Peter Rühmkorf: Poesiealbum 293

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Poesiealbum 293

Rühmkorf/Janssen-Poesiealbum 293

LETZTE MOHIKANERIN

Fahrige Novemberzirren
rosig-diesig hintersprayt:
Erster Elfter, Allerirren,
weiß der Daus, was aufersteht.

Von der höchsten Himmelsleiter
blickst du durch zum Grund der Welt –
Schau, die Schatten fallen weiter
als der Apfel fällt…

Pechmarie und Hungerholer
grüßen als verratzter Part,
bis der beinerne Verfolger
Schrift und Wand zur Mülle karrt.

Was sich aufwirft, ist Beschichtung,
loser Putz zu hohem Ziel –
Nur ein Stoß und keine Richtung,
nur ein Schlenker, noch kein Stil.

Bagger-, R ä u m-, MONIER-BETRIEBE:
neue Hoffnung perlt wie Sekt;
ewig diesem Schein zuliebe,
der der Welt als Wahrheit schmeckt.

Auf ein Altes! Auf ein Neues!
– wenn ich da bin, bin ich dein –
Realismus: ein so sei es!
hochgestrichen: könnte sein.

Denn das Wahre sucht das Gute
und die Schönheit lechzt nach Sinn,
meine ab – so – lila- lute
letzte Mohikanerin.

 

 

 

Stimmen zu Peter Rühmkorf:

Rühmkorf hat eine blendende, eine aggressive Intelligenz zur Verfügung. Und er bleibt dabei doch eine vollkommen poetische Natur, jemand, der gleichsam nicht einen Augenblick ohne Lyrik leben könnte.
Karl Krolow

Erschütterbarkeit und Widerstand sind die beiden Momente, zwischen denen sich der Bogen dieser Gedichte spannt: ein Widerstand, der aus Erschütterung hervorgeht, sie aber auch als seine Gegenspielerin auf den Plan ruft.
Albert von Schirnding  

Er war ein feinsinniger Ästhet, ein raffinierter Schöngeist, ein exquisiter Ironiker. Nur war er zugleich ein plebejischer Poet, ein handfester Spaßmacher, ein Verwalter des literarischen Untergrunds, ein Dichter der Gasse und der Masse.
Marcel Reich-Ranicki

Peter Rühmkorf galt zeitlebens als leichtfüßiger Reimvirtouse und stets als auf Heiterkeit gestimmter Elbromantiker. Wenn der Urstoff seiner Poesie die Verzweiflung war, hat er es jedenfalls vorzüglich verstanden, sie in einem lyrischen Levitationsprogramm von staunenswerter Formkunst aufzuheben.
Michael Braun

Von allen Schmerzensmännern der Poesie war er der luftigste. Virtuos wie kein anderer hat er die Schwermut zum Tanzen gebracht.
Hans Magnus Enzensberger

MärkischerVerlag Wilhlemshorst, Klappentext, 2011

Peter Rühmkorf

Daß aus dem 1929 geborenen Sohn einer Pastorentochter und eines reisenden Puppenspielers ein virtuoser Dichter wurde, ist eine schöne Geschichte. Aufklärerisch auftischend, der Liebeslust einen Schuß Lethe beimischend, zelebrierte er seine Kunst-Stücke. Leichter Hand am Gängelband, fand er sich zwischen Freund Hein und Heine, blieb erschütterbar und widerstand.

Aus Rose Ausländer: Poesiealbum 292, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2011

 

Peter Rühmkorfs Zettelkasten mit „Lyriden“

 

Mutterboden und Luftlinien

– Dankesrede zur Verleihung des Heinrich Heine Preises der DDR am 13. Dezember 1988. –

Als mich vor vierzehn Tagen die freundliche Nachricht von der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises der DDR erreichte, standen mir die damit verbundenen Ehren nicht so sehr als feierliche Arbeitsunterbrechung bevor, sondern als eine schwer kalkulierbare Parforce-Tour. Den ganzen Heine nochmal, so schien es auf mich zuzukommen, und zwar vom Buch der Lieder bis zum Romanzero und den späten Lamentationen beziehungsweise von der Harzreise bis zur Lutetia und den Geständnissen, das war doch in der Eile gar nicht zu durchqueren, zu durchmessen, ganz abgesehen davon, daß der ganze Heine natürlich nicht nur eine quantitative Herausforderung, sondern auch ein qualitativer Zweifelsfall ist. War er nun eher ein Mann des sozialen Engagements oder der selbstverliebten und weltverlorenen Kunstfigur? War er ein Aufklärer und erster Kritiker der deutschen Ideologie oder doch mehr ein später Romantiker? Ein unerschütterlicher Streiter für die Bildung und Entwicklung des Menschengeschlechtes oder doch nur der Sänger seiner erotischen Privatpassionen? Ich meine, diese Widersprüche habe ich mir doch nicht ausgedacht. Sie spannen das Gesamtwerk der Länge nach und auch in seinen wechselnden Querschnitten, und sie haben schließlich sogar seine Liebhaber und Verfolger auseinandergeteilt und in Heerlager aufgespalten, s0 daß Jost Hermands Forschungsbericht aus dem Jahre 1975 unfreiwillig in einen Heine-West und Heine-Ost zerfällt, wie sollte ein beidseitig influenzierter Amateur da überhaupt noch mitreden wollen?
Nun weiß ich natürlich auch und wußte es schon länger, daß der „Zerrissene“ eine Lieblingsfigur von Leuten ist, die für alles eine Ausrede suchen. Wo ewig nur das eine gegen das andere steht, stocksteif und auf seine Art überheblich, bleibt schließlich nicht viel unterm Strich und von einer bewegenden Literaturgestalt nicht viel mehr als ein gefrorenes Paradox. Fruchtbarer scheint mir da schon, die sicher nicht zu leugnenden Widersprüche nicht einfach als gegeben hinzunehmen, vielmehr sie als geworden zu betrachten, geschichtlich, biographisch, gesellschaftlich. Besonders verlockend, sie bis in ihre frühesten Wurzeln zu verfolgen, ihre erste Wiegenstunde, möglich, daß sie uns von daher gar nicht mehr so alternativ ansehen würden.
Daß ich das schon öfter versucht habe und insofern eine mir bereits vertraute Fährte einschlage, will ich Ihnen gar nicht verschweigen. Ich möchte heute aber noch ein Stückchen weitergehen und Ihnen neben ein paar Sondenabsenkungen auch mein Besteck vorweisen. Das ist kein objektives System, sondern eher ein ziemlich privates Vergrößerungsglas. Vielleicht nur ein etwas abweichender Sprung in der Linse. Eine subjektive Sehgewohnheit. Sprechen wir am besten so wertfrei wie möglich von einem etwas ausgefallenen Neigungswinkel meiner Interessen, und der nimmt dort seinen Ausgang, wo ich im Jahre 1929 vaterlos und insofern unter mutterrechtlichen Familienbedingungen aufgewachsen bin. Meine Mutter war Lehrerin in einem kleinen verschwiemelten niedersächsischen Dorf. Mein Vater war ein reisender Puppenspieler, der dort gelegentlich zu Gast war und die Schuljugend mit Kasperstücken und meine Mutter mit Heine-, Rilke- und Ringelnatzversen unterhielt. Aber nicht diese vorgeburtliche Lektüre war es, die mein Leben frühzeitig aus der Normalspur brachte, sondern der etwas fatale Umstand, daß mein Vater bereits anderweitig verheiratet war und das bescheidene Mutter-Kind-Gespann sich selbst überließ.
Ich erzähle das hier nicht nur zu Ihrer Belustigung. Ich erzähle es – wie gesagt –, um Sie mit meiner Sehweise vertraut zu machen, das ist der schiefe scharfe Blick eines früher einmal Zukurzgekommenen, eines nicht von Anfang an Gleichgestellten, der aber immer gern gleich sein wollte, eigentlich einfach nur gleichberechtigt, gleich unter anderen, eine ganz normale U.a.-Existenz, und den Gleichstellungsfragen und Fragen der sozialen Gerechtigkeit eigentlich sein ganzes Leben lang beschäftigt haben.
Blicken Sie bitte nicht zu ernst jetzt; die Leiden sind lange verschmerzt; was mich früher grausam piesackte, das schneide ich heute gern in alle Rinden ein; aber die Außenseiteroptik ist mir immer noch geblieben und der Blick für literarisch und gesellschaftliche Schrägstellungen unverhältnismäßig geschärft. Das ist in Hinsicht auf den eigentlichen Blickfang unserer Unterhaltung vielleicht nicht ganz uninteressant. Als ich mich noch einmal neu mit dem Bildungsgang des jungen Harry Heine beschäftigte, auch mit den Emanzipationsbestrebungen der deutschen Judenheit im 18. und 19. Jahrhundert, ging mir die Ungleichstellung noch einmal nahe wie ein persönlicher Kränkungsfall, und das widerliche „Hepphepp“, das man dem Schuljungen nachtrug, erinnerte mich an meine eigene selige Jugendzeit, wo man mich eine lange Kindheit lang mit einem ähnlich mißtönigen „Kasper-Kasper“ verfolgte.
Nun will ich meine kindlichen Bleylehosen nicht gleich so hochhängen, daß sie als Exempel für geistige Wahlverwandtschaft herhalten könnten. Aber vergleichbare Kränkungen laufen doch auch auf vergleichbare Problemnaturen hinaus. Und vergleichbare Schräglagen führen manchmal zu vergleichbaren Kompensationsversuchen, manchmal auch Überkompensationen, denn wo die Gleichheit so offensichtlich nachhinkt, versucht der Zurückgesetzte den gesellschaftlichen Mangel im freien Luftsprung zu überwinden. Aber so weit wollte ich im Augenblick noch gar nicht gehen. Was mir nachgeht, weil es mir näher liegt, sind gewisse sehr eigentümliche mutterrechtliche Konstellationen, wie sie im Hause Heine vorherrschten und wie sie der Dichter uns auch ziemlich schonungslos mitgeteilt hat. Demnach hatte Betty Heine das Schicksal der Familie schon früh in eigene Hände und in ihre eigene Tugendregie genommen. Sie hatte dem Vater – einem rosenfarbigen Operettenpapa und ehemaligen – Proviantoffizier des Herzogs von Cumberland – den bunten Rock ausgeredet und ihm von ihrem eigenen Erbe ein Tuch- und Manufakturgeschäft eingerichtet. Sie hatte die Erziehung des erstgeborenen Harry ganz zu ihrer eigenen Aufgabe gemacht und ihre eigenen – verhinderten – Entwicklung- und Bildungsträume auf ihn projiziert. Sie hatte, wie Heine mitteilt, „große hochfliegende Dinge mit mir vor“ und „sie machte die Programme aller meiner Studien“. Indes, wie es mit solchem protektionistischen Fürsorgewesen manchmal so geht:

Ich folgte gehorsam ihren ausgesprochenen Wünschen, jedoch gestehe ich, daß sie schuld war an der Unfruchtbarkeit meiner meisten Versuche und Bestrebungen in bürgerlichen Stellen, da dieselben niemals meinem Naturell entsprachen. Letzteres, weit mehr als die Weltbegebenheiten, bestimmte meine Zukunft.

Das klingt nun sicher ärgerlich, meine Damen und Herren, ärgerlich für die Mutter und ärgerlich für die Weltbegebenheiten, aber wir haben es als eine subjektiv authentische Stimme wohl doch zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen uns – wenn wir uns schon so weit auf Erziehung, Pädagogik, frühe Prägungen und späte Folgen eingelassen haben – vermutlich sogar noch weitere Zumutungen gefallen lassen, zum Beispiel diese schwer erträgliche, daß die Dialektik unserer Nerven oft ziemlich verwundene Pfade geht. Ich will damit nicht sagen, daß positiv gearbeitete Prägstöcke unbedingt negative Eindrücke hinterlassen müßten, die Vorgänge sind meist verwickelter. Was am kleinen Kinde wohlgetan oder was an ihm versäumt wurde, pflanzt sich fort als ein schwer berechenbarer Reflex aus Zustimmung, Abweisung und Widersprüchen, wobei man oft schon froh sein muß, daß der bearbeitete Organismus nicht völlig auseinanderbricht.
Ob das in unserem Rahmen müßige Gedanken sind, müssen Sie entscheiden oder vielleicht unsere nächsten Heinezitate. Folgen wir ihnen noch einige Schritte weiter in das mütterliche Erziehungslaboratorium, stellen sich die Auspizien eines möglichen späteren Dichters jedenfalls noch weit ungünstiger dar und die Aussichten, der Gängelung zu entkommen, nahezu vernagelt. „Ihre Vernunft und ihre Empfindung“, heißt es ja weiter in den „Memoiren“, „war die Gesundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und die Romantik. Sie hatte, wie ich schon erwähnte, eine Angst vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaubte mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte mir alle Teilnahme an Volksspielen, überwachte meinen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Gegenwart Gespenstergeschichten erzählten, kurz, sie tat alles Mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir zu entfernen.“
Das hört sich dann allerdings – egal, welchem Begriff von Pädagogik wir unsererseits anhängen – beinah schon gespenstisch an. – Entriß mir“ – „erlaubte nicht“ – „versagte mir“ – „überwachte“ – „schalt“ – „tat alles mögliche, um zu entfernen“ – ich glaube, man muß nicht einmal zu jenem besonderen Kreis von „esoterischen Lesern“ gehören, um den Zwang im System und den Wahn in der Methode herauszuhören. Die gefährlichen Hochspannungen der Person, von denen ein tief gestörtes und nur trügerisch geglättetes Werk nebst angeschlossenen Briefwechseln unaufhörlich seufzt und singt, scheinen sich demnach wirklich viel weniger dem Einfluß von äußeren Druck- und Zugkräften zu verdanken – dem großen Wellengang der Geschichte beispielsweise – als dem frühen sozialen Doublebind aus Zuwendung und Restriktion. „Meine Mutter hatte große, hochfliegende Dinge mit mir im Sinn“, hatte es zwar ironisch geheißen, aber der Vorwurf der Entmündigung ist doch an keiner Stelle zu überhören, hatte die Mutter doch „die größte Angst, daß ich ein Dichter werden möchte; das wäre das schlimmste, sagte sie immer, was mir passieren könne. Die Begriffe, die man damals mit dem Namen Dichter verknüpfte, waren nämlich nicht sehr ehrenhaft, und ein Poet war ein zerlumpter, armer Teufel, der für ein paar Taler ein Gelegenheitsgedicht verfertigt und am Ende im Hospital stirbt.“
Ob solche Probleme heute veraltet sind, solche Mütter absolut aus der Richtung, solche Verhütungs- und Protektionsgesinnungen gar nicht mehr up to date? Ich weiß es nicht und kann es nicht für jedermann beantworten. Von mir kann ich nur sagen, daß Gespensterliteratur bei uns zum täglichen Umgang gehörte (eine bestimmte christliche Traktätchenliteratur), daß auch Ammenverse und Zaubersprüche meinen frühen Bildungsgang säumten (zum Beispiel: „Was dir dein Gott hat zugedacht, das wird dir schon ins Haus gebracht“) und daß mir meine Mutter als Gelegenheitspoetin und Feiertagsreimerin als leuchtendes Beispiel voranschritt. Nur eines, den Beruf eines Dichters hielt sie denn doch für eine reichlich abwegige Wunschvorstellung und die Beamtenlaufbahn mit den von ihr vorgeprägten Fußstapfen für den einzigen gangbaren Lebensweg. Als ich gelegentlich der nun noch einmal durchblätterten Heine-„Memoiren“ einen vergleichenden Seitenblick in meine eigenen Memos warf (unter dem Titel Die Jahre die Ihr kennt 1972 bei Rowohlt herausgekommen), was blickte mich da allerdings mit einem gewissen augurenhaften Grinsen des Einverständnisses an? Ich will es Ihnen sagen. Es ist die auch nicht gerade aus ungetrübtem Einverständnis geborene Bemerkung:

Alle dürfen Kasper spielen, nur nicht ich. Seitdem: Kasper im Kasten gelassen – Knüppel aus dem Sack.

Daß der eine wie der andere dann doch noch zu Dichtern geworden sind, darf ich hier einmal formlos hinzufügen, obwohl beide wieder gleich nicht auf dem einfachen Weg und mit vielen halb erlittenen, halb selbstinszenierten Karrierebrüchen. Was ihm seine Banklehre war („Ich dichte viel; denn ich habe Zeit genug, und die ungeheuren Handelsspekulationen machen mir nicht viel zu schaffen“), waren für mich meine kurzen Stippvisiten in der Vorschule der Pädagogik. Als man mich bei der Aufnahmeprüfung in der Lehrerbildungsanstalt in Lüneburg nach den inneren Motivationen meiner Berufswahl fragte, antwortete ich in aller Unschuld, die man dort für Hybris hielt: „Weil ich dann genug Zeit für meine eigentliche Passion, für das Dichten habe“, was, wie man sich denken kann, dann genau zu der gefürchteten erwünschten Abweisung führte. Aber auch bei neuen Versuchen, die Lehrerei in Hamburg zu erlernen, kam ich niemals über die erste Prüfung hinaus.
Eine Vergütung, beziehungsweise ein positives Äquivalent für meine geknickten Selbstwertgefühle wuchs mir dann auch auf einer völlig anderen Bühne zu. Im Verein mit Freunden gründete ich die Neue Hamburger Studentenbühne, die alte war uns zu alt. Im sinfonischen Miteinander mit passionierten Dilettanten der anderen Künste – Bühnenbildnern, Musikanten, Schauspielern – brachte man ein erstes kleines Stück auf die Bühne, eigentlich eher eine kabarettistische Nummernrevue mit dem Titel Die im Dunkeln sieht man nicht. Aber wie es mit den nach außen gekehrten Verdüsterungen so geht: Mit der Zubereitung der inneren Gespenster für die Bühnenbretter, heißt auch, mit der Auflichtung der eigenen Betrübnisse zu einem öffentlichen Unterhaltungsgegenstand, ist, der Bann der Depressionen beinah schon gebrochen, und wenn dann noch die richtige gute Gesellschaft dazukommt, zählen die geteilten Leiden nur noch halb.
Daß das eigentlich auf den tieferen Sinn aller Künste geht und Artistik auch als Kunst der Erhebung gelesen werden kann, möchte ich an dieser Stelle wenigstens anstupsen – egal ob es uns in jedem Fall gelingt, unsere verkrumpelten Fragezeichen zu Ausrufezeichen umzuhämmern. Was als glosender Rest noch in unserer Phiole dämmert, ist aber etwas ganz anderes: Es ist das immer noch ungeklärte und – wie mir scheint – nachhaltig beunruhigende Gewoge unterschiedlicher Wertvorstellungen in der Brust Heinrich Heines, und das hat – um ein letztes Mal auf sie zurückzukommen – mit ihrem Dringen die Betty Heine getan. Wie es bei familiären Sozialisationsprozessen nämlich so geht, entscheidet sich der Zögling keineswegs nur einfach im Gegensinn zu seinen Erziehern. Vielmehr: Er zieht sich was zu und macht sich zu eigen. Vielmehr: Er arbeitet auch den ungeliebten Lehrstoff zu einem für ihn zuträglichen Lebensmittel um, und wenn die Zeit danach ist, kann er auf unerwartete Weise davon Gebrauch machen.
Abgesehen von ihrem exorzistischen Musenaustreiben scheint Frau Betty gewiß ja nicht nur Verstörungen in der Seele ihres Erstgeborenen hinterlassen zu haben. Das mittlerweile weltberühmte „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ ist ja eigentlich gar kein vaterländisches Warngedicht, sondern ein poetisches Votiv für die alte Mutter. Auch lesen wir das „deutsche Wintermärchen“ viel zu flach und geradeaus, wenn wir unter seiner gesellschaftskritischen Folie nicht die Ballade vom verlorenen und nun wieder heimkehrenden Sohn mit wahrnähmen. Überhaupt gehen Vaterland und Muttersprache und Muttermilch und Wohlfahrtsutopien fortwährend die seltsamsten privatmythologischen Verbindungen ein, wovon uns der zaubermächtige Schlußvers des ersten Caput allerschönste Auskunft gibt:

Seit ich auf deutsche Erde trat,
Durchströmen mich Zaubersäfte –
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

Folgt man dem uns von Heine selbst zugereichten Ariadnefaden – „aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen“ – nur mit der nötigen Unvoreingenommenheit, dann erkennen wir seltsam berührt, daß gerade die großen Gleichheits- und Gerechtigkeitsmetaphern (allerdings auch die kleineren Gasthausszenen) immer wieder auf das Bild der Magna Mater zuleiten. Auch ein deutlich vulgärmaterialistischer Zug in der poetischen Signatur weist allemal auf seine matrilineare Abkunft zurück. Um es vielleicht noch einmal so platt zu sagen, daß es wirklich schmerzt: Ein in sehr frühen Unschuldszeiten vorgeprägtes Bild der Mater, der Nährmutter, bestimmt die Wahrnehmungsweise und Schreibart des Dichters auch dort noch, wo der naturwüchsige Materialismus sich zum anspruchsvollen philosophischen Sensualismus verfeinert. Wo gar die „große Suppenfrage“ aufgeworfen wird, d.h. wo der Gedanke an den gemeinen Hunger zu allgemeinen Wohlfahrtsideen überleitet (mit einem eigenen Kausalsystem aus „Suppenlogik und Knödelgründen“), sehen wir den Schatten der Alma Mater bedeutungsvoll über die Silene fallen. Freiheit im Sinne einer individuellen Entwicklungsfreiheit – meine verehrten Freunde und Kolleginnen von der freien Schriftstellerei – heißt das für einen in astralen Zusammenhängen operierenden Geist natürlich noch lange nicht. Die Freiheit, ein Dichter zu werden und somit seinen selbstausgedachten Luftlinien zu folgen, hat Heine sich im wahrsten Sinne des Wortes erst auf eigene Faust herausnehmen müssen. Gegen die ewige Wiederkehr der immergleichen Anpassangszwänge. Gegen das bürgerliche Versicherungsdenken und die ihm attachierten Karrierevorstellungen. Gegen die zeitkonformen und insofern immer opportunistischen Berufsplanungen seiner Mutter und mit Sicherheit auch gegen die entwaffnende Glücks- und Lebensphilosophie seines Onkels Salomon:

Hätte der dumme Junge was gelernt, so brauchte er nicht zu schreiben Bücher.

Was sich als kritischer Bruch in, der Optik bereits im häuslichen Guckkastentheater vorbereitet hatte, begann sich mit dem Sprung auf die große Zeit- und Weltenbühne allerdings erst richtig zur Deutlichkeit zu entwickeln. Zwar sang er eindrucksvoll wie kaum ein anderer das weltliche Gleichheitslied von „Zuckererbsen für jedermann“ und „Brot genug für alle Menschenkinder“. Nur daß die große Doppelinitiale der Emanzipationsbewegung (Freiheit und Gleichheit, beinah beschwörend durch ein nachgefolgtes „Brüderlichkeit“ zum Bund vereidigt) nie so stabil dastand, wie wir es im nachhinein gern meinen möchten, und daß Heine der schönen Weise von der gerechten Güterverteilung oft genug seine eigenen Sottisen von „spartanischen Gleichheitssuppen“ und „aschgrauen Gleichheitskostümen“ entgegensetzte. Warum ich hier abbreche und die besagten Widersprüche einfach in der Schwebe lasse? Erstens möchte ich sagen, weil es sich hier um ewige Problemknoten der Menschheit handelt, die in der Schwebe noch am besten aufgehoben sind. Und zweitens, weil wir jetzt zum Mahle schreiten wollen beziehungsweise zum späten Mittagstisch schlendern, was mir, der ich in der Nachfolge Brechts ein schlechter Esser bin, für heute durchaus genügt. Eines freilich möchte ich dennoch kurz nachfügen dürfen. Es betrifft den irdischen Teil der mir zugedachten Ehren, den möchte ich nicht habgierig an mich raffen, den möchte, ich lieber anregend zur Verteilung bringen. Um ihn nicht einfach im großen Sorgensack der Menschheit versinken zu lassen, den ich in der Eile ja gar nicht stopfen kann, schlage ich allerdings vor, ihn der überall auf der WeIt ein wenig zu kurz kommenden Kleinkunst auszufolgen. Solche kleinen leuchtenden Ensembles, die der Menschheit mehr zukommen lassen, als sie dafür einnehmen, gibt es doch auch bei Ihnen eine ganze Menge. Wie nach meiner Beobachtung hier überhaupt mehr geistiges Leben und ernsthaftes Kunststreben anzutreffen ist, als manche Kulturreaktionäre meines Landes uns glauben machen möchten – die möchten ja immer nur Trübnis von ihrem eigenen Karfreitagsgeist verbreiten. Versuche ich also zum Schluß unserer kleinen Veranstaltung noch einmal, ein letztes Mal, in die Heinerolle zu springen – in die Spendierhosen des Onkel Salomon ausnahmsweise –, in der vielleicht nicht ganz törichten Hoffnung, daß meine Wahl, die Puppenbühne Zinnober unter Gabriele Hänel, den Kabarettisten Wolfgang Krause-Zwieback, das Puppentheater Neubrandenburg unter Gisela Templin sowie das Pantomimentheater Prenzlauer Berg unter Eberhard Kube mit der Darreichung zu bedenken, auch Ihre Zustimmung findet.
Ist das gerecht so, ist es richtig? Wenn Sie es auch meinen, bitte ich Sie um ein freundliches Handzeichen – es kann auch ein wohlwollendes Kopfnicken sein – und, bitte, teilen Sie die Namen der Betroffenen auch Ihren Zeitungen mit: „Das Positive hat keine Presse“, sage ich zwar bei uns immer wieder, aber das ist bei Ihnen doch eigentlich nicht an der Tagesordnung. Ich danke Ihnen, Herr Minister, ich danke auch der Jury noch einmal sehr ergeben für Ihre Entscheidung. Und wenn wir uns bald wiedersehen sollten – sei es, daß wir mit unserem Jazz- und-Lyrik-Ensemble hier gastieren, sei es im Medium literarischer Astralleiber, gemeinhin als Bücher bekannt –, würde mich das am meisten freuen.

Peter Rühmkorf, Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1989

Die Vergänglichkeit macht uns Beine

– Peter Rühmkorf im Gespräch mit Sandra Kerschbaumer über Kunstautonomie, Amerikanismus und den Kanon. –

Sandra Kerschbaumer: „Was soll ein Gedicht? Was will es? Kann es? Was ist ihm zuzutrauen, anzutragen, aufzubürden und sonst niemandem? Wo kommt es her? Wo zieht es hin? Wofür steht es ein?“ Sie haben diese Fragen gestellt und sie in Ihrem Werk unterschiedlich beantwortet. Aber es gibt eine Konstante: Das Schwanken zwischen ästhetischen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Mal haben Sie sich für die Autonomie der Kunst ausgesprochen (der Vers soll „betören“), mal für ihre unmittelbare Wirksamkeit (der Vers soll „belehren“). Sind Sie je zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen? Wie lautet Ihr derzeit gültiger Anspruch an die Literatur?

Peter Rühmkorf: Es ist jetzt innerhalb der Werkausgabe ein Poetologie-Band herausgekommen, der schon mal einen sprechenden Namen hat. Er heißt Schachtelhalme. Es ist ja durchaus üblich in der Innung, sich in pflanzlichen Metaphern oder Gleichnissen auszudrücken. Denken Sie an Whitmans Grashalme oder Herders Kritische Wälder. Mein Wappenemblem ist der Schachtelhalm. Benn wiederum hat von seiner Poetik als einem Orangenstil gesprochen. Da säße dann ein Sektor neben dem anderen Sektor. Ein Kreis, ein rundes Gebilde, geformt um eine innere Mitte. Die ganze Welt arrangiert sich um dieses eine, vorgegebene Ich. Während ich meine eigene Entwicklung als ein Längenwachstum begreife, das sich in unterschiedlichen Stufen, Sequenzen, Abschnitten vollzieht, wie immer man es nennen will. Wenn Sie den Schachtelhalm betrachten, dann sehen Sie immer dort, wo ein Schaftstück in das andere übergeht, quirlständige Verzweigungen, was nochmals auf kleine, geordnete Systeme schließen lässt.

Kerschbaumer: Und diese Verzweigungen können in die unterschiedlichen Richtungen gehen?

Rühmkorf: Auf der einen Seite Autonomie des Gedichtes, auf der anderen Seite seine Welt- und Geschichtsbezogenheit – das ist für mich eigentlich ein lebenslanges Spannungsfeld gewesen. Es ist nicht unbedingt stabil, denn mal hat der eine Pol mehr Gewicht bekommen, mal hat der andere mehr Anziehungskraft entwickelt, sodass sich innerhalb dieses Systems die Gewichte verschoben haben. Solche Verschiebungen erfolgen meist auch in kritischer Bezugnahme auf herrschende Modeströmungen. So gab es einmal eine Zeit, wo sich die Poesie ganz nach innen verkrochen und Gedichttypen ausgebildet hatte, die heute wie vom Mond erscheinen, weil sie keinerlei Bezug auf die Zeit nehmen. Ich denke hier etwa an die „Naturlyrik“ der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre. Sie hatte sich den Zumutungen der gesellschaftlichen Triebkräfte fast völlig entzogen und eine Welt neben den Beängstigungen der Zeit begründet. Das schien mir in gewisser Hinsicht eskapistisch, obwohl ich das Wort nicht sehr liebe, aber von Monokultur darf man wohl noch reden. Nun kann man mir selbst einen Sinn für Naturerscheinungen bestimmt nicht absprechen. Von diesem Gärtchen, das Sie hier vor sich sehen, habe ich fast jeden Baum, jeden Strauch, jedes Blatt und jede Blüte besungen. Dort den „Efeu, der den Birnbaum erobert“, und dort hinter dem Zaun den „Fliederbusch, den Krüppel“. Aber der Horizont meiner Naturgedichte war doch immer ziemlich gewittrig. Da gab es die Gewölke der geschichtlichen Welt, die sich nicht verscheuchen ließen, und die gehörten für mich unabdingbar mit ins Bild. Dann folgte eine Zeit, in der ein gewisser Paradigmenwechsel zu beobachten war, sich die Lyrik in irgendwelche geometrischen Muster einspann. Strukturen der modernen Lyrik hieß ein seinerzeit berühmtes Buch von Hugo Friedrich. Der avantgardistische Ausläufer der Poesie definierte sich – wiederum ziemlich ausschließlich – in abstrakt-strukturalen Begriffen. Buchtitel waren dann „Kombinationen“ und „Konstellationen“ und „Lineaturen“, was das Gedicht dann sozusagen auf die Rolle eines Machwerks reduzierte. Das war wieder eine neue Monokultur, die sich da herausbildete und sich gegenüber dem Leben, seinen Anfechtungen und Verlockungen abkapselte. Eine Zeit lang hatte sich sogar Adorno als Chefpoetologe dieser Richtung hervorgetan, na sagen wir mal als Cicerone, und wir haben sogar mal kritisch die Klingen gekreuzt.

Kerschbaumer: Wie steht es mit dem Gegenpol der Weltabkehr, der politischen Literatur? Haben Sie hier denn die Extreme genauso gemieden?

Rühmkorf: Nun, da steuern wir schon auf die Mitte der Sechziger zu, als die Poesie – aber nicht nur sie, das Drama hatte schon vorgegriffen – sich auf einmal politisch zu begreifen begann. Von dieser allgemeinen Politisierung der Intelligenz war kaum jemand ausgenommen. Zu allerletzt ich, der sich in verschiedenen Zeitschriften schon mindestens zehn Jahre lang politisch geäußert hatte. In den sechziger Jahren war die Szene allerdings völlig verwandelt. Viele junge und mitteljunge Leute glaubten, mit Gedichten in den heillosen Lauf der Dinge eingreifen zu können. Sie müssen ja immer bedenken, dass inzwischen der Kalte Krieg ziemlich heiß geworden war. Nicht gerade in unseren Breiten, aber in Vietnam. Und nun muss ich Ihnen etwas Eigenartiges gestehen: Ich habe mich damals sehr engagiert für die politischen Gedichte von Erich Fried. Aber mir selbst waren solche lyrischen Beiträge zur Lage vom Tage versagt. So einfach von Gedichten aus Front aufmachen und versifizierte Thesen zum Besten geben, das war mir – lassen Sie es mich ironisch sagen – nicht vergönnt. Obwohl die Politik mich stärker denn je in Anspruch nahm, schien mir das Gedicht das untauglichste aller Agitationsmittel. Wer daran glaubte und wer sich in diesem Sinne lyrisch artikulieren wollte, bitte sehr, aber das Missverhältnis zwischen Wirkungsabsicht und praktischer Wirkung war doch absolut augenfällig. Da trug man seine gesellschaftskritischen Lehrgedichte also in U-Bahntunneln und an Fabriktoren und – hier in Hamburg – am Barkassenanleger vor, und die arbeitende Bevölkerung wollte ganz schnell nach Hause und sich vorm Fernseher ein Bier einziehen. In so ausgesuchten Unaufmerksamkeitszonen politisch was auströten wollen, das ist doch beinah schon hirnrissig. Es war allerdings die Hirnrissigkeit der Zeit, eine Bewusstseinsspaltung der besonderen Art. Denn ich teilte ja die guten oder kritischen Meinungen all dieser lieben mir genossenschaftlich verbundenen Kollegen. Das Schlimmste, was ich in dieser Hinsicht erlebt habe, spielte sich auf einer Hamburger Spezialität, dem sogenannten „Alstervergnügen“, ab. Also da waren die Dichter endlich der wirklichen Basis konfrontiert, etwas betagtem Biederbürgerpublikum, das seinen Kaffee schlürfte und seine Torten löffeln wollte. Die wollten all diesen von der Springer-Presse Verblendeten mal ein Pfingstlicht aufsetzen, und da ließen sie denn bildlich gesprochen ihre Napalm- und Greulgedichte über diesen Leutchen abregnen. Auf diesem „Alstervergnügen“ hab ich dann nur freiwillig-unfreiwillig die Hände heben können und einfach ein paar unterhaltsame Hamburgensien vorgetragen.

Kerschbaumer: Aber Sie haben sich zu dieser Zeit politisch engagiert. Neben Ihren Theater-Experimenten hat ja vor allem Ihre Essayistik deutlich Stellung bezogen: Notstandsgesetze, die eben schon genannte Springer-Presse, der Faschismusverdacht, die Verfolgung Oppositioneller – in Die Jahre die ihr kennt zeichnen Sie einen Staat mit fast totalitären Zügen. Im Moment wird ja um eine gültige Deutung dieser Zeit gerungen, auch mit denen, die diese Jahre nicht kennen.

Rühmkorf: Diese neue Massenbewegung, die so genannte ApO hat mich ungemein angezogen, ja geradezu magnetisiert. Ich war damals selbst mit auf der Straße. Ich war auch nur ein kleines Massenteilchen unter all den Protestlern, die sich damals vor der Hamburger Staatsoper versammelt hatten, eine riesengewaltige Menge, wie sie vorher nie zu mobilisieren gewesen war. Und als wir dann von berittener Polizei auseinander gesprengt wurden, mit Gummiknüppeln traktiert und ziemlich rücksichtslos zu Boden geworfen, da empfand ich einen Hass, einen richtig siedenden Hass auf die Staatsgewalt, dass ich mir Waffen zur Gegenwehr heranwünschte, ja so weit ging das. Das führt uns nun von der Lyrik weit weg. Es war auch weiß Gott keine lyrische Zeit, eher eine hoch dramatische – vielleicht deshalb meine Neigung zum Drama. Die intelligenteste und mit Abstand faszinierendste Erlösergestalt hieß jedenfalls Rudi Dutschke, und der konnte mit drei, vier, fünf Sätzen ganze Auditorien zum Wallen bringen. Nun war Dutschke zwar aller Welts Freund und des Restauratoriums markantester Feind – aber für meinen politischen Realitätssinn hatte er doch irgendwas Jesusmäßiges, was mir fremd war. Da war so ein linker Spiritualismus am Flackern. Er kam aus der Bloch-Schule und das waren auch durchaus so Blochsche Donnerworte, die er in die Arena warf, was an meinen Ohren immer so ein bisschen vorbeiging. Nein, sehr stark sogar. Ich habe Politik immer nichtutopisch betrachtet, Utopien waren mir zu groß. Manchmal traf man sich dann auch wieder in gewissen Ansichten. So predigte Dutschke schon früh den so genannten „Marsch durch die Institutionen“, was ich in Ordnung fand. Auch ich arbeitete ja in einer Institution, in einem Buchverlag. Meine Frau Eva arbeitete in einer Behörde für die Liberalisierung des Strafvollzugs. Die andere, die Gegenfraktion sagte: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, ungemein eindrucksvoll, aber letztlich weltfremd und lebensbedrohlich, und zu dieser Gruppierung gehörte etwas später dann Ulrike Meinhof, mit bürgerlichem Namen Ulrike Röhl. Nun kannte ich das Haus Röhl von der Zeitschrift konkret her aufs intimste. Die Intimität ging so weit, dass Eva mal zusammen mit Ulrike studiert hatte, beide Theologie im Nebenfach, was vielleicht nicht ganz unerheblich ist. Beide kamen aus dem gleichen Glaubenshintergrund der „Berneuchener“, einer protestantischen Sekte, die damals die Liturgie erneuern wollte. Also da kam möglicherweise etwas von der Bergpredigt her und hatten sich gewisse christlich-humanistische Egalitätsideale sehr persönlich zugezogen, was allerdings in die unterschiedlichsten Richtungen führen konnte. Während Eva in den Strafvollzug ging und fünf Jahre lang eine Jugendstrafanstalt leitete, versuchte Ulrike Insassinnen von Fürsorgeanstalten zu indoktrinieren und aufzuwiegeln. Also, Reformgeist oder Revolution, das genau war die Frage. Ziemlich wild zerrissene Zeiten und seltsam auseinander scherende Lebensläufe.

Kerschbaumer: Das heißt, Sie würden sich heute nicht vorbehaltlos wünschen, die Protestbewegung von 1968 hätte sich durchgesetzt?

Rühmkorf: Na, sie hat ja doch einiges durchgesetzt, womit ich nicht meine, dass einige ihrer Vertreter mittlerweile zu höheren und höchsten Staatsämtern aufgestiegen sind. Ihre Meriten liegen vor allem dort, wo sie die Vätergeneration nach ihren moralischen Grundlagen befragt hat und auch die Institutionen einer radikaldemokratischen Durchmusterung unterzogen. Kritisch mit der so genannten „Bewegung“ wurde es dann erst in den siebziger Jahren. Einerseits zersplitterte sie sich in unterschiedlichste Fraktionen, Glaubensrichtungen, Alleinvertretungsgruppen. Andererseits wurde der gute alte Genossenschaftsgeist in diesen Auseinandersetzungen völlig zermahlen, sodass selbst die Patenonkel und Patentanten diesem Säuberungsprozess zum Opfer fielen. Die Relegation durch zwei Naziprofessoren hatte ich noch klaglos, wenn auch nicht wortlos hingenommen. Aber als nun die Genossenschaftskämpfe losgingen und wir alten Sympathisanten von den Bühnen gepfiffen wurden, da bin ich doch stark auf Distanz gegangen. Das Trauma reichte so tief, dass es mich drei Bücher gekostet hat, um damit fertig zu werden. Die Beschäftigung mit Klopstock – für mich sozusagen ein zweiter Durchgang, denn ich hatte mich mit seinen Gedichten schon früh beschäftigt – ist wohl besonders hervorzuheben. Er hatte sich ja auch in vergleichsweise späten Jahren für die Ideen der Französischen Revolution begeistert. Aber als dann die Köpfe zu rollen begannen, auch die Köpfe von guten Freunden und Vertrauten, da hat er sich doch vehement gegen die revolutionäre Terrormaschine gewendet. Trotzdem ist natürlich interessant, dass er den Ehrenbürgerbrief der französischen Republik nie zurückgesandt hat. Welche Lehre ist daraus zu ziehen? Ich will es mit einem Hinweis auf meinen eigentlichen politischen Lehrer Kurt Hiller versuchen. Hiller war einer der Promotoren des literarischen Expressionismus, von Beruf her eigentlich Jurist, und als er aus der Emigration wieder nach Deutschland kam, ließ er sich in Hamburg nieder. Von ihm stammt der für mich lebenslang prägend gebliebene Satz: „Ich bin kein Optimist, ich bin kein Pessimist, ich bin Meliorist.“ Wie kann man der Welt überhaupt nach vorn verhelfen: Doch wohl nur durch das immer währende Bemühen um Verbesserung.

Kerschbaumer: Das klingt vergleichsweise pragmatisch. Wenn Sie von einer sich durch Ihr Leben ziehenden Linie sprechen: Gilt das Schwanken zwischen revolutionären Freuden und dem Beharren auf einer allmählichen Entwicklung auch für Ihre Poetik? Blickt man auf die Lyrik der letzten Jahrzehnte, sind weniger die Brüche, die Neologismen und originellen Fügungen Ihrer Gedichte das Ungewöhnliche als deren Verbindung mit traditionellen Formen, die Wiederaufnahmen der Ode oder des Sonettes, die anhaltende Verwendung des Reims.

Rühmkorf: Auf dies Sprungbrett begebe ich mich gern. Allerdings: Ich habe mich immer auf diesen Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten Echoraum der Künste berufen. Ich bin ja mit diesen Traditionen aufgewachsen, eigentlich von Kindesbeinen an. Heißt zunächst einmal mit dem Kindervers, der in meinen Jugendjahren noch kräftig blühte. Dann mit dem protestantischen Kirchenlied, weil mein Großvater Pfarrer war. Dann mit dem deutschen Volkslied – meine Mutter war unter anderem auch Musiklehrerin. Na, und dann kamen in der Schul- und Unizeit alle möglichen selbst gewählten Vorgänger und Vorsänger hinzu, wobei der deutsche Expressionismus und die nachfolgende kritische Sachlichkeit mich besonders geprägt haben. Ob das unbedingt konservativ zu nennen ist, möchte ich eher bezweifeln. Ich bin ja ziemlich weit fortgeschritten von diesem Fundament aus. Ich habe kein Experiment gescheut, diese Grundlagen neu zu befragen und mich experimentell an ihnen zu reiben. Ich habe nur immer gewusst: Vor dieser tief gestaffelten Resonanz-Arena musiziere auch ich, und nur was man intus hat, kann man auch verspielen, um es zu besitzen. Meine gewisse Querstellung gegenüber einem blinden Experimentiergeist, so trial and error ohne rechte Zielvorstellung, ist dann eine ganz andere Sache. Ich meine, man kann die Brüche, Risse, Schrunden, Widersprüche und Verwerfungen der wirklichen Welt gar nicht radikal genug zur Kenntnis nehmen, was dann augenblicklich an die Substanz und den poetischen Duktus geht. Nur – das Gedicht ist ein Verfassungsorgan des Ich, was für mich bedeutet, dass es schließlich als Sammelorgan erkennbar wird. Egal, welche Zerreißkräfte an dem Ich herumgewirkt haben, auch an seiner poetischen Stellvertretergestalt, dem lyrischen Subjekt, am Ende sollten sich die Bröckel und Scherben doch wieder zur Gestalt fügen.

Kerschbaumer: Welche Bedeutung hat der Reim in diesem Zusammenhang? In Ihrer „Naturgeschichte des Reims“ beschreiben Sie ein ähnliches Spannungsfeld: Einerseits das tief verwurzelte Bedürfnis nach Gleichklang, andererseits die in der Moderne zwangsläufigen Brüche.

Rühmkorf: Na ja, die Reimstrophe hat natürlich eine lange Tradition. Und sie hat im Verlauf ihrer tausend Jahre alten Geschichte auch die unterschiedlichsten Typen ausgebildet. Selbst der Expressionismus, der scheinbar mit allen Herkömmlichkeiten der Verskunst brach, hat seltsamerweise vom Reim nicht lassen mögen. Es gab immer eine Revolution der Sprache, speziell auch der Metaphorik, die sich innerhalb der bestehenden Reimstrophe vollzogen hat. Innerlich wurde einiges verworfen, aber äußerlich wohl gefügt. Da können Sie bei Jakob van Hoddis anfangen und können Heine, Trakl, Benn hinzunehmen. Aber natürlich, mit der alten überkommenen Reimharmonie war es spätestens mit dem Expressionismus zu Ende, und statt auf versöhnliche Klänge stößt man hier eher auf Dissonanzen und Crash-Reime. Übrigens, als ich damals, Anfang der Achtziger über den Reim schrieb, eine Zeit, als die deutsche Gegenwartspoesie den Reim durchweg verabschiedet hatte, hielt ich mich auf diesem Spezialgebiet für einen allerletzten Einzelgänger. Natürlich hat mich gerade das gereizt, den Reim in schwindelerregende Höhen zu treiben und der Mitwelt zu zeigen, was hier noch alles neu und möglich sein kann. Nun, wie soll ich sagen. Kurze Zeit danach scholl es einem auf einmal aus allen Feuilletons entgegen: „Nun reimen sie wieder“. Und heute? Es ist kaum zu glauben. Mit der Rap- und Hiphop-Szene ist dem Reim noch einmal so was wie ein Auferstehungswunder beschieden. Eine Auferstehung aus dem Kanalloch möglicherweise, aber egal, aus dem Untergrund hat sich schon öfter etwas regeneriert. Und das trifft sich nun seltsamerweise mit meiner damals vertretenen Meinung, dass der Reim als Reiz- und Anklangsphänomen überhaupt nicht totzukriegen ist. Die Fähigkeit, auf Reime zu reagieren, manchmal sogar wie angestochen, scheint mir fast schon genetisch in unserem humanen Gepäck verankert.

Kerschbaumer: Das Gedicht und andere Verfassungsorgane. Nicht erst in den sechziger Jahren, schon in der Nachkriegszeit hat Ihr politisches Engagement mit dem Kampf gegen das von Ihnen so genannte „Restauratorium“ begonnen. Von der neueren Geschichtsschreibung werden die fünfziger Jahre der Bundesrepublik als entschlossene Westbindung und institutionelle Stabilisierung der Demokratie beurteilt, anders als von vielen damaligen Zeitgenossen.

Rühmkorf: Also das führt uns nun wieder zurück, und ich würde eigentlich lieber über poetologische Dinge reden. Sie müssen bedenken, die von uns bereits in den späten vierziger Jahren erhoffte moralische Wende hatte in der Gesellschaft nie ernsthaft stattgefunden. Das Gegenteil war der Fall. Viele alte und hochrangige Nazis hatten sich in die unterschiedlichsten Körperschaften der Bundesrepublik hinübergerettet – den Staatsapparat, die Richterschaft, die Universitäten, die Bundeswehr, den Verfassungsschutz, die Vertriebenenverbände, die Bundesbank, man weiß gar nicht, wo man anfangen und aufhören soll. Dass auch auf den Universitäten im alt autoritären Stil weiterregiert wurde, habe ich am eigenen Leibe schmerzlich erfahren müssen, weil ich gleich von zwei ausgewiesenen Naziprofessoren, dem Literaturwissenschaftler Hans Pyritz und dem Kunstgeschichtler Schöne, aus dem Seminar geschmissen wurde.

Kerschbaumer: Heute werden ja stärker die formalen Veränderungen hervorgehoben, nicht mehr so sehr die personellen Kontinuitäten nach dem Krieg.

Rühmkorf: Unser Grundgesetz ist so schätzens- wie schützenswert. Schade nur, dass seine Ausrufung am 23. Mai ’49 gleichzeitig den ersten Schritt zur deutschen Spaltung bedeutete. Nein, eigentlich bereits den zweiten, denn der erste war bereits durch die in den USA verfügte Währungsreform des Vorjahres vollzogen worden. Alle Werbungsbemühungen um ein wiedervereinigtes Deutschland gingen damals vom Osten aus, während bei uns gemauert wurde. Ich erinnere mich genau. Da gab es zum Beispiel die Parole „Deutsche an einen Tisch“ – für uns linke Patrioten eine begrüssenswerte Forderung – nur dass solche Bemühungen von der Adenauer-Regierung höhnisch abgeschmettert wurden. Man muss sich das einmal vorstellen. Da reisten aus dem Osten alle möglichen berühmten Dichter und Künstler an. Anna Seghers und Arnold Zweig und Ernst Busch und Helene Weigel – und man traf sich gewissermaßen innungsgenossenschaftlich – aber das wurde hier sofort verketzert und von der Gesamtpresse mit dem Bannfluch belegt. Dieses Restauratorium hielt ja dicht. „Wir halten fest am Bestehenden“ und „Keine Experimente“ hießen die Schlagworte der Zeit, und wer daran zu rütteln wagte, war fast schon ein Landesverräten In den Kreisen, in denen ich mich politisch bewegte, schien der Vorwurf eher auf unsere Regierung zuzutreffen. Aber dahinter stand selbstverständlich der Wille der Hegemonialmacht. Im März zweiundfünfzig gab es dann sogar diese berühmte Note der Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung. Was zum Angebot stand, war ein neutrales Gesamtdeutschland mit begrenzten Streitkräften, das war absolut eine Wunschvorstellung nach unserer Mütze. Aber, wie gesagt, es lag nicht im Sinne der USA, die in Wirklichkeit die Macht im Hause hatten. Tatsächlich gab es in der frühen BRD einen absolut blinden Amerikanismus, der uns schon als Sklavenmoral erschien.

Kerschbaumer: Amerikanismus? Im intellektuellen Leben war doch gerade derAntiamerikanismus verbreitet.

Rühmkorf: Nein, nein. Das kam alles viel später. Die BRD war ein gefügiges Land. Die Amerikaner waren als Befreier gekommen und die Russen sah man als bloße Besatzer an, und das hatte im Denken der Leute schon seine Konsequenzen. Im Klartext: Während Stalin sich nicht vorstellen konnte, dass man ein so großes Land wie Deutschland folgenlos zerteilen konnte, war den US-Amerikanern ein wiedervereinigtes Gesamtdeutschland absolut schnuppe. Nein, sie wollten es nicht. Sie wollten ihre Einflusszone absichern, und sie schätzten sogar den Kalten Krieg, weil er der Waffenindustrie gewaltige Gewinnspannen eröffnete. Auch von heute aus gesehen, meine ich, dass die Russen sich mit einer Ausdehnung ihrer Machtgrenzen bis zur Oder-Neiße-Linie begnügt hätten.

Kerschbaumer: Im Falle der Sowjetunion handelte es sich aber um einen Staat, gegen dessen Gleichheitsverdikt der Westen die Verteidigung der Freiheitsrechte ins Feld führen konnte. In der Nachkriegszeit haben Sie geschrieben: „Die Pflichten des Künstlers und des Wissenschaftlers können beide nur soziale sein. Sie haben der Einordnung des Menschen in die Gesellschaft zu dienen, der Konstruktion einer neuen Ordnung – auf Kosten des Ich.“ Aber dann beharren Sie doch aufs Schönste auf diesem Ich:

Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du

Rühmkorf: Nachdem wir die Expressionisten durchhatten und auch Kästner und Mehring und Tucholsky, gerieten wir in das Spannungs- beziehungsweise Kräftefeld von zwei großen Dichtern, die beide auch große Systembildner waren, ich meine Bertolt Brecht und Gottfried Benn. Ich könnte im Moment gar nicht sagen, ob es in irgendeinem anderen Land noch einen derart paradigmatischen Antagonismus gibt oder gab: Auf der einen Seite einen Sänger des Ich, der im Weltmaßstab seinesgleichen sucht. Auf der anderen einen Auskündiger der gesellschaftlichen Veränderung und des genossenschaftlichen Zusammenlebens, was zusammengenommen dann schon ein eigenartiges Kräftefeld bildet. Sie haben hier gewissermaßen eine repräsentative Konfiguration von miteinander konkurrierenden Wertvorstellungen. Wofür ist die Lyrik gut, und was hat sie auf der Welt zu suchen? Dient sie dem Ausdruck des Ich oder seiner sozialen Vermittlung? Ich denke wohl beidem, und das ließe sich – ins Politische übertragen – dann vielleicht als ewiges Wechselspiel von Freiheitsbedürfnissen und egalitären Gesellungsidealen lesen.

Kerschbaumer: Es wurde oft, nicht zuletzt von Ihnen selbst, Ihre Konstanz beschrieben, auch in der Poesie. Ihr Tonfall ist Ihr eigener: mit seinen Kapriolen zwischen Pathos und Niederungen, reichlich fremden und neuen Worten, Alltagsnähe und Verrätselung. Ihre sensualistische Lebenseinstellung blieb immer bestehen. Und stets geht sie mit Gedanken an die Vergänglichkeit einher.

Rühmkorf: Ich habe mein eigenes Wesen immer als reichlich bunt und wild gemischt empfunden, und diese riskante Mischung hat sich vermutlich erhalten. Irgendwo in den Tagebüchern 1989 – 1991 steht die reichlich verwegene Stelle:

Dass ich eigentlich ein Religionsstifter bin, hat sich leider noch nicht allgemein herumgesprochen.

Was Sie eben aufgezählt haben, sind so einige Gegensatzpaare, die im praktischen Leben oft schwer auf einen Nenner zu bringen sind. In der Kunst im Übrigen auch, und das hat sich mir dann als eine Art von Heilslehre nahe gelegt, die unmöglichsten Reiz- und Zerreißkräfte in die Waage zu bringen. Die Kunst als Balanceakt zwischen Widersprüchen. Die Kunst als Hochseilnummer zwischen lichtem Himmel und platter Erde. Die Kunst als immer wieder neuer Versuch, die Erdenlast aufgehoben erscheinen zu lassen. Erscheinen zu lassen – mehr liegt ja nicht in unserer Hand – aber gute Beispiele fördern ja vielleicht gute Sitten. Ich weiß nicht, mehr darf ich darüber in Prosa, glaub ich, nicht sagen. Je radikaler das lyrische Subjekt sich selbst zur Kenntnis nimmt, umso mehr hat es Anrecht auf eine allgemeinere Anteilnahme. Ich könnte auch sagen, wem in seiner eigenen Haut nicht gelegentlich verzweifelt ungemütlich ist, der kann uns viel erzählen, es berührt uns nicht. Also immer schön krass die Widersprüche herausarbeiten, die gefährlichen Grate nachschärfen, die Spannung bis an den Rand der Überspannung treiben – und erst dann nähern wir uns jenem springenden Punkt, wo das Gedicht seine Erlösungsformel in die Welt entlassen kann.

Kerschbaumer: Wie hängen die Lebenslust und die Vergänglichkeit zusammen?

Rühmkorf: Eine sehr alte Tradition. Bei uns ganz besonders durch die Barocklyrik repräsentiert, indem der Vanitasgedanke, das Vergänglichkeits- und Vergeblichkeitsgefühl in fast organisch zu nennender Dialektik mit der Feier des Augenblicks verklammert war. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit macht einem Beine. Die Erkenntnis der schnellen Flucht lässt den beseelten und belebten Augenblick umso kostbarer erscheinen. „Ach, Liebste, lass uns eilen“, sagt Martin Opitz, „wir haben Zeit“ – was auf Neudeutsch übersetzt heißt, wir leben in der Zeit, wir haben keine Zeit zu verlieren, wir müssen uns sputen – denn:

Es schadet das Verweilen uns beiderseit.

Also das ist so eine bestimmte Erkennungsmelodie, die Sie bei Fleming sowohl antreffen wie bei Kaspar Stieler, meinem ganz besonderen Liebling, wobei wir uns immer den Grauenshorizont des Dreißigjährigen Krieges hinzudenken müssen. Der war uns nach dem letzten Krieg näher als heute, als wir unsere hektographierte Literaturzeitschrift Zwischen den Kriegen nannten. Den einen hatten wir gerade hinter uns und der nächste stand bereits drohend an den Horizont geschrieben. Was uns zu allen möglichen apokalyptischen Metaphern stimulierte, aber eben auch zum frivolen Lobgesang auf das uns verbliebene Intervall. Etwa so:

Ich bin seit Hellas ziemlich heruntergekommen.
Ich hänge mein Herz an alles, was mir durch die Finger 
rinnt.
Das Elend der Welt ist größer als angenommen
Und köstlicher der Wind

Na, so könnte ich noch eine ganze Weile weiterzitieren, weil, komisch, diese frühen Sachen sitzen noch, während ich spätere Strophen oft gar nicht mehr zusammenkriege. Hadesgesänge – und die dagegengesetzten Dennochmelodien, das ist es. Und da haben Sie sogar wieder mal so etwas wie eine Längsschnitt-Kontinuität.

Kerschbaumer: Nun ist das Grauen im Barock in ein christliches Weltbild eingebunden. Trotz aller Furcht vor der Verdammnis gibt es hier Hoffnung. Bei Ihnen klingt es düster:

Dies ist mein erster Schädel und mein letzter,
und ich besinge, was nicht wiederkehrt

Rühmkorf: Leider. So ist es. Richtig ernst wird es erst, wenn der Himmel keine Hoffnung mehr erkennen lässt und der Materialismus mit der Melancholie zusammenfällt. Aber andererseits, ich bitte Sie: „Und ich besinge was nicht wiederkehrt“, das ist doch schon ein richtiger Trutzgesang.

Kerschbaumer: Gibt es hinter dem reinen Materialismus nicht doch noch etwas? Eine Überwindung des Ausgeliefertseins an das Werden und Vergehen durch die Kunst zum Beispiel? Denken Sie an Schopenhauer, wenn Sie schreiben:

Reime sinds
die als Augenblickserfindung
zeigen, wie die Welt sich fügt.
Und beweisen, daß die Lösung in der Bindung liegt

Rühmkorf: Nun, die Kunst ist ein Phantasieprodukt, und wo sie richtig schwefelig schön wird, möchten wir fast dran glauben. Und sie ist auf magische Art und Weise immer wieder trostvoll. Glauben wir noch an den Himmel von Johann Sebastian Bach, von Orlando di Lasso, von Dietrich Buxtehude? Doch wohl kaum. Aber diese geistlichen Musiken beruhigen uns trotzdem auf eine schwer erklärliche Weise, ein Wunder und gleichzeitig der Beweis, dass es nicht allein der religiöse Hintergrund sein kann, der hier die Musik macht. So etwas lässt sich unschwer auf alle anderen Künste übertragen. Wobei ich allein in der Malerei mit religiösen Motiven meine Schwierigkeiten habe. Kreuzabnahmen und verklärte Madonnenaugen sind mir ein Greuel. Abgeschnittene Holoferneshäupter schlagen mich in die Flucht. Aber dann: So ein paar Felsbrocken von Carl Blechen, so ein paar unvermutete Lichtdurchbrüche bei Johann Christian Dahl, und ich geh ins Knie. Mit dem Begriff Utopie habe ich immer so meine Schwierigkeiten gehabt. Vor allem dann, wenn ein Künstler mit dem Zeigefinger über den Bildrand hinausweist – sozusagen symbolisch: da beginnt sie, da liegt sie. Alles Quark. Ich könnte auch sagen, alles Symbolische ist mir ein Greulnis. Nein, die Kunst selbst, und das kann ein Musikstück und ein Landschaftsbild oder auch ein Gedicht sein, ist so etwas wie ein utopischer Raum. Ich fühle mich an einem Unort. So gibt es Tage, ich weiß nicht wie vielen Menschen das sonst noch so geht, wo ich einfach durch die Gegend wandle und Gedichte von Georg Trakl oder Gottfried Benn vor mich hin murmele, für mich selber aufsage, Georg Heym fällt mir dazu ein:

Alle Landschaften haben
Sich mit Blau gefüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.

Solche Sachen kann man jederzeit heranzitieren, wie man gute Geister zitiert. Das ist überhaupt das Besondere an der Lyrik, man kann sie im Kopf mit sich herumtragen.

Kerschbaumer: Dazu muss man die Gedichte parat haben. Sie haben einmal gesagt, für den Kanon würden Sie trommeln, jeden Singkreis segnen. Sie wären ein großer Freund des Auswendiglernens.

Rühmkorf: Also, wenn ich Lehrer wäre, würde ich die Sache ganz sachte und trickreich angehen. Zum Beispiel sagen: Hier gebe ich euch mal ein paar Gedichte mit auf den Weg, und wenn wir uns wiedersehen, liest jeder etwas vor, was ihm besonders gefallen hat. Wenn zwei oder drei das gleiche Stück ausgewählt haben, wird es natürlich besonders interessant. Wie jeder dies kleine Instrument auf seine Art anbläst oder zupft und wie viel eigenes Empfinden man der Sache mit auf den Weg geben kann. Dies ist das eine. Auf der anderen Seite verlangt auch diese feine Kunst natürlich nach gewissen vergleichbaren Bildungsvoraussetzungen. Wer sich ans Klavier setzt, weiß selbstverständlich, wie er Schubert oder Liszt anschlagen muss, und wer in eine Ausstellung geht, hat bereits vorher Hunderte von Bildern im Kopf. Nur bei uns sind da leider einige klaffende Lücken zu beklagen. Ja, ich denke edukativ. Wer nur auf das Allerneueste springt, soll sich erst mal das Alte und Älteste zu Gemüte führen, Walther von der Vogelweide zum Beispiel oder den Kürenberger:

Ich zóch mir einen valken mêre danne ein jâr

Kerschbaumer: Wie sieht der Lyrikkanon für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aus?

Rühmkorf: Das ist schwierig, aber bei genauem Hinsehen doch wieder nicht. Natürlich ragen Benn und Brecht da gerade noch mit hinein, mit wirklich großen Dingen, aber das wollen Sie vermutlich gar nicht hören. Also fangen wir an. Auf jeden Fall Hans Magnus Enzensberger. Einige Sachen von Grass mit Sicherheit, zumal wenn er sie selbst vorträgt. Dito Ernst Jandl. Paul Celan, nicht absolut meine Richtung, aber als individuelle Stimme doch sehr eindringlich. Erich Fried zur Kenntnisnahme und gelegentlich teuflisch pointiert. Ein paar frühe Gedichte von Eich auf jeden Fall und ein paar späte von Krolow, diese halb verwehten, fast nur noch hauchhaft vorhandenen. Ingeborg Bachmann selbstverständlich:

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
die goldenen Becher aus.

Das ist schon fast uneinholbar, obwohl in manchen beliebten Stücken dann leider auch ein wenig süsslich. Spät hinzugekommen, aber gerade insofern überraschend präsent: Robert Gernhardt. Auch Volker Braun wollen wir hier ja nicht vergessen. Tja, und nun wundern Sie sich vielleicht und vielleicht auch wieder nicht: Johannes Kühn. Die Bruchkante ist so abrupt wie bröckelig, und vermutlich werde ich morgen schon auf dieses oder jenes Gedicht stoßen, bei dem ich mich frage: Warum denn nicht auch der? Warum nicht die?

Neue Rundschau, Heft 1, 2002

Günter Kaindlstorfer im Gespräch mit Peter Rühmkorf: „Die Pariser Philosophen sind banal!“

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + DAS&D +
Übersetzungen 1 & 2 + KLG 1 & 2
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

Fakten und Vermutungen zum AutorKLGIMDb +
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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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