwartet, im alleralltäglichsten Parlando und manchmal Palaver.

Durzak: Das ist ja doch ein relativ ungewöhnlicher Weg, den Sie da beschritten haben, der Weg der Öffnung, der traditionell mit dem Hohen Ton ineins gedachten Lyrik zum Volkstümlichen, zum farbigen, zum Erdhaften hin. Das ist zugleich ein Weg, auf dem Ihnen nicht viele Autoren gefolgt sind. Mir scheint dieser Weg trotzdem konsequent zu sein, weil er sich eigentlich doch verstehen läßt unter dem Begriff des öffentlichen Gedichtes, d.h. des Gedichtes, das auf Kommunikation angelegt ist.

Rühmkorf: Ja, bevor ein Gedicht den Anspruch auf Öffentlichkeit erhebt sollte es sich zunächst selber öffnen. Gedichte sind keine Verschlußsachen.

Durzak: Gleichzeitig, das finde ich so überraschend, gleichzeitig haben Sie eigentlich in diesem Aufsatz, in diesem Nachwort „Einfallskunde“, das ja auch – ich will das nur in Parenthese sagen – eine der interessantesten neueren Produktionsästhetiken des Gedichtes darstellt, der also in Relation zu sehen wäre zu Benns Marburger Vortrag zur Lyrik oder Poes „The Philosophy of Composition“ – gleichzeitig haben Sie Formulierungen gefunden für das, was ein Gedicht darstellen muß, Formulierungen, in denen Sie sich eigentlich am weitesten vortrauen. Sie führen also etwa aus, daß in dem Gedicht ein utopischer Raum vorhanden sein muß, in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten wirklichen Welt, und dies sei die Utopie des Gedichtes. Mit einem geradezu bewundernswerten Mut wird das formuliert und auch mit einer bewundernswerten Klarheit. Sie formulieren also eine neue Norm und haben keine Angst davor, und siedeln gleichzeitig diese Norm in einem Bereich der Literatur an, der getrennt ist von der Tradition, von dem Hohen Ton. Sie nehmen ja gleichzeitig das Volkstümliche mit hinein. Diese beiden Pole scheinen mir hier in diesem Essay mit einer großen Entschlossenheit einen neuen Standpunkt zu definieren. Sie verstecken sich nicht hinter Relativierungen oder Umschreibungen, sondern es ist auch eine große Bereitschaft zu sagen, wo Sie stehen als Lyriker.

Rühmkorf: Über Spannungen haben wir ja vorhin schon mal gesprochen, und da haben wir es wieder. Einerseits Hoher Ton, Hohes Lied, Bibel, Hölderlin, Klopstock und so weiter und auf der anderen Volkslied, Kindermund, Dialekte, Rot- und Berufswelsch, Randidiome, Bodenschwingungen. Damit man das nicht nur zu formal sieht: hinter beiden Sphären stehen natürlich Welten. Ich bin mit diesen beiden unegalen Ohren aufgewachsen und habe mein Leben lang in zwei Richtungen gelauscht. Ich habe auch selbst gern beides in einem sein wollen: einerseits Sänger oder Psalmist und zum andern dann Querpfeifer, Schandmaul, Volksmund persönlich, und der poetische Prozeß besteht wesentlich in der Amalgamierung beider Sphären. Noch mal im Hinblick auf unsern Exkurs in die magischen Praktiken: ich versuche mich in diesem Hochspannungsfeld zu fassen und zu verfassen. Da es mich täglich, stündlich, fast minütlich in beide Richtungen zieht, ist des Angleichens, Vermittelns, des kritischen Assoziierens auch praktisch kein Ende. Irgend etwas dichtet immer in mir, lauscht gespannt auf die Widersprüche der Welt (oder die Widersprüche in meinem eigenen Innern) und versucht, sie in die Balance zu bringen, manchmal sehr kipplige Balancen. Mein Papierblock, den ich ständig bei mir führe, ist dabei meine kleine Bühne, auf der ich tanze. Mein Schreibstil ist meine Balancierstange, und wenn ich irgendwie aus der Wucht komme, gibt es Ausschläge, Spontankritzscher, Gelegenheitswischer, Notizen. Mit Architektur hat das zunächst noch gar nichts zu tun, es scheint sogar sein Gegenteil. Aber wenn Sie diese ganzen Anfälle mal als Baumaterial nehmen, Findlinge und Rohziegel und Dachsparren, und Querlatten und Klammerteile, was weiß ich, dann können Sie sich vorstellen, daß wir mit der praktischen Bautätigkeit noch mal in eine völlig neue Phase eintreten. Ich könnte auch sagen, jetzt erst geht es ans Komponieren. Daß das sofort neue Fragen aufwirft, weiß ich natürlich. Wer ein Gehäuse errichten will – und ich komme auf dies Wort jetzt auch nur, weil wir uns zufällig in diesem Bereich von Handwerksmetaphern bewegen – wer also einen Raum schaffen will, der muß doch wohl über einen Bauplan verfügen. Er kann nicht nur Ziegel addieren und addieren, da würde dann allenfalls eine endlose Wand daraus werden, kein sinnvoll gefügtes Tempelchen. Wem das zu sakral vorkommt, dem könnte man immer noch sagen: kein utopischer Raum, und darum geht es.
Und hier kommen wir nun an den heikelsten aller Begriffe – Sie haben ihn eben schon ins Treffen geführt –, den der Utopie. Frei von dem Gedanken an utopische Dimensionen ist die künstlerische Tätigkeit ja wohl selten. Ich meine sogar, daß der Begriff des Utopischen in den letzten Jahren reichlich inflationär benutzt worden ist, am ausgiebigsten dort, wo die richtige Bauhüttengesinnung fehlte. Alles, was die Gedichte von sich aus nicht hinlänglich einlösen konnten, ich meine eine ideale Verfassung, das sollte der Fingerzeig aus dem Gedicht heraus und über es hinaus dann vor die Augen spiegeln. Das perspektivische Sehen ist ja im Grunde eine Chimäre, das wissen wir alle. Eine Augentäuschung, die – wenn sie sich philosophisch mit dem ,Prinzip Hoffnung‘ verbündet – sogar zu argen Bewußtseinstäuschungen führen kann. Ich habe poetisches Sehertum eigentlich immer verabscheut und mich für das genaue Hinsehen entschieden. Ich glaube insofern auch, daß das Gedicht sich nicht vorzeitig – und da haben wir wieder den kritischen Bruch zwischen dem Apriori und dem Aposteriori – von der schmerzlichen Realität abkehren und sich in trügerische Perspektiven versenken sollte, denn: Perspektiven sind immer auch Fluchtlinien, und da ist es beinah egal, ob sie nach vorn oder in die Vergangenheit führen. Allerdings geht es in den Künsten neben der von mir höchst geschätzten Wirklichkeitstreue immer auch um Gegenverfassungen. Jede Komposition, jedes künstlerische Konstrukt, jedes Verswerk ist ein idealer Aufenthaltsraum den ich – und im krassen Gegensatz zu dem ganzen fadenscheinigen Projektionswesen – einen utopischen Raum nenne. Wenn ich vor ein Bild hintrete – meinetwegen von van Gogh –, dann ist das ein utopisch verfaßtes Ganzes: eine sichtbar aus den Fugen gegangene und dennoch ideal gefügte Welt. Wenn ich in die Musikhalle gehe und mich in Bachs Goldbergvariationen fasse, dann ist für die Dauer des Konzerts Utopie für mich angesagt, und ob da noch irgendwo ,Notausgang‘ steht, ist für die utopischen Zusammenhänge vollkommen irrelevant. Wenn mir dagegen irgendwo ein Klapparatismus von Gedicht fortwährend bessere Aussichten verheißt und mich an eine Zukunft verweist die mich mit den Unzulänglichkeiten der Welt auch die Behelfsmäßigkeit von diesem Dingsda vergessen lassen soll, na, da schlag ich aber sofort drei Kreuze. Malteserkreuze. Nein, entweder das Gedicht eröffnet sich selbst als utopischer Raum, in dem die Erdenlasten für ein paar Atemzüge aufgehoben erscheinen, oder der Herr Perspektivenzieher hat seine ästhetische Sendung verpaßt.

Durzak: Das ist einleuchtend, daß also die Utopie nicht ein sozialgeschichtlich zu erreichendes Ziel in der Zukunft ist, sondern etwas, was sich als sinnliche Erfahrung auf den eigenen Zustand des Menschseins bezieht. Diese Darstellung der utopischen Aufgabe, die das Gedicht hat, und die Worte, die Sie für die Utopie gefunden haben, leuchten mir ein. Aber mir ist, als ich ihnen zuhörte, eingefallen, daß Sie seinerzeit auch literarkritisch Stellung bezogen haben zu einem interessanten Buch von Christian Enzensberger (Literatur und Interesse), wo es darum geht, genau diese Funktion der Literatur als eine insgeheim ideologische darzustellen, weil nämlich die Stillung dieses utopischen Bedürfnisses durch die Literatur die Literatur selbst affirmativ wirken läßt im gesellschaftlichen Zusammenleben. Denn indem dieses Bedürfnis quasi durch die Literatur gestillt wird, wird die Energie des Lesers paralysiert, die Energie, die er eigentlich einsetzen müßte, um die Wirklichkeit zu verändern. Ist das nicht ein möglicher Punkt der Kritik?

Rühmkorf: Recht hat er, dieser glänzende Dialektiker Christian Enzensberger, solange er in der Kunst die große Sinnstifterin sieht, die die ausgerenkten Verhältnisse in ihrem Rahmen wieder einrenkt und sozusagen – begradigt, also harmonisiert. Recht hat er andererseits aber wieder gar nicht, wo er undialektisch auf bloße Ableitung von schlechtem Gewissen schließen möchte und das anregende Beispiel, das die Künste geben können, schlichtweg leugnet. Ich meine, auf diesem schwankenden Boden gibt es natürlich wenig gesicherte Feldforschung und viel Glaubensleben. Und ich will am Schluß sogar noch mal so unvorsichtig sein, ein Beispiel anzuführen, das scheinbar gegen mich spricht und auf das ich vorhin schon mal zurückgreifen wollte: das ist der vielzitierte ,Hölderlin im Tornister‘ aus zwei Weltkriegen. Also außen Mord und Totschlag und hinten im Affen dann den „Hyperion“ und den „Gesang des Deutschen“ und die bessere Welt. Und nun muß ich dem einfach noch ein Bekenntnis anfügen. Als ich noch ein ziemlich junger Knabe war, achtzehn/neunzehn vielleicht, nein, eher siebzehn/achtzehn, habe ich mir ein Gedicht verfaßt, in dem zu lesen stand: Mit meinen Künsten das nicht! Das heißt, ich habe immer schon diese große Gefahr der falschen Verwendlichkeit gesehen. Und insofern schwebte mir ein Gedicht vor Augen, das nicht für Kriegs- und Aufrüstungszwecke heranzuziehen war und nicht für Ausbeutungsdienste zu mißnutzen und dem mein demokratisches und zivilistisches Ceterum censeo gewissermaßen auf die Stirn geschrieben stand. Dabei habe ich allerdings nie eigentlich an so ein propagandistisches Swetchard gedacht. Eher an ein heimliches Wasserzeichen, einen kaum sichtbaren Kennungsfaden: wer in diesem Geiste tanzt und musiziert, der muß auch den roten Genossenschaftssänger mit in Kauf nehmen. Was man natürlich auch umgekehrt lesen kann, und dann etwa so: wer den Genossen ans Herz ziehen will, der muß sich schon ein paar absolut aus der Richtung weichende Exzentriknummern gefallen lassen, nicht als Künstlerallüren, sondern als Sinnbild der Freiheit zu denken, zu meinen und zu entgleisen. Auf Christian Enzensberger bezogen, sollte das heißen, daß Literatur nicht so und so ist und ewig bleibt und gar nicht anders kann, sondern daß sie Willensentscheidungen fallen muß. Irgendwo ist bei jedem produktiven Künstler der Punkt erreicht, wo er sich sagen muß, bis hierher so – aber so jetzt nicht weiter. Utopie – wie immer man das Wort ausspricht – kann doch nur dort zu vermuten sein, wo wir bisher noch nicht gewesen sind, also zunächst einmal an einem Ort der Verwunderung. Ich stelle mir das auch gar nicht nur vor, ich habe schon einige Kommunikations- und Zusammenhangswunder wirklich erlebt. Wenn wir beispielsweise im freundschaftlichen Verbund auftreten – Lyrik mit Jazzmusik im teils dissonanten und teils ganz harmonischen Verein –, dann fragen sich unsere nicht nur ideal gedachten, sondern höchst real anwesenden Zuschauer öfter mal: Wo sind wir denn eigentlich hier?! Das gibt’s ja überhaupt nicht. Doch, das gibt es. Und wenn wir noch etwas leben, dann führen wir diesen noch gespannten Widerspruchstyp vielleicht noch viel entspannter vor.

aus Manfred Durzak / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Rowohlt Verlag, 1989

 

ITHAKA
nach Peter Rühmkorf

Das ist Ithaka – in Oevelgönne,
wo die Dampfer meerwärts flüchten.
Falls Ulyss dem Ragnarök entrönne,
würde er hier Asphodelen züchten.
Keine Angst vorm Jahre neunundneunzig
nähme ihm die Hoffnung, er gewönne
einst zurück den alten Freund sich;
schmauchte still sein Pfeifchen, denn er könne,
sagt er, ohne den Vulkan vorm Mund nicht leben.
Doch bevor die lange Nacht begönne,
soll Penelope den Schleier heben.

Manfred Bieler

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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