Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

Rühmkorf-Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich

JETZT MITTEN IM KLAREN

Also Freund, also ernst, also eh ich endgültig verasche,
und meine Saugkraft verlier,
trink ich noch einmal
B l u t s b r ü d e r s c h a f t
mit der Branntweinflasche
und du prüfst das Revier.

Ich nehm die Dickere, du nimm die Dünnere,
d i e   W e l t
läßt wieder mal hoffen;
woran, an welche Stunde ich mich erinnere,
ich war immer besoffen.

Schau, dieser stark bewölkt bis bedeckte,
d i e s i g e
Tag lichtet langsam die Miene:
leichtere Schnäpse, mittlere, schließlich riesige:
e i n e   f l a m m e n d e   S o n n e n t e r r i n e –

Setzt euch nieder, frostklirrende Elfen;
dies ist hier kein Feuer von Stroh!
Immer zu! wir werden dem Eis schon zum Durchbruch verhelfen
u n d   d e n   B ü s t e n
herab vom Niveau.

Grüß dich Theben, hochgebaut, siebentürig,
wie rieselst du plötzlich zusammen
und kuckst so konkav?
Wenn zur Seite neigt sich mein Schiff schieflastig, wie Lyrik,
u n a b w e n d b a r   w i e   S c h l a f…

Muß ich etwa allein übern Fluß?
Was mauscheln die stygischen Schilfe?
H e r r   Ch a r o n,   z w e i   L e t h e!
eine kleine Übersetzhilfe,
aber Lethe mit Schuß!

Und nicht zu knapp bemessen:
W e l t, wie du im Rückblick dich wölbst.
Doch mein Stundenglas,
meine Einweguhr,
meine Smith & Wesson entsichre ich selbst.

Oder was oder wann oder wie?
Nein, lieber jetzt mitten im Klaren.
Und ihr spielt mir nochmal – diese alteda! –
M i s t m e l o d i e
von den Leuten, die strudelwärts fahren.

 

 

 

Lieber Jürgen Manthey,

anbei der jetzt endgültig aus dem Jenseits in die Gegenwart übersetzte Walther, Klopstock-Korrekturen und – naja, einige neue Gereimte und Gebundene von mir selbst (NKE in statu nascendi). Was man mir vermutlich als Anmaßung verübeln wird, diese Annäherung bis auf Tuchfühlung (jetzt sogar noch im Bild vollzogen), ist eigentlich viel Schlimmeres: rücksichtslos-liebevolle Einverleibung/Annektion. Ich habe die beiden Literaturdenkmäler aus dem reaktionären Traditionsbett gelöst, sie kühn an die eigene Brust gerissen und sie neu beatmet – wollen sehen, inwieweit das der weiteren Überlieferung gut tut. Aber nicht darüber wollte ich eigentlich mit Dir reden, sondern über den tieferen Hintersinn der Unternehmung. Wenn das Buch – außer daß es für Kunst, Kunst und nochmals Kunst trommeln geht – einen übergreifenden Gottesbeweis führen möchte, dann doch diesen, daß es immer Zeiten verstärkten sozialen Bodenfließens sind, die das Ich als literarisches Subjekt auf Trab bringen. Wenn ein ICH sich gar so weit in den Vordergrund wagt wie bei Walther, wie bei Klopstock, dürfen wir außerdem annehmen, daß der Vorgang mit spezifischen Klassenunsicherheiten zusammenhängt – Klassenunsicherheiten in der Brust eines Autors, versteht sich. In diesem Sinn sollte sich der Vordertitel des Buches im Innern dann vielleicht so enthüllen: Walther von der Vogelweide, KlopstocK… UND DAS ICH! Könnten wir diese Fragen in den nächsten Tagen nochmal besprechen? Sollten wir – ein Vorschlag – die hundert sofort anschließenden Probleme nicht einmal von Grund auf diskutieren und den Disput dem Buch beigeben? – Eilig und herzlich wie immer

Peter Rühmkorf, Hamburg, den 7. Juli 75, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1975

 

„Fundament“ und „Gewölbezone“

– zur Architektur von Peter Rühmkorfs poetologischem Weltbild (am Beispiel des Buches Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich)

I
Peter Rühmkorf ist einer der Schriftsteller, bei denen ein Gedichtband oft im Verbund mit anderen literarischen Produktionsformen steht, die meist in jenen Jahren bevorzugt werden, in denen der Lyriker entweder neue Gedichte schreibt, die später ein Buch füllen, oder aber für längere Zeit als Gedichteschreiber pausiert. So entstand nach den beiden Gedichtbüchern seines literarischen Beginns in den sechziger Jahren sein aus „Exkursen in den literarischen Untergrund“ geschürftes Buch Über das Volksvermögen (1967), dem in den siebziger Jahren ein Ausflug in die Hochliteratur des deutschen Expressionismus folgte, dessen Ergebnis in Gestalt von 131 expressionistischen Gedichten der Öffentlichkeit samt Vorwort und Kommentaren zu einzelnen Texten vorgestellt wurde (1976). Über eine kaum kleinere Zeitspanne hinweg war Rühmkorf einzelnen Schriftstellern vergangener Jahrhunderte auf der Spur, um – wie bei den Expressionisten – herauszufinden, wie diese Dichter „heute eigentlich“ dastehen, angefangen bei Klopstock, dessen Gedichte er für eine Taschenbuchausgabe (1969) auswählte und mit einem Vorwort versah, bis hin zur Wolfgang-Borchert-Monographie und den wohl am weitesten in die Vergangenheit lotenden Studien, die er zum Leben und Werk Walther von der Vogelweides trieb. Dem korrespondieren von Rühmkorfs Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein jene Arbeiten, die wohl am meisten dem Broterwerb dienten: die für den Tag und die Stunde geschriebenen Literaturkritiken, ohne die manch einer seiner später geschriebenen Essays wohl kaum entstanden wäre, vor allem jene großangelegten kritischen Bestandsaufnahmen, für welche die zu Beginn der sechziger Jahre publizierte Studie „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ stehen kann, aber auch jene Aufsätze zu zählen sind, die in den siebziger und achtziger Jahren – und nun mehr zur eigenen Selbstverständigung – verfaßt wurden. Viele dieser Texte sind Auftragsarbeiten, von einer konkret faßbaren Gelegenheit her geschrieben, wie nicht wenige der Polemiken, in denen sich Rühmkorf mit Zeitgenossen anlegt oder den Zeitpuls zu fühlen versucht.
Dabei ist unübersehbar, daß alle diese Arbeiten, zu welcher Stunde und aus welchem Anlaß sie auch geschrieben sein mögen, in einem inneren Zusammenhang stehen, der zwar Arbeitsteilung nicht ausschließt, letztlich aber in der Person des Autors, auch wenn sie in vielerlei Gestalt im jeweiligen Text anwesend ist, einen übergreifenden Bezugspunkt findet, der erkennen läßt, daß die unterschiedlichen Produktions- und Präsentationsformen von artistischer Lyrik, märchenhaft-fiktiver Prosa (Der Hüter des Misthaufens), verspielter Klecksographie (Fleckenkunde) und kritisch reflektierender Standortbestimmung in Literatur und Politik als ein Ensemble begriffen werden müssen, das Rühmkorf als öffentlichen Darsteller („Lyrik auf dem Markt“) einbegreift. Als eine Ensembleform eigner Art ist vor allem jene Publikation anzusehen, in der gleichsam simultan und damit auf einen Blick zu sehen ist, was in der Regel nicht nur zeitlich nacheinander, sondern auch in unterschiedlichen Publikationsorganen der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wird. Es ist das 1975 erschienene Buch Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, in dem sich an einem Ort versammelt findet, was Rühmkorfs Vielgesichtigkeit in der Zusammenschau auf jene Mitte hin einsehbar macht, die sein literarisches Schaffen konstituiert: die literaturgeschichtliche Studie, in der am exemplarischen Fall das Verhältnis von Schriftsteller und Gesellschaft, Kunst und Politik erkundet und für die Jetztzeit noch immer gültig verallgemeinert wird, den Dialog, der als Organon poetologischer Fundierung künftigen Schreibens im Spannungsfeld lyrischer Selbstdarstellung gehandhabt wird, die als Probe aufs Exempel vorgeführten Gedichte, mit denen Rühmkorf eine neue Phase seines Gedichteschreibens einleitet, als deren manifestes Ergebnis der 1979 erschienene Band Haltbar bis Ende 1999 angesehen werden kann, und der programmatisch-unprogrammatische Aufsatz „Kein Apolloprogramm für Lyrik“, mit dessen Hilfe die literarische Szene sondiert und – zum wiederholten Male – die „Aussichten für Lyrik“ abgeschätzt werden.
Es ist jedoch nicht nur das Nebeneinander reflektierender Prosa und subjekterkundender Lyrik, das diesem Buch eine besondere Bedeutung in Rühmkorfs literarischem Werk zuweist. Es sind mehr noch die thematischen Korrespondenzen und gedanklichen Entsprechungen, die hier augenfällig werden lassen, wie die einzelnen Genres einander zuarbeiten und der analytisch erarbeitete Gesellschaftsbefund der Literaturprognose den Boden bereitet und jene Art des Gedichteschreibens vorbereitet, das in diesem Buch dann auch anhebt. Es scheint so, als wolle Rühmkorf gleich auf den ersten Seiten seines Drei-Dichter-Buches den methodischen Schlüssel für die eigene Arbeitsweise liefern, wenn er das berühmte Selbstporträt Walthers in dessen „Bauabschnitten“ zu rekonstruieren versucht:

1. „Ich saß auf einem Stein“
– das heißt:
der Selbstporträtist begibt sich auf ein
haltbares Fundament.
2. „Und schlug ein Bein über das andere“ – das heißt:
Die Gestalt nimmt von unten her Kontur
an und beginnt sich locker zu verfestigen.
3. „Darauf stützte ich den Ellenbogen“ – So!
Jetzt ist der immer noch etwas kippligen
Konstruktion ein tragender Balken einge-
zogen worden, wobei – fast unter der Hand –
gleichzeitig Spannung mit ins Spiel kommt.
4. „Ich hatte in meine Hand geschmiegt das
Kinn und meine Wange“
– Das Fazit, die Bilanz:
vier Striche und die Figur
sitzt! Damit sehen
wir nun aber auch schon die Gewölbezone erreicht,
und wir können gemeinsam zu den höheren und
höchsten Gedankenaufbauten übergehen
[…] (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 9f.)

Rühmkorfs Verfahrensweise, „Fundament“ und „Gewölbezone“ als zwei zueinander gehörende und aufeinander bezogene Begriffsgrößen seines Denkens überraschend neu zu nennen, wäre freilich verfehlt, denn es handelt sich dabei um ein Spannungsverhältnis, dessen sich der Dichter schon recht früh bewußt geworden ist und auf das er in seinen Aufsätzen immer wieder zu sprechen kommt. Die Konstellation, in der es in den siebziger Jahren geschieht, unterscheidet sich von der in den Jahren zuvor jedoch durch zwei nicht unwesentliche Besonderheiten. Die eine erklärt sich aus einer im Vergleich zur Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre veränderten biographischen und dichterischen Situation. Rühmkorf hat die Schwelle seines vierten Lebensjahrzehnts längst überschritten und gebraucht selbst – wenn auch mit einem Schuß Ironie – für seine in den siebziger Jahren verfaßten Gedichte den Begriff „Alterslyrik“, womit wohl auch die Frage gestellt und zu beantworten war, ob sich ihm nach den Jahren der Lyrikabstinenz, in denen er sich als Dramatiker versuchte und seine Aktivitäten mit denen der außerparlamentarischen Opposition verband, noch einmal ein Zugang zu jener literarischen Gattung eröffnen würde, die sich in seinem poetologischen Denken seit jeher mit dem Begriff „Artistik“ verbindet: die Lyrik.
Auf diese Frage bündig zu antworten bedeutete nicht zuletzt, in einer zunehmend veränderten literarischen Szenerie die Koordinaten zu vermessen, die der eigenen Positionsbestimmung dienlich sein konnten; forderte dazu heraus, die landläufigen Schreibweisen kritisch zu sichten und jene Prämissen theoretisch auf Begriffe zu bringen, die es erlaubten, das Übermaß an falschem Bewußtsein (die Überanstrengung der politischen Wirkungsfunktion des Gedichts) soweit abzubauen, daß dem Gedicht jene Freiräume absichtslosen Kunstwollens zurückgewonnen werden, die es wieder tauglich machen als Medium jener Person, für die Rühmkorf den freilich lange vertrauten Namen „das lyrische Ich“ gebraucht. Er vor allem ist es, der in den poetologischen Bemühungen ins Zentrum rückt und dem Dichter schließlich die Richtung anzeigt, die zurück zum Gedicht führt. Es ist jedoch keine Rückkehr aufs Altenteil früher gewonnener Einsichten und Schreibkünste, sondern ein Weg nach vorn, der hypothetisch erst einmal als Negation der Negation umschrieben werden soll.

II
Rühmkorfs Absicht und Arbeitsweise im Umgang mit Erbe und Tradition wird auch im Falle Walthers von der Vogelweide sowohl im Titel („Reichssänger und Hausierer“ heißt das Oppositionspaar) als auch als Absichtserklärung ohne Umschweife als landläufigen Mustern (hier der akademischen Walther-Interpretationen) zuwiderlaufend deklariert. Das überlieferte Walther-Bild im „Codex Manesse“ fixierend, wird unumwunden erklärt:

was die immobilen Sitzbilder denn doch nur sehr unvollkommen wiedergeben, ist die im Gedicht schrittweise vollzogene Aufstockung einer Figur von unten nach oben, von der Basis bis zum Scheitel, von einem tragfähigen Unterbau bis schließlich hinauf in jene bewegten Überbaubereiche, in denen die auf- und umgewühlten Gedanken ihr friedloses Wesen treiben. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 9)

Damit ist gesagt, was ins Bild gesetzt werden soll: kritische Revision eines im 19. Jahrhundert im Zeichen „völkischer Wiederaufrüstung“ entdeckten „Nationaldenkmals“, das als affirmative Reichsgründungsideologie mißbraucht wurde, indem die „zahlreichen Hinweise auf Weltbegebenheiten und Zeitereignisse in enger Verbindung mit den meist offen und kraß zu Tage tretenden Temperamentsausbrüchen-Freudenbekundungen“ als zwei Seiten eines Prozesses begriffen werden, in dessen Zentrum ein Individuum steht, das Rühmkorf „fast zeitgenössisch in seinen zwischen Privatpassion und politischen Leidenschaften zerteilten Interessen“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 13) nennt. Das ist der Punkt, an dem sich Walther und Rühmkorf begegnen, der jüngere Dichter den älteren als seinen Zeitgenossen erkennt und seinen Fall als den eigenen zu analysieren beginnt. Es geschieht einerseits dadurch, daß der Dichter des 20. den des 12. Jahrhunderts in „schlichte Alltagsprosa“ übersetzt, wo es um die irdischen Güter der damaligen Zeit geht, andererseits scheut er sich nicht, sich in seinen Vorgänger hineinzuversetzen, um jenen psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen, nach denen sich der Transformationsvorgang von der (ökonomischen) Basis in den (dichterischen) Überbau im lyrischen Subjekt vollzieht, dessen Existenz ihm allein schon die Wörter „,ich‘, ,meiner‘, ,mir‘, ,mich‘“ in den Anfangszeilen der Walther-Gedichte verbürgen. Nicht von ungefähr sieht Rühmkorf dieses „Ich-Bewußtsein“ in einem Augenblick der Krise und des Umbruchs entstehen, der seiner Lage bei aller Verschiedenheit der Zeitalter und der Personen in den siebziger Jahren verglichen werden kann, wenngleich die Vorzeichen dabei umgekehrt werden müssen. War es bei Walther der „Verlust sozialer Identität“, der aus dem „zerspaltenen Selbstverständnis als Hofdichter“ ein „gleichsam höheres“ freisetzte, so ging es Rühmkorf wohl eher darum, ein als brüchig erkanntes Gemeinschafts- und Kollektivbewußtsein, das sich nicht mehr beglaubigen ließ, durch jene Wahrheiten neu zu begründen und vor sich selbst zu legitimieren, die aus der Erfahrungswelt eines Individuums allein geschöpft wurden. Was er im Verlaufe seines Erkundungszuges in das deutsche Mittelalter am Beispiel des „Reichssängers und Hausierers“ an den Tag bringt, erweist sich zum Schluß hin als ein Lehrbeispiel schließlich auch für einige Literaturdeuter der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts, denen der Hamburger eine gehörige Lektion in Dialektik erteilt:

Daß das Sein das Bewußtsein formt, ist ein Fundamentalsatz materialistischer Geschichtsauffassung und Gesellschaftsphilosophie – es ist die unsre – und, so für sich genommen, doch nur eine Erkenntniskrücke für die Erstkläßler eines Literatur- und Gesellschaft-Seminars. Das Sein kann nämlich so und so formen, und wie der Mangel an Besitz und Eigentum noch nicht unbedingt zu der erwünschten Sozialkritik führen muß, so wenig die Verleihung einer Sinecure in die erwartete Sorglosigkeit. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 55f.)

Auch bei Friedrich Gottlieb Klopstock, dem zweiten Dichter in der Reihe von Walther bis Rühmkorf, wird gleich auf der ersten Seite Auskunft darüber gegeben, was den Biographen an seinem Gegenüber vor allem interessiert:

Nehmen wir Klopstocks Leben im Längsschnitt, so nimmt es sich fast wie eine modellhafte Komplikation der deutschen Misere aus. Es verzeichnet nicht nur getreu alle Schwankungen im ökonomischen Fundament der Gesellschaft, sondern – und heftiger – die Vibrationen und Irritationen im ideologischen Überbau. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 81)

Wie beim Walther-Essay legt sich Rühmkorf auch diesmal gleich bei der Prämissendiskussion (auf die Frage nach dem Woher Klopstocks heißt es ohne Umschweife: „aus zerrütteten Verhältnissen und der Konkursmasse einer großen Privatinitiative“; Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 81) mit der akademischen Zunft an, der nachgesagt wird, daß sie „die für uns wichtigen Interdependenzen von ökonomischen Fundamentalerschütterungen und nervösem Überbaugeflacker – wenig Wert gelegt“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 85) habe. Wirkte es im Falle Walthers von der Vogelweide noch anachronistisch, wenn Rühmkorf dort mit Begriffen wie „Tendenzkunst“ und „Kunststücke“ (in diesem Falle sogar mit einem eigenen Werktitel) operierte, um seinen Dichter in die Gegenwart herüberzuholen, bewegt er sich bei Klopstock schon auf einem Terrain, auf dem die vorgefundenen Verhältnisse jenen weitgehend gleichen, mit denen sich der Gegenwartsschriftsteller konfrontiert sieht. Der Schriftsteller tritt (in der Person Klopstocks) als ein „radikal neuer Typ des Bürgers und des literarischen Produzenten auf den Plan“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 86). Diesen Dichter kann der Analytiker rechtens einen „Vorläufer“ auch deshalb nennen, weil er sich als einer der ersten deutschen Dichter des 18. mit einer in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus aktuell zu nennenden Fragestellung auseinandersetzen mußte: dem Verhältnis der Poesie zur Revolution. Am Einzelbeispiel – Klopstocks Gedichten auf die Französische Revolution von 1789 – wird der Sachverhalt gezeigt, exemplifiziert an Gedichten wie „Kennet euch selbst“ und „Sie, und nicht wir“ bis hin zu jenen Texten („Die Jakobiner“ und „Das Neue“), mit deren Hilfe Rühmkorf das Dilemma zeigt, in das der einstige Revolutionsdichter im Verlaufe der Ereignisse in Frankreich geriet.

Der Mann, dessen man sich eben noch für die Sache der Revolution ganz sicher glaubte, entzieht sich – unverhoffter Renegat – dem Zugriff. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 114)

Wie am Schluß des Walther-Essays zieht der Klopstock-Interpret auch diesmal aus dem „aufregenden Kasus“, nun unter „individualpsychologischem Blickwinkel“, einen unübersehbar auch für die Gegenwart und die eigene Situation beachtenswerten Schluß, der für die eigene Leid- und Schmerzbewältigung im Sinne eines warnenden Beispiels, das Nachahmen nicht verdient, richtungweisend für den Lyriker Rühmkorf gewirkt haben könnte:

Aller freudigen Aussichten ledig, starrt er mit nahezu masochistischer Vernarrtheit auf diesen ihm einzig interessant erscheinenden Punkt der Weltgeschichte, entzaubert und festgenagelt in einem […] So mündet der hoffnungsvoll begonnene Kehraus in einem von fürstlichen Löwen und königlichen Adlern bevölkerten Feudalzoo jetzt in die negative Dämonologie einer „Klubbergmunizipalgüllotinoligokra-Tierrepublik“. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 116)

Die Wendungen, die einige Schriftsteller der Bundesrepublik, die in den Jahren der Studentenrevolte zu Wortführern des politischen Aufbruchs geworden waren, im Verlaufe der siebziger Jahre ihrem literarischen Leben gaben, mögen Rühmkorf dabei mit vor Augen gestanden haben. Damit ist auch gesagt, worum es ihm bei den beiden Beispieldemonstrationen ging: um Grundsteinlegungen für ein Materialfundament, das es ihm gestattet – die eigene Dichtungsproblematik einbeziehend –, die darüberliegende Etage zu betreten, von der aus es möglich ist, nicht nur das Leben und Werk zweier Dichter zu überblicken, sondern das Ganze: die jeweilige Epoche und den geschichtlichen Prozeß. Damit hat er sich auch die für Verallgemeinerungen und Theoriediskussionen unverzichtbare erhöhte Plattform geschaffen, um in den kritischen Diskurs über das Geschriebene und den für die Veröffentlichung gewählten Titel eintreten zu können. Ein Brief an den Lektor Jürgen Manthey, der auf der Rückseite des Buches als Faksimile abgedruckt wurde, dokumentiert die Grenzüberschreitung, die nun vom Autor zum Sachverständigen für Literatur hin vollzogen wird. Der Schreiber Rühmkorf wird zum Sprecher, und der Dialog löst die weitgehend an den Text fixierte Analyse der beiden vorangegangenen Partien des Buches ab.

III
Das Thema, von dem der Dialog ausgeht, ist einerseits enger gefaßt als die Thematik der beiden Vorkapitel, andererseits, wenn man darunter die das „lyrische Ich“ überschriebene Problematik versteht, weiter als die Erörterungen im Walther- und Klopstockteil, denn es erweist sich, daß es um ein Generalproblem lyrischer Theorie und Praxis geht, das Autoren und Zeitalter übergreift.
Die für die beiden Dialogpartner gewählten Kürzel R und M (sie stehen für Rühmkorf und Manthey) lassen keinen Zweifel daran, daß zumindest die R genannte Person mit dem Autor identisch ist. Da der Lektor im Brief per Sie angesprochen wird, im Dialog aber die Duzform gewählt wird, könnte die mit M titulierte Person auch als Alter ego von R verstanden werden, als dessen Stichwortgeber und Widerpart zugleich, der das Gespräch in Gang zu bringen hat. Das geschieht zunächst, indem die Fäden zum Walther- und Klopstock-Kapitel geknüpft werden und in Erinnerung gerufen wird, was dort gezeigt worden war: die Zwiegestalt des Ichs als „Privatperson“ und „Kunstfigur“. Die ist Rühmkorf auch für die Erörterung der eigenen Dichtungsproblematik wichtig genug, um sie in ihrer Stimmigkeit gleich noch einmal zu bewahrheiten. Das geschieht zunächst dadurch, daß der Terminus „lyrisches Ich“ zur jüngeren Lyrikgeschichte und vor allem Gottfried Benn gegenüber per Negation abgegrenzt wird:

ein Ich, das praktisch nur im Aggregatzustand des Gedichts existierte und mit dem dahinterstehenden Subjekt nicht viel zu tun haben soll. […] ein Ich ohne Vergangenheit, Herkunft, sozialen Werdegang, private Eintrübungen, biografische Bedingtheiten: etwas gewissermaßen Unbedingtes! (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123)

Ob Benn das lyrische Ich wirklich so definiert hat und nicht der als Titel seiner Autobiographie gewählte Terminus „Doppelleben“ geeigneter wäre, das von Rühmkorf gemeinte Problem zu veranschaulichen, mag dahingestellt bleiben. Worum es dem Gesprächsführer geht, kann kaum mißverstanden werden: um das Ich als ein Gesellschaftswesen. Es steht am Schluß seiner Redepassage:

Es bildet sich unter dem Druck und dem Zug von sehr bestimmten sozialen Prägekräften und tritt eigentlich auch nur umständehalber in Erscheinung. In bestimmten charakteristischen Spektren aber von Zeit zu Zeit als eine Art von Typus. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123)

Die siebziger Jahre waren für Rühmkorf eine Zeit, in der sich ein solcher Typus bildete, den er im Laufe des Gesprächs immer genauer zu bestimmen beginnt. Daß er es am Beispiel der eigenen Biographie – wie schon Jahre zuvor in dem Buch Die Jahre die Ihr kennt – tut, kann nach alldem kaum noch überraschen. Wie bei Walther und Klopstock beginnt diese Vorführung auch diesmal mit einer Zeitalterbestimmung: des „neuen Grundlagenfließens und neuer Klassenspannungen“. Denn:

Solange eine Klasse unangefochten herrscht, hat das Ich überhaupt keinen Grund, sich große Gedanken über sich selbst zu machen […] Das bishin gesammelte oder doch am Ausdruck seiner selbst ziemlich uninteressierte Ich wird irre an seinen alten Zusammensetzungen; es beginnt, seine Knochen neu zu sortieren, seine Wesenszüge umzuordnen, sein Blatt neu zu mischen und plötzlich tritt es über in einen veränderten Aggregatzustand. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 123f.)

Hier spricht der theoretische Kopf wohl mehr oder weniger pro domo, gleichsam um sich selbst dafür zu legitimieren, daß Peter Rühmkorf wieder Gedichte schreibt und es nicht mehr als eine Schande ansieht, von Kunst zu sprechen. Es ist ein Revisionsakt, der hier begrifflich-theoretisch vorbereitet wird, durch literaturgeschichtliche Beispiele, die weit hergeholt wurden, untermauert. Solches Gedankenspiel droht freilich in einem Regelwerk zu erstarren, wenn Zeiten gesellschaftlicher Spannungslosigkeit als Zeiten ichloser Lyrik glaubhaft gemacht werden sollen und übersehen wird, daß gerade in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität, mündelsicherer Anlagen und unumstößlich scheinender moralischer Werte Verunsicherung um sich greifen kann und Postulate formuliert werden, wie sie sich in vielen expressionistischen Gedichten finden, in denen das einzelne Ich als Wortführer der ganzen Menschheit in Erscheinung tritt. Die „sicheren Lebensformen“ schlossen in diesem Fall „Verfall und Triumphs-Gefühle nicht aus, sie erzeugten sie geradezu. Wohl auch deshalb, weil „Überbaugeflacker“ schon einsetzte, als die Fundamente der Gesellschaft noch unzerstörbar erschienen. Auch was Rühmkorf „persönliche Klassenunsicherheit“ nennt, greift begrifflich viel weiter aus, als im weiteren Gesprächsverlauf an biographischen Fakten zum Sachverhalt mitgeteilt wird. Es sind jene Passagen, in denen der Zeitbericht immer mehr Züge einer nicht von Selbstlob freien Selbstdarstellung (oder soll man von wohlkalkulierter Werbung sprechen) annimmt und R. sich zu den „kleineren Zeitvoraussagern“ zählt, zu denen er eigentlich, wenn es nach seiner Theorie ginge, gar nicht gehören dürfte. Worauf sich die Fähigkeit, „so für 4-5–6 Jahre“ die Zukunft zu antizipieren, bezieht, ist mit dem Jahr 1968 sinnfällig angezeigt:

M: Und als sich die APO dann wirklich bildete und die Proteste sich von Papier lösten und die Öffentlichkeit bewegten, da warst du zunächst mit dabei.

R: Ein paar Male sogar als Vorpfeifer, und zwar ganz unmetaphorisch. Ich skandierte unsere Kader-Sprüche mit der Trillerpfeife. Hab dann auch immer wieder auf Podien gestanden und Reden gehalten. Ziemlich chiliastische.

M: Von dem Chiliasmus, von dem Menschheitsbeglückerpathos ist soviel nicht geblieben.

R: Ich habe nie abgeschworen.

M: Du hast dich mokiert, und zwar ganz und gar nicht zimperlich. Über die ,Popsozis‘, die ,Oberbekleidungsrevolutionäre‘, über die ,linken Heilsmystiker‘, die ,Boutiquen-Robespierres‘ – das hast du sogar alles zu Papier gegeben. Es klang beinah schon wie der alte Klopstock 1792, als er der Französischen Revolution abschwor. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 135)

Und dann ist auch die Rede von jenem Debakel, das Rühmkorf als Dramatiker erlebte, als er die „Marktlage“ verkannte und mit „Parabelstücken über wirtschaftlichen Konkurrenzkampf“ ein „schlimmes Lehrstück“ erlebte:

Ich war äußerlich und innerlich Pleite, mein Bewußtsein ging auf Grundeis. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 136f.)

Von diesen Erfahrungen geprägt – im Gespräch erzählt er auch von anderen Produktionsweisen, denen er sich damals zuwandte –, definiert sich sinnbildlich nun auch der Lyriker mit seinen „neuen Gedichten“ als Akrobat und Hochseilkünstler, und das Gespräch steuert auf das Thema jenes Aufsatzes zu, der als Schlußteil dem Buch beigegeben wurde. „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ heißt er.

Zuvor jedoch wird gedanklich noch einmal Anlauf für eine Kunstformel genommen, die wohl als das Fazit des Dialogs angesehen werden kann:

M: Die Poesie als eine legitime Schwester der Anarchie?

R: Mit dem einzigen gewaltigen Unterschied, daß Poesie ihre eigenen Halte- und Ordnungssysteme entwickelt. Ziemlich rigide sogar. Und daß sie einem Äußersten an Gefährdung/Bedrohung mit einem Äußersten an innerer Festigkeit zu begegnen sucht. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 146)

Damit geht einher, was Rühmkorf „getrennte Existenzen“ nennt.

Es kann also durchaus sein, daß der eine von uns für politische Parteiungen oder gesellschaftliche Ordnungen votiert, vor denen der andre sich schüttelt. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 147)

Der Widerspruch zwischen beiden ist nun gleichsam programmiert, das Spannungsverhältnis in der eigenen Person installiert, die neue Basis für das Gedichteschreiben gegründet. Der Freiraum, in dessen Grenzen diese Art der Kunstpraxis wieder geübt werden darf, ist geschaffen. Es gibt keine Hindernisse mehr, sich erneut der „Kunststücke“ zu bedienen, ohne die das Gedichtemachen bei Rühmkorf in der Vergangenheit nicht denkbar war. Wie aber wird das „neue Gedicht“ aussehen, das in den siebziger Jahren probiert und Haltbar bis Ende 1999 in Aussicht genommen wird? Läßt sich an den „21 Gedichten“, die Rühmkorf für diesen Band zusammengestellt hat, schon die Probe aufs Exempel machen?

IV
Verglichen mit dem 1979 publizierten Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 fällt an diesen 21 Texten auf, daß sie nicht, wie bei Rühmkorf üblich, nach Gruppen geordnet und dann noch einmal untertitelt, sondern mehr oder weniger lose gereiht wurden, vermutlich sogar in einer Zeitfolge, auf alle Fälle jedoch so, daß die Jahre von 1972 (dieses Datum wird im Gedicht „Druse“ gleich am Anfang signalisiert) bis 1975 als wahrscheinlicher Entstehungszeitraum angenommen werden können. Wichtiger jedoch als der hier noch fehlende thematische Obernenner für diese Gedichte ist, daß einige in einem offenkundigen Korrespondenzverhältnis zueinander stehen, ablesbar sowohl an Gedichten, die den elegisch-ironischen Ton der Altersreflexionen im Dialog aufnehmen, erkennbar aber auch an Texten, die direkt dessen Vokabular benutzen, „Hochseil“ und „Zirkus“ zum Beispiel. Auch der Tonfall, die Wortwendung und die Rhythmisierung des einen oder anderen Gedichtes erinnert an frühere Gedichte aus der „Kunststücken“-Zeit. Das mag ein Indiz dafür sein, daß sich der Dichter auch in seiner Sprache wiedergefunden hat, hat aber mehr wohl mit der Praxis des „Artisten“ zu tun, dem es hin und wieder gefällt, sich selbst zu zitieren (das war auch im Dialog schon so) oder der geschriebenen bzw. gesprochenen Sprache mehr als der eigenen den Vorzug zu geben. Auch darin ist der neue dem alten Lyriker vergleichbar geblieben. Sein Wortarsenal reicht noch immer vom „Volksvermögen“ bis zur Neologismusbildung höchsteigener Provenienz. Daß ihm im neuzeitlichen Sprachverschleiß die Sprache noch nicht gänzlich abhanden gekommen ist, beweist er mit Galgenhumor im Gedicht „Nekropolis“, in dem der Tod auch visuell gegenwärtig ist, als Graphem sowohl für diese Stadt, aber auch dafür, daß im Zeichen des Endes auch das Gedicht mehr und mehr mit Leerstellen ausgefüllt werden muß, die mit dem Todeskreuz angezeigt werden.
Ehe Rühmkorf in einem der letzten Gedichte dieses Bandes das „Hochseil“ wieder besteigen kann, muß er zuerst weit unten den Boden dafür bereiten. Unten bezeichnet dabei sowohl das Stimmungstief, das einige seiner Gedichte zu erkennen geben, als auch die Baisse, als die ihm nun die Jahre des Alters erscheinen. Das „Druse“-Gedicht gibt Einblick in das Wortlaboratorium, in dem seine „Auffanggläser“ aufgestellt werden sollen:

16 Uhr 30. – Auffanggläser beiseite gestellt. Filterpapiere abgeheftet. Drei Kreuze geschlagen. Schlußstrich gezogen. Lyrik in meinem Alter noch? Wohl doch’n bißchen unseriös. Zumindest ein Luxus, den man auf längere Sicht gar nicht durchhalten kann. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 152)

Der Zweifel greift um so tiefer, weil auch die eigentliche Sinnfrage – Wozu, wofür Lyrik heute? – vorerst nicht produktionsstimulierend beantwortet werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil das Gedicht so sehr Ausdruck eines einzelnen Menschen ist, daß es sich jedem anderen von vornherein entzieht oder verschließen muß. Rühmkorf kalkuliert dieses Berufsrisiko ohne Illusionen:

(…) Man zieht und zieht seine
S c h a t t e n
aus spitziger Feder,
kilometerweise, aber
von einer gewissen Qualität an wird es dann
für Dritte und Vierte fast zwangsläufig
u n – v e r – s t ä n d l i c h –
Wackeln Sie nur nicht so
unmutig mit dem Überbau, meine Herrschaften!
Wenn diese Gesellschaft sich   k e i n e
G e d i c h t e   leisten kann,
d e n   A n s p r u c h ,
ne Kulturnation zu bleiben, werde
I C H ?
a u s  e i g e n e r ?
T a s c h e ?
b e s t r e i t e n ?
Gar nichts werd ich
. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, 152f.)

Die diesem Gedicht benachbarten Texte umkreisen mehr oder weniger die hier umrissene Situation des Dichters. Das Gedicht „Vormärz“ signalisiert seine prekäre Lage, indem es einen Feldherrenspruch aufnimmt und ins Gegenteil umkehrt: zur Bezeichnung eines Besiegten, der sich seine Niederlage eingestehen muß:

Ich saß, ich sah, ich schrieb,
der letzte Kuli,
der hinterm Glück zurückgeblieben war;
bereits der Morgen hatte was von Juli
mitten im Februar.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 155)

Das Gedicht „Schon ab Vierzig“ liest sich vom Schluß her auf den ersten Blick wie die Zurücknahme dieser Lagebeschreibung, wenn sich die Du-Person als „im Kampfe unbesiegt“ bezeichnet. Aber auch hier wird im Grunde vom Ende gesprochen, nur daß es „von der eigenen Hand“ gesetzt wird, also kein anderer sich als Sieger ausrufen kann. Selbst der zunächst gar nicht tragikumwitterte Titel „Abtrunk“ liest sich konnotativ eher wie „Abschied“ oder „Absage“, womit sowohl das Leben als auch die Dichtung gemeint sein können. Erst am Schluß dieses Gedichts gelingt die Gegenbewegung, für die nicht von ungefähr das Adverb „hoch“ steht:

Fahr ich hoch, aus dem knirschenden Joch,
mit ununterkriegbaren Sinnen:
I c h   w i d e r s p r e c h e ,
i c h   w e t t e r l e u c h t e   n o c h !
conquistadorisch nach innen
. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 157)

Daß dieser Weg „nach innen“ ein Fluchtweg sein könnte, der noch immer nicht Rettung zu verheißen vermag, bestätigt das Gedicht mit dem Titel „Kiez“, in dem sich das lyrische Ich als

Alter Mann, auf frischer Flucht befindlich,

vorstellt, dem sich die Frage stellt:

Warum krempelt sich dein Kopf nach innen?,

ehe am Schluß Selbstermutigung die Stimmung umschlagen läßt:

Bruder, führst du auch ein ungeliebtes
L e b e n,
hau es auf den Kopf, das Haupt –
seinen eignen Leidenssirup saufen, doch, das gibt es,
öfter als man glaubt.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 159)

Kneipenszenerie und durch Alkohol bewirkte Gemütserleichterung, ohne die solches Selbsterkennen vielleicht gar nicht formulierbar wäre, bleiben auch für Gedichte unverzichtbar, die alkoholisch eingeleitet oder mit dem Namen eines solchen Getränks „Jetzt mitten im Klaren“ doppeldeutig betitelt werden. Weitet sich im Gedicht „Elbterrassen“ die Szenerie in metaphysische Bereiche („Ist das astral? Orplid?“), die es gestatten, das eigene Dilemma zu generalisieren („W a s   i s t   d e r   M e n s c h ?“), so bekommt im letzteren „Herr Charon“ den Auftrag, „Übersetzungshilfe“ in das Totenreich zu leisten. Die Trinkermetaphorik verbindet sich mit dem Todesmotiv, ganz gleich, ob „Lethe mit Schuß“ bestellt oder ein „Gnadenschluck“ (wer assoziiert nicht auch hier die ursprüngliche Wortverbindung) verlangt wird. In dieser Lage ist es dem lyrischen Ich aber offenbar auch versagt, bei der „säuselnden Sirene“, die im Gedichttitel „Undine“ genannt wird, mehr als einen trügerischen Trost (oder Selbstvergessenheit) zu finden, wie es sich als unmöglich erweist, einem politischen Imperativ wie „Anschluß an Masse finden“ zu folgen, um darin aufgehen oder sich aufgeben zu können. Diese Einsicht findet ihre Entsprechung in einer Strophe von „Mailied für junge Genossin“, in der nun auch für das Gedichteschreiben erst einmal der Negativpol bestimmt wird, ohne den die Dialektik von Kunst und Politik nicht wiederhergestellt werden kann:

Kunst als Waffe? – da sei Majakowskij vor!
Deibel, diese blutige Krawatte.
Dicker Danton, der den Kopf verlor,
als er seine Zähne noch beisammenhatte.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 175)

Nach alldem verwundert es nicht, daß der Aufschwung, der das lyrische Ich hinauf aufs „Hochseil“ bringt, nicht zu einem Befreiungsakt gerät, mit dem es gelingt, dem innerlich zerrissenen und verunsicherten Ich zu entfliehen. Im Gegenteil: auch die Kunst bleibt im Bannkreis des Zweifelhaften und Prekären, wenn sie sich an die Prämissen hält, die Rühmkorf für sie aufgestellt hat und dem Ich zuordnet:

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes/Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.
(Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 178)

Das Fazit, das aus diesen Gedichten gezogen werden kann, ist eindeutig: Ich und Welt befinden sich in einem beklagenswerten Zustand, und noch ist das rettende Ufer nicht in Sicht, von dem aus wieder Gedichte möglich werden, wie man sie – zumindest vereinzelt – im Lyrikbuch von 1979 findet, wo die erste Gedichtgruppe mit dem Untertitel „Von mir – zu euch – für uns“ eine wesentlich modifizierte Weltsicht und Schreibhaltung ankündigt. Insofern ist es der Situation angemessen, wenn die Überschrift des Textteils, der den 21 Gedichten vorausgeht, in Abrede stellt, was möglicherweise erwartet wird. Sie lautet: „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ und gibt zu verstehen, daß die Höhenflüge der Raumfahrer keine Entsprechung in der Lyrik der siebziger Jahre finden, weil ihr das „Universalbenzin“ (zumindest für Rühmkorf trifft das zu) ausgegangen ist.

V
Der Schlußtext ist der kürzeste im Ensemble der vier in diesem Buch nachlesbaren. Er umfaßt acht Druckseiten, zu lang mithin für ein literarisches Manifest, zu kurz für ein Panoramabild wie „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“. Um einen bloßen Anhang zu den Haupttexten handelt es sich aber auch nicht, dafür ist dieses Prosastück zu stark in das thematische Netzwerk der vorherigen Textsorten eingebunden, und es kann auch nicht übersehen werden, daß der Autor hin und wieder auf frühere Publikationen zurückgreift, deren Thesen er erneut ins Feld führt. Das gilt da, wo von Adorno die Rede ist, für den Aufsatz „Einige Aussichten für Lyrik“ (1963) als auch für den im gleichen Jahr verfaßten Brief an einen Geschäftsfreund mit dem Titel „Erkenne die Marktlage“. Setzt man „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ zu den literaturgeschichtlichen Studien über Walther und Klopstock in Beziehung, dann kann er zumindest in einem Punkt als deren Fortsetzung deklariert werden, denn er ergänzt das Vergangenheitsbild durch das der literarischen Gegenwart. Darauf soll nun noch einmal das Augenmerk gelenkt werden.
Rühmkorf bilanziert zunächst die Marktaktivitäten – verstanden als Versuche, das Gedicht vor ein größeres Publikum zu bringen – in den „mittleren Sechzigern“ und konstatiert das sattsam bekannte Grundübel:

da die Gesellschaft in Wirklichkeit keinen Platz für Lyrik hatte, allenfalls Abstellplätze, verkehrte sich die Platzwahl selbst zur baren Utopie, d.h. zur krampfhaften Suche nach immer neuen Unörtern. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 185)

Was als Innovation begann, blieb ohne die erhoffte Wirkung, sowohl die Nachfrage auf dem Gedichtmarkt betreffend als auch auf Anzeichen veränderten Publikumsverhaltens bezogen, die offenbar ausblieben und über ein ritualisiertes Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Autor und Rezipient nicht hinauskamen. Aber auch die Bemühungen, die an der „Wende von den Sechziger zu den Siebziger Jahren“ einem neuen Gedichttyp zum Durchbruch verhalfen, den Rühmkorf „das epigrammatische Lehrgedicht“ nennt und auf fünf Merkmale festlegt, vermochte die Situation nicht grundlegend zu verändern. Dabei handelt es sich hier um eine Sprechweise, die der Kritiker Rühmkorf ein Jahrzehnt zuvor selbst willkommen geheißen und für einige seiner Eigenschaften belobigt hatte, die er diesem Gedichttyp jetzt mehr oder weniger anlastet, nicht nur, weil diese Gedichte den Sozialismus nicht genug verbreiten halfen, sondern weil diese Praxis des Gedichteschreibens auf das Gedicht zurückschlug, indem es dieses mehr und mehr dessen beraubte, was zu einem Gutteil seine Wirkungskraft ausmacht: seine Kunstfertigkeit. Nimmt man die Gedichte, die Rühmkorf als Beispiele nennt, unter diesem Gesichtspunkt in Augenschein, kann man dem Kritiker einerseits wohl zustimmen, muß andererseits aber hinzufügen, daß die Vielfalt und der Reichtum der Sprechweisen, die im Zeichen eines stark politisierten Wirklichkeitsverhältnisses entstanden, außer acht gelassen werden. Wenn Rühmkorf schließlich für eine ihm angemessene Schreibweise die damals in Mode kommende „neue Subjektivität“ nennt (zum Glück an einige Namen gebunden, die seinen Gedanken keinen Abbruch tun), vertraut er offenbar mehr dem modischen Schlagwort, anstatt tiefer lotend danach zu fragen, ob dieses Programm nicht auf eine andere Art von Einseitigkeit hinauszulaufen drohte und dem Privatich in einem Maß Tür und Tor öffnete, das einer „Tendenzwende“ gleichkam. Solche Weiterungen mochten 1975 noch nicht generell absehbar sein, in der Folgezeit jedoch waren sie die Regel, die das Spiel (die Marktlage) bestimmte. Als das eigentliche Dilemma nennt Rühmkorf „den Eindruck, als ob sich die Poesie die eigne Existenzfrage gar nicht stellt und sich vor Tod-oder-Leben in eine pläsierliche Welt des schönen Scheins verflüchtigt. So viele nette kleine Bruderschaften in Apoll! – aber kein einzelgehender Satyr wagt sich aus den Schutzgebieten hervor ins Freie, kein meinetwegen Marsyas, um den Sterblichen unter Lebensgefahr eine richtige Menschenmusik vorzuspielen.“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 189)
Das ist der Punkt, an dem das, was kein Programm (zumindest keines mit großen Ankündigungen) sein sollte, dennoch ins Programmatische übergeht. Es ist – was die darin intendierte Verhaltensmaxime angeht – auf einen einzigen Begriff zu bringen: „Unerbittlichkeit“. Gemeint ist damit die Fähigkeit, „einem anderen Gesetz ins Auge zu blicken“. Diese Tendenz kleidet der Lyriker (nachdem er das griechische Götterpaar Dionysos und Apoll eingeführt hat) in ein antikes Gleichnis:

Vor die Wahl gestellt, wem das Gedicht sich gesellen soll und wem seine Stimme leihen, mit Apoll den bestechlichen Musen oder mit Marsyas den ausdrucksbegierigen Menschen, der himmlischen Betrugsartistik oder dem Hunger nach Lebenswahrheit, den Fellabziehern oder den Geschundenen, kann, muß die fast aus der Welt konkurrierende Gattung doch schon von Schicksalswegen die Partei ergreifen der so oder so oder so Deklassierten und Entfremdeten. (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 190)

Damit ist die Negationsform im Titel („Kein“) ebenso deutlich bestimmt – nun mit dem Götternamen unbezweifelbar auf Literatur und nicht auf die Raumfahrt bezogen –, wie das der Situation gemäße Denken und Schreiben seine Richtung im Sinne einer neuen Sinnbestimmung gefunden hat. Es ist kein vages Zwischen-den-Fronten-und-Lagern-Stehen, sondern ein entschiedenes Parteinehmen, dem das Wort geredet wird, nicht in einem vordergründig politischen, sondern in einem tiefverstandenen menschlichen Sinne, der auch sozial faßbar bleibt. Bestimmtheit und Offenheit halten sich die Waage ebenso wie Selbstbewußtsein und Realitätssinn.
Was am Schluß dieses Prosatextes in ein Gleichnis gefaßt wird, ist bald auch in einzelnen Gedichten in lyrischer Sprechweise vernehmbar, stellenweise so wie im Gedicht „Bleib erschütterbar und widersteh“, wo Programm und Gedicht eins werden und erkennen lassen, daß Rühmkorf eine zumindest über den Tag hinausweisende Antwort auf einige der Fragen gefunden hat, die in diesem Buch gestellt werden mußten:

Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee…
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh – – –
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – und widersteh. (Haltbar bis Ende 1999, S. 28)

Klaus Schuhmann, aus Manfred Durzak/Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Rowohlt Verlag, 1989

 

Beiträge zu diesem Buch:

Heinz Ludwig Arnold: Einer, der querliegt
Frankfurter Hefte, Heft 10, 1976

Günther Bärnthaler: Walther von der Vogelweide bei Peter Rühmkorf. Mit Hinweisen zur methodisch-didaktischen Umsetzung in der Schule
Mittelalter-Rezeption, 1982

Trude Ehlert: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich
Zeitschrift für deutsche Philologie, Heft 101 1982

Geno Hartlaub: Die Wahlverwandtschaften des Peter Rühmkorf
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 4.1.1976

Hans Jürgen Heise: Lyriker auf Traditionskurs
Die Welt, 6.12.1975

Klaus Michael Hinz: Forschungen eines Fauns
Stuttgarter Zeitung, 23.7.1976

Jürgen Kolbe: Graziös in Gefahr
Der Spiegel, 5.1.1976

Karl-Jürgen Miesen: Wer ist, wer wird verrückt. Rühmkorf las in der Kunsthalle 
Rheinische Post, 1.12.1975

Wolfgang Pewesin: Zur Interpretation des Walther-Liedes „muget irschouwen“. Offener Brief an Peter Rühmkorf 
Der Deutschunterricht, Heft 6, 1976

Albert von Schirnding: Ansichten eines Fauns
Süddeutsche Zeitung, 13./14.3.1976

Peter Schütt: Lauter geniale Kunststücke. Lyrik und Literaturkritik von Peter Rühmkorf 
Deutsche Volkszeitung, 15.4.1976

Michael Stone: Ein Schuß Marx, drei Schuß Alkohol
Stuttgarter Zeitung, 14.2.1976

Reinhardt Stumm: Rühmkorfs fröhliche Wissenschaft
Nürnberger Nachrichten, 21./22.2.1976

Gert Ueding: Rühmkorfs Überlebenskunst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.1976

Jürgen P. Wallmann: Schandschnauze Walther
Deutsche Zeitung, 2.1.1976

Jürgen P. Wallmann: Herr Walther zwischen allen Stühlen
Der Tagesspiegel, 1.2.1976

Jürgen P. Wallmann: Des Reichs genialste Schandschnauze
Schwäbische Zeitung, 23.4.1976

Peter Wapnewski: Zwischen Freund Hein und Freund Heine
Die Zeit, 5.3.1976

Wyss, Ulrich: Rühmkorf, Walther von der Vogelweide und ich
Euphorion, Heft 2/3, 1978

anonym: Klopstock aus dem Sperrmüll
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 7.7.1974

anonym: Rühmkorf nimmt Klopstock zur Brust
Münchner Merkur, 4.12.1975

anonym: Pangraz und Rühmkorfs Zauberbrille
Die Welt, 8.1.1976

Elisabeth Andres: Gedanken zur Lage der neuen deutschen Lyrik
Merkur, Heft 356, Januar 1978

 

„ich hasse Schriftsteller,

die nicht alle paar Jahre mal Hasard spielen“

 

Heinz Ludwig Arnold: Peter Rühmkorf, Jahrgang 1929, heute 47 Jahre alt, Lyriker, Essayist, Theaterschreiber. Er fing mit einer sehr expressionistischen Lyrik an. Zum Beispiel aus: Die Jahre, die Ihr kennt das Gedicht „Anfälle und Erinnerungen“, eines seiner frühen Gedichte:

Wir wollen den Leib des Himmels sprengen,
daß die Wolken wie Därme auf die Erde hängen,
wir wollen fremde Gestirne düngen,
daß sie Früchte bringen.
Wir werden
die Steine schmelzen und
Wasser härten,
Wir beten
Motor Unser, der Du bist auf Erden,
Wir werden
geboren, gelebt, gestorben und zertreten.

Expressionismus in Reinkultur, wenn darin nicht schon etwas typisch Rühmkorfsches wäre, etwas Parodistisches: „Motor Unser, der Du bist auf Erden“. Gab es nach der expressionistischen Phase aus solchen Keimen und Setzlingen heraus dann so etwas wie einen ganz neuen Anfang, auf dem Wege über die Parodie? Denn Rühmkorf ist ja auch der Parodist unter den modernen Schreibern.

Peter Rühmkorf: Eigenartigerweise habe ich die Parodie selbst als eine Art Naturverfahren betrieben, eine Zeitlang. Es hat sogar eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, wie ich alles parodiere, wie viele Zeilen aus traditioneller Literatur, wie viele umgangssprachliche Versatzstücke ich verwende und einbaue; und diese parodistische Kunst, die ja auch starke Montagemomente hat, habe ich vergleichsweise naiv betrieben, und erst später ist es mir aufgefallen; dann habe ich mich auch theoretisch über dieses Problem hergemacht.

Arnold: Die Montage ist eine Arbeitsmethode der modernen Literatur, kommt von Joyce, Faulkner, Dos Passos usw. Wo Dos Passos, Joyce und Faulkner partikuläre Eindrücke von Realität als imaginierten Zusammenhang montieren, werden bei Rühmkorf literarische Zitate, literarische Tradition, literarische Versatzstücke montiert – ein Hinweis darauf, daß die Literatur für eine eigene Wirklichkeit genommen wird?

Rühmkorf: Nicht nur die Literatur, sondern alle sprachlichen Fertigformen. Wenn man sprachliche Fertigpartikel verwendet, so können das Literaturzitate sein, es können aber auch Stücke aus Wasserstandsmeldungen, aus Wetterberichten, von Verkehrshinweisen sein; das sind Fertigstücke, mit denen unsere, man kann sagen, zweite Natur voll besetzt ist. Und da habe ich mächtig hineingegriffen, ganz einfach, weil ich unsere Gegenwart, unsere Umwelt als mit Fertigstücken besetzt und zugestellt empfinde.

Arnold: So daß der Weg zur Wirklichkeit für Rühmkorf immer ein Weg über und durch die Sprache ist, durch die Zeichensysteme der Menschen?

Rühmkorf: Durch die Zeichensysteme, das ist völlig richtig. Man sieht doch ein Wetter heute gar nicht mehr – man sieht es im Fernsehen oder hört von ihm im Rundfunk, und wenn Sie Nachrichten aus fernen Welten rezipieren, erleben Sie sie als sprachlichen Niederschlag, als Nachrichtenmeldung. Und solche Dinge haben mir dann zu denken gegeben: daß man in einer sprachlichen Fertig-Welt lebt, in der das direkte Erlebnis zumindest ein Äquivalent durch das Erlebnis solcher in Sprache gebundenen Nachrichten erfährt. Das schien mir eine ganz interessante und wichtige Aufgabe für die Literatur zu sein, diesen Teil der Wirklichkeit mitzuspiegeln.

Arnold: Literatur ist eine Interpretation von Wirklichkeit, und wenn Rühmkorf diese sprachliche Wirklichkeit, die eine Interpretation darstellt, aufnimmt, dann interpretiert er ja wieder die Interpretation, und das heißt, auch die Interpretation von Wirklichkeit wird konterkariert, untersucht und auf ihre Stichhaltigkeit hin befragt?

Rühmkorf: Stichhaltigkeit, wenn Sie es so nehmen, daß diese – es ist ein banaler Begriff, aber ich möchte ihn trotzdem benutzen zweite Wirklichkeit mit der ersten Wirklichkeit konfrontiert wird. Und das werden Sie in vielen Gedichten finden, daß Zeilen, die durchaus von Emotionen getragen sind – ich habe Emotionen für die Lyrik, für die Kunst nie geleugnet und habe mich da zu meinen subjektivsten Gefühlswallungen immer bekannt –, daß solche emotionsgetränkten Zeilen solchen Fertigpartikeln gegenüberstehen. Ich habe eigentlich immer das Gefühl gehabt, daß wir uns in dieser gebrochenen Welt bewegen, und insofern spiegelt das auch im Sinne einer Widerspiegelungstheorie eine gebrochene Wirklichkeit wider.

Arnold: Parodie setzt ein entschiedenes Bewußtsein von Tradition voraus, die kritisiert oder aufgehoben oder aktualisiert wird, je nachdem. Ist Rühmkorf Traditionalist, ein Mittler zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft? Er erhebt ja selbst den Anspruch in einem seiner letzten Bücher, das heißt: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich.

Rühmkorf: Darf ich noch einmal kurz zur Parodie zurückkehren? Ich habe sie eben in Beziehung gestellt zur Montage, weil beide Verfahren insofern verwandt sind, als sie auf fertig ausgeformte Sprachelemente zurückgreifen. Im Hinblick auf die Parodie, das heißt, speziell im Hinblick auf literarisches Erbe, habe ich mich eigentlich immer dialektisch bewegt, das heißt, ich habe versucht, mir etwas anzueignen von den alten Stoffen, von den alten Themen, von den alten Formulierungen, um gleichzeitig etwas abzustoßen. Und so einerseits die Nähe und Verwandtschaft herausspürend, andererseits auf Distanz gehend, habe ich mich durch zahlreiche literarische Erbgüter hindurchbewegt, was auch als ein Prüfungsverfahren gelten kann: Mal sehen, was von dem noch zu halten ist, was uns überkommen ist. Parodie ist ein kritisches Sondierungsverfahren, und es ist dann auch wieder ein kritisches Traditionsverfahren. Ich habe niemals Autoren parodieren können, an denen mir nichts liegt. Ich habe sehr früh Klopstock-Variationen oder Klopstock-Parodien geschrieben, sehr früh Eichendorff, Hölderlin und Claudius parodiert – variiert –, alles Autoren, die ich sehr verehre. Bei der genaueren Prüfung sehe ich aber auch, wo sich die Distanz herstellt, und insofern habe ich mich anlehnend und ablehnend durch diese alten Literaturtexte hindurchbewegt.

Arnold: Also eine Art Vermittlerrolle für die Tradition.

Rühmkorf: Es ist die Vermittlerrolle.

Arnold: Viel entschiedener und wirkungsmächtiger als die Germanistik sie erfüllt; denn sie leistet sie meist nur museal.

Rühmkorf: Ja, das ist ein alter Streit zwischen mir und der Germanistik. Ich habe der Germanistik nie abgeschworen und bewege mich ja heute auch noch mit germanistischen Sondierungsverfahren durch die Welt; aber das ist so ein Streitpunkt, der immer da war: daß auf der einen Seite Traditionshüterei betrieben wird im Sinne von Tradition feststellen, wohingegen ich Überlieferung als aktiven Vorgang verstehe.

Arnold: Überhaupt die Frage der Übernahme literarischer Tradition – und in der Frage der Übernahme von literarischer Tradition spiegelt sich das Verhältnis zur Geschichte, zur Geschichte als Lernobjekt: Kann der Mensch aus dem geschichtlichen Geschehen, das hinter uns liegt, etwas lernen für die Zukunft?

Rühmkorf: Für die Gegenwart, würde ich sagen.

Arnold: Für die zukunftschaffende Gegenwart, gut.

Rühmkorf: Es gibt hier Kontroversen anzumelden, mit Wissenschaftlern zum Beispiel, die sagen, einen Klopstock, einen Walther von der Vogelweide muß man aus seiner eigenen historischen Zeit begreifen, und man kann diese Leute, große Literatur oder andere Künstlersleute, nicht in unsere Gegenwart versetzen, oder, man kann unsere Gegenwart nicht in sie zurückprojizieren. In diesem Falle bin ich kraß Partei, nämlich Gegenpartei. Ich glaube, daß eine nur historische Betrachtungsweise eine historisierende Betrachtungsweise ist, die das Untersuchungsobjekt in die Neutralität der Vergangenheit, des Abgehakten und bereits Verflossenen abdrängt und isoliert. Im Verhältnis zwischen Erkenntnis und Interesse, um diesen Habermas-Begriff aufzugreifen, bin ich immer dafür, daß man seine eigenen, gegenwärtigen, zeitbezogenen und auch persönlichen Probleme an denen von Vorbildern mißt. Nur wo man sich seiner persönlichen oder gesellschaftlichen Interessen bewußt ist, kann man auch neue Erkenntnisse machen.

Arnold: Das wird sehr deutlich an den beiden Figuren in diesem Buch, an Walther von der Vogelweide, an dem zwischen den Klassen wandelnden Sänger, und an Klopstock, der versucht, über das literarische Leben seiner Zeit hinauszukommen bzw. der erst einmal so etwas zu installieren versucht wie literarisches Leben: um dort wirksam zu werden. Ich glaube, das sind sehr typische Figuren.

Rühmkorf: Meine Klopstock-Liebe ist vergleichsweise alt, weil ich mich mit Klopstock schon in den frühen fünfziger Jahren beschäftigt habe, ihn aktiv parodierend, ihn aktiv mir aneignend. Walther von der Vogelweide ist später dazugekommen. Beides sind „subjektivistische“ Autoren – das setze ich aber jetzt ein bißchen in Anführungsstriche, weil für Walther von der Vogelweide der Begriff des Subjektivismus noch nicht zutrifft –, es sind jedenfalls beides Autoren, die das eigene Ich als Versuchsperson benutzt und die persönlichen Emotionen ernst genommen, als Gefühlsträger ernst genommen haben, wobei die Botschaften und die Leidenschaften dann gewissermaßen zusammenfallen können; jedenfalls wurden das für mich Leitfiguren in einer Zeit, als das Ich für uns wieder problematisch geworden war. Das Ich ist nach der Zerlösung und dem Zusammenbruch der APO, dieses großen utopischen Integrals, ungeheuer problematisch geworden.

Arnold: Auch im Sinne einer Entdeckung?

Rühmkorf: Einer Entdeckung, ja, es war nur ganz und gar kein Renaissancegefühl dabei. Es war eher ein tragisches Gefühl, daß die große Solidarität nicht gehalten hat, daß das soziale Integral auseinanderging, und die Geburtsstunde des neuen Ich-Gefühls stand eigentlich im Zeichen von Depressionsgestirnen. Und da können Sie sowohl bei Walther, „Owê, war sint verswunden, alliu mîniu jâr…“, als auch bei den Frühen Gräbern Klopstocks interessante Verwandtschaften entdecken.

Arnold: Klopstock und Walther von der Vogelweide sind nicht mehr als authentische Figuren greifbar, das heißt, man muß sich durch einen Wust von Texten hindurcharbeiten, um zu ihrer Authentizität vielleicht vorzudringen, und ich meine damit nicht nur die Texte der beiden, sondern den Wust der über sie geschriebenen Bücher. Was liegt in diesen Kubikmetern an Literatur- und Geschichtsinterpretationen begraben?

Rühmkorf: Ich habe bei der Beschäftigung mit bei den Dichtern festgestellt, daß unentwegt interpretiert, ideologisiert, manipuliert worden ist. Nun manipuliere ich selbstverständlich auch, freilich mit besseren Gründen und gewissermaßen völlig offen, was den Vorwurf der Manipulation sofort entkräftet insofern, als ich sage: Ich lege die Koordinaten auf den Tisch. Das haben frühere Manipulateure nicht gemacht. Die haben sich einfach nur einen völkischen, nazistischen oder was immer für einen Autor zurechtgemodelt und nie gesagt: Wir bieten einen verbogenen Walther, wir bieten einen subjektiv oder zeitlich eingetrübten KIopstock. Die haben sich und anderen vorgespielt: Wir verkörpern die reine Wahrheit. Ich habe immer gesagt: Hier sind für unsere Zeit, hier sind für mich persönlich Ansatzkeime einer Identifikation.

Arnold: Das geht ja so weit, daß auch ein Text von Walther von der Vogelweide, wenn ich es recht erinnere, nicht weiterübersetzt, sondern nur ein ganz bestimmter Teil des Textes in die Interpretation und in die Übersetzung hineingenommen wurde mit der Begründung: Das, was weggelassen worden ist, sei nicht das Eigentliche von Walther, da werde er konventionell, da passe er sich opportunistisch an, das verdecke das andere; nur in dem zitierten Teil sei er „eigentlich“ und das sei interessant für den Vermittler. Ein kühner Sprung, den kein Germanist billigen würde.

Rühmkorf: Er muß ihn mir schon zubilligen, weil ich diesen Sprung einfach gemacht habe. Auf der anderen Seite ist objektiv feststellbar: Die Minnelyrik Walthers von der Vogelweide – das wird Ihnen jeder Wissenschaftler, jeder Altphilologe bestätigen – ist konventionell, und er wird nicht behaupten: ist der wahre Walther. Die Huldigungsgedichte an die unterschiedlichen hohen Herrschaften bewegen sich im Regelrahmen des Üblichen. Wirklich entfaltet hat Walther sich immer erst, wenn persönliche Leidenschaften mit ins Spiel kamen, in diesem eben genannten Fall: „Owê, war sint verswunden, alliu mîniu jâr…“ – tiefe Trauer und Melancholie. Und der Rest ist dann eben nicht mehr als eine angehängte Troststrophe der konventionellen Kreuzzugslyrik.

Arnold: Ein Vermittler, der die Interessen seines Autors vertritt und damit sein Eigentliches gegen die Verdeckung durch konventionelle Gebärden in Schutz nimmt – also nicht nur ein Interpret und Nachdichter aus zweiter Hand.

Rühmkorf: Nein, ich habe versucht, ein Stück alter Primärliteratur zu einem Stück Primärliteratur von heute zurechtzuübersetzen.

Arnold: Aber auch zu begleiten und zu kommentieren.

Rühmkorf: Auch zu begleiten und zu kommentieren, ja. Begleitung und Kommentar zeugen in diesem Fall dafür, daß ich nicht rein subjektiv die Leute nur aus meinem Interesse heraus betrachte, sondern daß ich sie gleichzeitig, und das ist wieder ein dialektischer Vorgang, aus ihrer Zeit heraus zu verstehen versuche und sie im anderen Schritt für unsere Zeit aufzuschließen versuche. Sie haben da wieder dieses Dopplerverfahren. Wenn ich mich als Mittler verstehe, dann unterhalte ich mich mit diesen Literaturfiguren oder Literaturgestalten immer als Kollege. Und ich glaube auch, daß sich im Zwiegespräch zwischen Dichter und Dichter, Autor und Autor, Schriftsteller und Schriftsteller gelegentlich Erhellungen ergeben, die im Zwiegespräch zwischen Wissenschaft und Dichtung nicht herauskommen.

Arnold: Warum nicht?

Rühmkorf: Weil Erkenntnis und Interesse getrennt sind. Weil ich von meiner Psyche her, aber zum Teil auch von meinen Arbeitsbedingungen her, von meiner Arbeitsökonomie, aber auch von meiner Arbeitspsychologie her die Interessen von Schriftstellern teile. Wissenschaftler teilen sie nicht so unbedingt. Für den Wissenschaftler ist das Studierstoff, Analysierstoff.

Arnold: Das Sezieren einer Leiche?

Rühmkorf: Nicht unbedingt. Bloß: Für den Schriftsteller verschiebt sich das Gedicht natürlich mehr vom Studierstoff zum Leucht- und Erregungsstoff hin.

Arnold: Was ist den Germanisten mehr zu wünschen?

Rühmkorf: Mut. Mut zu den eigenen Interessen. Mut, sich selbst zu erkennen. Mut, die eigenen Antriebe damit kundzugeben. Das könnte zwar zu einer subjektiven Wissenschaft führen, aber zu einer in ihrer Subjektivität überprüfbaren Wissenschaft, zu einer Wissenschaft, die sich nicht in ein Reich scheinhafter historischer Objektivität verflüchtigt.

Arnold: Wobei unterstellt wird, daß diese subjektiven Antriebe vorhanden sind, und das will ich auch gar nicht bestreiten. Aber kann es nicht sein, daß der Wissenschaftsbetrieb in Deutschland mit Promotion, Habilitation, Abhängigkeiten usw. …

Rühmkorf: ein Subjekt ganz eigener Art erzeugt…

Arnold: so daß die Interessen, die vielleicht einmal vorhanden waren, sich nachher überhaupt nicht mehr regen?

Rühmkorf: Wenn sich heute jemand zum Beispiel mit dem Expressionismus beschäftigt, möchte ich schon meinen, daß ein scheinbar objektives und neutrales Interesse mit einer sehr persönlichen maniakalischen Neigung zusammenhängt; bloß sollte man dann auch die Karten auf den Tisch legen und sagen: Das und das sind meine Antriebe, das und das meine Beweggründe. Es müssen nicht immer dezidiert persönliche Gründe sein, es können Gründe sein, die mit der Zeit zusammenhängen, daß das Resümee dann so heißt: Die Zeit von damals ähnelt unserer eigenen Zeit. Das sind natürlich Erwägungen und Überlegungen, die fast für verboten gelten.

Arnold: Aber ohne intensive Einsichten in die Psychologie, in die Geschichte und in die Gesellschaft einer Zeit wird er solches nicht erwägen können, und daran krankt natürlich auch vieles; die Germanistik befaßt sich zu viel mit Formen und Gattungen, was sie auch sollte, aber sie vergißt darüber deren Geschichte, und diese Geschichte ist nicht nur ästhetisch, sondern auch soziologisch und psychologisch wirksam gewesen.

Rühmkorf: Auf der anderen Seite läßt sich allerdings auch wieder feststellen, daß irgend jemand sich irgend etwas auf dem subjektiven Weg aneignet, und es ist tatsächlich nicht mehr als eine Privatpassion, es bleibt privat.

Arnold: Vom expressionistischen Sound zur Parodie, wenn man das mal so sagen darf: Da gab es auf dem Wege, den Rühmkorf zurückgelegt hat, auch noch Gottfried Benn, antibürgerlich, finalistisch bestimmt und mit berauschend sinnlichen Tönen, die auch den Lyriker Rühmkorf auszeichnen. Steckte im Parodistischen auch eine bestimmte Abwehrhaltung gegen die Benn-Tradition, oder war das Parodistische ein Mittel des Aufklärers gegen den berauschenden Betörer Benn?

Rühmkorf: Man soll, glaube ich, nicht ableugnen, was man bei großen Leuten gelernt hat. Ich habe nie geleugnet, daß Benn ein großer Lehrmeister für mich war, wie auch Brecht und, aufs Ganze gesehen, der gesamte Expressionismus. Benn ist nun mal eine der bedeutendsten Gestalten dieser Bewegung, die unsere Jahrhundertmitte noch lebend erreichte, bei ihm bin ich also in die Schule gegangen. Womit ich mich nie habe identifizieren können, das ist der politische Irrationalismus bei Benn, und gerade neuerliche Benn-Studien haben mich wieder davon überzeugt, daß hier eine Scharlatanerie vorliegt, die sich mit Aufklärung nicht mehr vereinigen läßt.

Arnold: Ist Benns „Scharlatanerie“ bedingt von seiner Lyrik, in der sich sein finalistisches Weltempfinden ausdrückt?

Rühmkorf: Das glaube ich nicht. Ich glaube, das muß sich nicht ausschließen. Finalistisches Weltempfinden oder sagen wir einfach Schwermutspoesie oder Depressionslyrik muß nicht unbedingt einen aufklärerischen Kopf ausschließen. Das ist die Sache eines anderen Tages und einer anderen Stunde. Der entscheidende Bruch liegt bei mir ja gerade dort, wo der Aufklärer in mir mit dem anarchistisch-vitalistischen Typus zusammentrifft. Aber das hakt wieder in das zurück, was wir vorhin schon besprochen haben. Es hat mich von Benn immer getrennt, daß bei Benn dieser ganz starke Zug zum politischen Irrationalismus vorliegt.

Arnold: Mir fällt da ein Zitat ein aus Die Jahre, die ihr kennt: Rühmkorf hatte einen Traum und erwachte mit der Vision: „Ich heiße ja nur Ambivalenz.“ Typisch Rühmkorf? Da gibt es den vitalistischen Lyriker und den rationalen Aufklärer, da gibt es den solidarischen Rühmkorf und den einzelgängerischen Rühmkorf, und es gibt die Tradition, von ihm in die Moderne vermittelt.

Rühmkorf: Also dieser Ambivalenztraum – da hatte ich nämlich von dem Dichter Lenz geträumt und dann gesagt: Ich heiße ja nicht Lenz, ich heiße Ambivalenz. Das stand – das ist lange her, so in den fünfziger Jahren – unter dem Eindruck der Ambivalenztheorien von Benn, und es mag sein, daß Benn in diesen Traum mit hineingefunkt hat. Die wechselseitigen Bezüge empfinde ich seit langem nicht mehr als ambivalent, sondern als dialektisches Zusammenspiel. Keineswegs nur ein „einerseits so – andererseits so“, kein disparates Nebeneinander, kein Sichbekämpfen der Schreibtriebe, der Antriebe, sondern eine ziemlich klare Bewußtheit, an beiden teilzuhaben und beide vermitteln zu sollen.

Arnold: Also ein dialektischer Prozeß. Kommt der – ganz platt gefragt – von Marx her?

Rühmkorf: Dialektik und dialektisches Denken muß ja nicht partout von Marx herkommen, es kann auch Hegel dahinterstehen. Ich habe dialektisches Denken freilich nicht so sehr von Hegel und auch nicht bei Marx gelernt, sondern eigentlich von marxistischen Soziologen. Ein bedeutender theoriebestimmender Eindruck ist für mich die Begegnung mit solchen Literatursoziologen wie Arnold Hauser gewesen, die für mich im Hinblick auf mein Instrumentarium mehr bedeutet haben als Marx. Ich habe dann auch Marx gelesen und habe selbstverständlich gerade solche dialektischen Wechselbezüge wie zwischen dem gesellschaftlichen Sein und den unterschiedlichsten Bewußtseinsformen bei Marx nachprüfen können. Es ist aber so, daß ich eigentlich eher durch Hauser und andere Figuren der Kunst- oder Literatursoziologie beeinflußt worden bin.

Arnold: Aber durch Hauser intensiver, weil zuerst?

Rühmkorf: Ja, weil ich Hauser schon in einer Zeit gelesen habe, als in den Literaturseminaren Soziologie noch für Sozialismus galt: in ganz frühen Zeiten des Kalten Krieges und der politischen Ultra-Restauration.

Arnold: Rühmkorf war zu Beginn seiner literarischen Laufbahn, während der er noch in den Seminaren von Herrn Pyritz in Hamburg saß, schon so etwas wie ein Allroundkünstler. Er machte Theater, Kabarett, schrieb Verse, machte, glaube ich, auch Zeitungen…

Rühmkorf: Ich habe lange Zeit Zeitung gemacht und habe eigentlich immer mit Zeitung Kontakt behalten. Ich weiß nicht, ob es ein ganzes Bein war, aber einige Zehen habe ich immer im Journalismus gehabt.

Arnold: Und dann kommt die Bekanntschaft mit Hauser, danach mit dem Marxismus, und es ergibt sich das einigermaßen ideale Instrumentarium, um produktiv und rezeptiv mit Literatur umzugehen. Wie teilt sich kritische und vitalistisch-schöpferische Produktion, und wie geht das für Rühmkorf dann zusammen? Wie könnte man das kurz umschreiben?

Rühmkorf: Nein, das kann ich nicht. Zumal Sie mit diesem Problem einen Kardinalwiderspruch angesprochen haben: das Theoretisieren über Literatur und das Machen von Literatur. Beides geht nicht auf die gleiche Wurzel zurück.

Arnold: Aber der Widerspruch findet sich doch da zusammen, wo Rühmkorf sagt, daß seine Texte über Schriftsteller oder literarische Zusammenhänge auch eigene, eben primärliterarische Texte seien.

Rühmkorf: Ich habe versucht, die Form des Essays wirklich wieder zu einer Kunstform zu machen, weil ich sah, daß der Essay als Kunstform gar nicht ernst genommen und daß da etwas für Essay ausgegeben wurde, was doch bloß gerade eben, nun sagen wir mal: „Spiegel-Essay“ war. Das ist ja geradezu von einem unfaßlichen Lächerlichkeitsgrad. Aber lassen Sie uns noch einmal zu dem zurückkehren, was ich eben als Hauptwiderspruch des Schreibens darzustellen versuchte: Die essayistische Schreibweise, das heißt die essayistische Verfahrens- und Denkweise bildete für mich einen deutlichen Widerspruch zur poetischen Produktions-, fast möchte ich sagen: Lebensweise. Und insofern sind es wieder mal Antipoden.

Arnold: Aber dann doch allenfalls Antipoden, die für Rühmkorf zwei Seiten derselben Münze sind.

Rühmkorf: Ja, ja, schon, schon. Aber wenn ich mich ganz ernsthaft befrage – und das ist ein erkenntnistheoretisches und ein schriftstellerisches Existenzproblem –, wenn wir uns wie im Augenblick in Prosa und mit allen Gesetzmäßigkeiten des Prosadenkens bewegen, dann kann ich eben in diesem Augenblick eigentlich gar nichts über den Lyriker aussagen. Ich habe mich zwar immer gern über Lyrik und Poesie anderer Leute geäußert, weil ich das mit dem aufklärerischen Teil meines Kopfes bestens vereinbaren konnte. Zu meinem eigenen poetischen Antipoden habe ich mich aber sehr viel seltener geäußert, auch kaum Selbstinterpretation betrieben; nur gerade so technische Begriffe wie Parodie usw. zu klären versucht. Ich halte den Prosamann nur für begrenzt befugt, über diesen ganz anders arbeitenden Lyrikmann etwas zu sagen. Und der Lyrikmann auf der anderen Seite treibt dann so Dinge, die der Prosamann eigentlich für verboten halten müßte.

Arnold: Immer wieder diese Ambivalenz, diesmal als Fluchtbewegung. Sitzt Rühmkorf eigentlich gern zwischen allen Stühlen, um nicht auf einem festgenagelt zu werden? Nun also ist, so angesprochen, diese Ambivalenz zwischen dem Aufklärer und dem Lyriker ein Problem für ihn. Ich zitiere mal aus dem Mailied für junge Genossen, wo es heißt: „Gestern Kommunist, morgen Kommunist, aber doch nicht jetzt beim Dichten“, und das „Dichten“ steht gesperrt darin, und dann liest man da auch noch: „Kunst als Waffe, da sei Majakowski vor.“ Kunst als was denn also?

Rühmkorf: Kunst als Ausdruck von Lebensproblemen Ich glaube, daß manche Leute überhaupt keine Kunst zu machen brauchten. Kunst ist eine Sache, die von Problemträgern gemacht wird und die sich an Problemträger richtet, ohne daß ich das im einzelnen zurechtdefinieren möchte. Es gibt Schriftsteller, selbstverständlich, die schreiben einen Roman nach dem anderen. Sie finden die Welt unterhaltsam. Und möchten, wie ich meine, ihrerseits die Welt unterhalten. Das ist so eine Sorte von Literatur, die mich persönlich nur interessiert, wenn ich schnell einschlafen möchte.

Arnold: „Überlebenskunst“ hat Rühmkorf die Kunst, die Literatur einmal genannt. Ist Rühmkorf eine Art Notwehrschriftsteller wie in anderen Gesprächen Max Frisch sich als Notwehrschriftsteller bezeichnet hat?

Rühmkorf: Na ja, es gibt ja auch das Goethe-Zitat: „Wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“ – eine Position, die subjektiv interessant sein mag, die aber eigentlich nur von Schriftstellern einzunehmen ist und alle anderen Personen ausschließt. Wenn ich dagegen Kunst als „Überlebenskunst“ bezeichne, dann ist gemeint, daß jeder Versuch, den Menschen in seinen Spannungen und Zerspaltungen ernst zu nehmen und gleichzeitig eben diese Widersprüche auszubalancieren, künstlicher Natur ist. Und insofern ist Kunst hier nur ein Sinnbild für andere Harmoniebestrebungen, das heißt für Möglichkeiten, mit den ungeheuerlichen Widersprochen der Welt und der eigenen Person in eine lebensmögliche Balance zu kommen.

Arnold: Kann es sein, daß der Aufklärer Rühmkorf, wenn es ihm mal allzu dick kommt oder wenn er zu wenig beschafft mit seiner aufklärerischen Arbeit, dann in die lyrische Produktion flieht?

Rühmkorf: Diese beiden Personen leben in ständiger Interdependenz. Ein Wort möchte ich allerdings heftigst befehden, eine Vokabel, die mich nun schon in unzähligen Diskussionen gestört hat: Flucht. In diesem Falle, wo wir es mit Produktion zu tun kriegen, wo etwas entsteht, wo etwas geformt wird, wo etwas in Sätze, in Sprache gefaßt wird, kann von Flucht überhaupt nicht mehr die Rede sein, sondern das ist ein positiver Widerstand.

Arnold: Aber da gibt es auf der einen Seite das Wort – und das kennt man ja nun hinlänglich – vom „Tod der Literatur“. Und andererseits zieht man sich in die Literatur zurück, weil man in der Realität, aktiv, politisch, nichts bewirkt.

Rühmkorf: Es gibt das nun mal beides. Es gibt es nun mal, daß man sich aus Verzweiflung an der politischen Lage in die Literatur hineinbegibt. Auch Literatur ist ein Daseinsort, und es scheint mir nicht der übelste zu sein, weder für Schreiber noch für Leser. Ich habe noch nie gehört, daß man einem Musiker den Vorwurf macht, er fliehe in die Musik – kein Mensch denkt daran, ihm politische Bekenntnisse abzufordern, nicht einmal so etwas wie Aufklärung wird man ihm abverlangen.

Arnold: Würde Rühmkorf denn die Forderung für richtig und angemessen halten, daß die Literatur auch das andere zu sein habe: nämlich Aufklärungsarbeit, politische Arbeit?

Rühmkorf: Wenn ich das fordern würde, dann wäre ich etwas hybrid. Natürlich neigt man dazu, seinen eigenen Typus in älterer Literatur wiederzuerkennen und in die Zukunft zu projizieren und ihn als besten aller Typen zu propagieren. Man sucht sich seine eigene Perspektive in der Geschichte, und in der Weltliteratur sucht man sich seine Verwandten, die schiebt man dann gewissermaßen vor sich her, um nicht so allein zu sein mit seinen Widersprüchen; aber die Weltliteratur wimmelt schließlich von solchen gespaltenen Individuen.

Arnold: Es ist ja auch etwas anderes, ob man rückblickend über einen Autor der Literaturgeschichte sagen kann: Er hat sich mit den Zeitströmungen in Übereinstimmung befunden oder er ist ihnen vorweggeeilt, er hat etwas antizipiert mit seiner Literatur. Oder ob man aus aktivistischen politischen Gründen an zeitgenössische Künstler und Literaten den Anspruch stellt, all das, was sie schaffen, habe die Gesellschaft als politischen Faktor explizit zu reflektieren. Ich halte das für sehr fragwürdig. Man kann sehr wohl bestimmen, wie jemand sich artikuliert hat; aber man darf solche Einlassungen nicht als notwendige Programme von den Künstlern fordern.

Rühmkorf: Ich würde das als Forderung auch nicht vorbringen. Denken wir nur einmal – ich liebe ihn – an einen so großen Lyriker wie Georg Trakl. Dezidiert politische Äußerungen liegen von ihm kaum vor. Man kann beinahe sagen, daß sich seine ganze Existenz nur in Lyrik, und zwar in einer sehr melancholischen Lyrik, ausgedrückt hat. Aber ist das etwa nichts? Ist das Flucht? Taugt das nichts? Oder weisen diese seltsamen Desperationsgedichte nicht sogar auf penetrante und wahrhaftige Art auf den zerrütteten Zustand einer Gesellschaft hin?

Arnold: Wer die Augen hat, dies zu sehen, der wird das auch erkennen. Aber es ist doch etwas anderes mit der Kunst, das auch den, der diese ausgebildeten Augen nicht hat, dazu bringt, Trakls Gedichte zu lesen. Warum zum Beispiel lesen Leute Trakl, die keine Literaturwissenschaftler sind?

Rühmkorf: Weil bestimmte Zeiten bestimmte Probleme und bestimmte Problematisierungen erzeugen, die immer wieder auftauchen können, wenn die politischen Konstellationen ähnlich sind. Wenn die politischen Konstellationen Verwandtschaft nahelegen, dann greift man zurück auf ältere Dichter und erkennt in ihnen seine eigenen Sprünge und Risse.

Arnold: Peter Rühmkorf hat einmal gesagt, Kunst, Poesie entstehe zur Zeit nur in dieser gewittrigen Hochspannungszone zwischen eindeutig fundamentierten Klassen. Aber in welchem Kopf entsteht sie?

Rühmkorf: Das ist eine Beobachtung, die sich auf statistische Unterlagen bezieht. Sie können kaum einen Arbeiterschriftsteller von einiger Relevanz nennen, sie sehen auch kaum einen Schriftsteller, der aus den gehobenen Kreisen der Bourgeoisie stammt. Das gibt es nicht. Rein statistisch sind wir als Vertreter des Mittel- und Kleinbürgertums einfach in der Priorität. Wir machen die Kunst heute, und in der Zeit des Expressionismus war es ganz ähnlich. Sie entdecken vielleicht als Kuriosität mal einen Arbeiterschriftsteller oder zwei oder drei, aber prinzipiell wird die Kunst schon seit langem vom Klein- und Mittelbürgertum gemacht. Nicht nur getragen, sondern gemacht.

Arnold: Es gibt ja auch ein sehr allgemeines Kunstbedürfnis. Rühmkorf hat ein Buch Über das Volksvermögen herausgegeben in dem von der Kunst als von einem Elementartrieb die Rede ist: Wo die Hausfrau das Kissen knifft, ist Kunst. Heißt das nicht letzten Endes, daß der Mensch prinzipiell ein Kunstbedürfnis hat?

Rühmkorf: Richtig, und da brauchen wir auch gar nicht erst auf Beispiele der Geschichte und Vorgeschichte zurückzugreifen. Selbst die Zuneigung zu den übelsten Surrogaten der Kunst bezeugt ein schier unausrottbares Bedürfnis der Menschheit nach Kunst. Die Menschheit will dieses Höhere, sie will sich in Kunst erleben. Das ist ein Gedanke, der von marxistischen Paradiesesvorstellungen gar nicht einmal abweicht. Der Mensch sucht Zustände eines nicht entfremdeten Daseins. Wo? In Kunst. Nun liegt es natürlich an der augenblicklichen Gesellschaft, daß sie dem Menschen keine Kunst bescheren möchte, sondern Mist, Scheinkunst, Schlager, Werbetexte, die letzten, die übelsten Surrogate von Kunst. Aber das Bedürfnis ist zunächst als Elementartrieb überall festzustellen, und selbst wenn die Hausfrau die Gardinen in gefällige Falten zwingt, drückt das eben ein Bedürfnis nach Kunst und einer künstlerischen Organisation ihres Haushaltsdaseins aus.

Arnold: Da haben wir nun auf der einen Seite den Künstler: als den einzelnen, den Einzelhändler, den Mittelständler und Kleinbürger; und auf der anderen Seite gibt es ein allgemeines Bedürfnis nach Kunst. Aber die Allgemeinheit, und das ist eine Tatsache, ist eben nicht der Empfänger der Kunst dieser einzelnen. Da gibt es doch eine ganz große Diskrepanz.

Rühmkorf: Ich weiß, das ist eine Diskrepanz, und die läßt sich mit Tricks auch nicht so einfach überwinden. Im gleichen Augenblick, da kritische Kunstprodukte innerhalb des Mittelstands und Kleinbürgertums entstehen, zielen sie auch auf Rezipienten innerhalb dieser Gruppen oder dieser Zwischenklasse, das ist ganz klar. Das große Bedauern, nicht die wirkliche Masse zu erreichen, kenne ich sehr wohl, und mein Buch Über das Volksvermögen, das ja Volks- und Kinderkunst gesammelt vorweist, legt eben auch Zeugnis ab von diesem Bedürfnis, den Anschluß an die unteren Klassen, ihr Kunstbedürfnis, aber auch ihre Kunstfertigkeit, wiederzugewinnen. Es ist, ich muß es gestehen, ein romantischer Kunstgriff, um sich dessen zu bemächtigen und um sich an das anzuschließen, was das Volk und die Kinder an Kunst produzieren und für Kunst halten. Das ist ein altes romantisches Verfahren, das immer dann einsetzt, wenn Künstler den Anschluß an die eigene Gesellschaft sei es verloren haben, sei es als getrübt und auseinandergespannt erleben, und das zumindest die Hoffnung erkennen läßt, sich über solch ein Medium, fast möchte ich sagen: über ein „magisches Medium“, dem Volk, dem Kollektiv anzuvermählen.

Arnold: Diesen Gedanken weitergedacht, könnte man doch auch sagen, daß eine Schriftstellerin wie Erika Runge, die Interviews mit Arbeitern und Leuten aus dem Ruhrgebiet macht, daß Schriftsteller mit akademischer Ausbildung, die sich in den Werkkreisen betätigen, auf eben diese romantische Art und Weise versuchen, sich dem Volke anzuvermählen oder zumindest der Klasse, nämlich der Klasse der Arbeiter.

Rühmkorf: Genau das möchte ich behaupten, und, obgleich sich diese Richtung durch solche doch exzellenten Figuren wie Wallraff oder Erika Runge repräsentiert, möchte ich meinen, daß sich hier eine unreflektierte Romantik ausdrückt, weit weniger unreflektiert als die, für die ich eben gesprochen habe. Wenn sie übrigens mal die Reihen der Käufer, der Rezipienten, der Leser von Runge und Wallraff durchmustern, werden sie feststellen, daß es sich hier genau um das gleiche mittelständische Bürgertum handelt, vielleicht eine andere Sparte dieses mittelständischen Bürgertums, das als Leser, Hörer, Käufer bei den sogenannten Kunstschriftstellern mobil wird.

Arnold: Täuscht das nicht doch nur eine Annäherung an das Volk vor? Findet die Vermählung zwischen Rühmkorf und dem Volk oder auch zwischen Runge, Wallraff und den Arbeitern, die gewünscht wird, wirklich statt?

Rühmkorf: Die Leser rekrutieren sich bei beiden Richtungen aus der Mittelschicht, aus dem Kleinbürgertum, das ist ganz klar; und auch die Produzenten sind Mittel- oder Kleinbürger, das heißt, die gesamte Kunst spielt sich innerhalb dieses Rahmens ab. Ich kenne doch diese ganzen Feigenblätter von Arbeitern, die zum Beispiel der Dichter- und Doktorenflügel innerhalb der DKP für sich in Anspruch nimmt. Zwei, drei Leute kennen sie, mit denen unterhalten sie sich in den Kneipen, aber sonst ist die Arbeiterschaft doch gar nicht relevant vertreten als Publikum, einfach nicht vertreten, nicht von der Produktion her und auch nicht als Publikum. Und wenn Sie eines mal sich vergegenwärtigen: Was in diesen Werkkreisen produziert wird, hat objektiv und definitiv eine Resonanz, die weit unter der liegt, die – ich sage es noch mal provozierend – Kunstschriftsteller wie Enzensberger und ich zu erzeugen imstande sind. Die Zirkulation findet innerhalb einer Randgruppenelite von ganz besonderer Art und äußerst beschränkter Reichweite statt.

Arnold: Ergibt sich dadurch die Gefahr der Abspaltung und des Hochmuts?

Rühmkorf: Das möchte ich nicht ganz so abfällig bewerten. Ich möchte einfach sagen, es gibt dies und das und jenes, und ich zweifle nicht an der Lebensberechtigung all dieser literarischen Lebewesen, auch wenn ich oft genug sagen muß: Meine Richtung ist es nicht.

Arnold: Wer wird denn erfolgreicher rezipiert, der Lyriker oder der Essayist Rühmkorf? Oder der Herausgeber und Sammler des ,Volksvermögens‘?

Rühmkorf: Ich glaube, es ist schon der gesamte, aus vielen Facetten zusammengesetzte Schriftsteller, obwohl ich selbst einwenden muß, daß meine unterschiedlichen Bücher ganz unterschiedliche Gemeinden haben, die zum Teil nichts voneinander wissen. Ich sag das Wort „Gemeinden“ einfach mal so dahin, aber praktisch ist es so: es gibt Leute, die das Volksvermögen schätzen – das ist ja mittlerweile in 100.000 Exemplaren verbreitet, und das ist schon eine Menge, wenn man sich die Leute mal auf einem Haufen vorstellt; dann gibt es die Leser von Walther von der Vogelweide, wobei sich die Rezeption wohl vornehmlich in höheren Zirkeln, in Universitäten, in Oberschulen abspielt; dann sind da die 20.000 Liebhaber oder Käufer von Die Jahre, die Ihr kennt, wieder ganz andere Menschen, wie mir scheint, Generationsgenossen vielleicht oder Brüder im Geiste, in Gesellschaftskritik.

Arnold: Ich möchte jetzt einmal zu der dritten Gattung von Literatur kommen, die Rühmkorf auch liebevoll befruchtet hat: zum Theater. In der Lyrik also Rühmkorfs Subjektivität, der Selbstausdruck auf „Biegen und Zerbrechen“, wie er selbst das einmal genannt hat, dann die aufklärerische Arbeit im „tagespolitischen Augiasstall“, auch ein typisches Rühmkorf-Zitat und beides in etwa kontroverse Haltungen. Obgleich: Da ist auch die Gemeinsamkeit des Kopfes, aus dem beides kommt. Könnte es sein, daß das Theater-Schreiben, das Rühmkorf fünf Jahre lang, also sehr intensiv, betrieben hat, ein Versuch der Zusammenführung beider Haltungen war, begünstigt auch durch die Zeit, die Zeit der Studentenrevolte: Wird in diesem Versuch Kunst zusammengeführt mit politischer Agitation?

Rühmkorf: Stimmt genau, stimmt sehr genau! Ich habe an einem bestimmten Punkt der politischen Entwicklung gedacht, daß man diese unterschiedlichen Intentionen im Kopf und in der eigenen Brust zusammenbringen müßte, und ich habe das Theater für das entscheidende Sammelmedium gehalten. Anscheinend sind das Publikum und die Kritik nicht bereit, mich gesammelt in Empfang zu nehmen.

Arnold: Peter Rühmkorf hat aber doch schon sehr früh Theater geschrieben; ich glaube, sein erstes Stück Was heißt hier Volsinii entstand schon 1964.

Rühmkorf: Das ging 1964 los, ja, vor der Studentenbewegung. Das war in gewisser Hinsicht eine Antizipation der Themen und Interessen, die dann in der Studentenbewegung ausgetragen wurden.

Arnold: Zur Zeit der Studentenbewegung hat er das dann einmal so formuliert, daß dieser Versuch der Zusammenführung das ungeheure Risiko in sich barg, daß seine dividierten Neigungen und Talente nun vollends auseinanderfallen würden. „Kein Lyriker mehr auf dem von mir geträumten Platz und von politischer Dramatik noch nicht der Hauch einer Spur. Das waren so private Bedenken.“ Haben sich diese Bedenken nicht bestätigt durch die gescheiterten Versuche auf der Bühne?

Rühmkorf: Ich bin nicht bereit und werde es nie sein, meine Bestätigung in flüchtigen Resonanzen und flüchtigen Nichtresonanzen zu suchen. Ich weiß, es kann sein, daß es eine unglückliche Liebe ist, die ich zum Theater habe, und es kann auch durchaus möglich sein, daß ich in diesen Produkten mein eigenes Selbst als gesammelt und gebunden und auf einer Bühne auftreten empfinde, und vielleicht ist es nur ein theatralischer Irrtum. Ich selbst beharre aber gerade auf diesen Verbiesterungen.

Arnold: Aber wir müssen ja auch ein bißchen von dem Erfolg dieser Theaterarbeit ausgehen.

Rühmkorf: Das war ein ungeheurer Reinfall. Ich möchte so sagen: Ich habe Geld verspielt mit dem Theater, ungeheuer viel Geld – denn wer kann schon fünf lange Produktionsjahre von sich aus finanzieren? Nun, egal, dieses Geld habe ich auf der Theaterbühne verspielt.

Arnold: Die Theaterjahre waren eine teure Lehrzeit – aber waren sie wenigstens eine Lehrzeit?

Rühmkorf: Es kann ja sein, das schließe ich gar nicht aus, daß ich noch mal schöne Theaterstücke schreibe. Es kann aber auch sein, daß ich mich mal anderen Literaturformen zuwende, in denen der Dialog eine Rolle spielt. Und dann war es eine Lehrzeit, die sich auf einem ganz anderen Gebiet rechtfertigt.

Arnold: Wo liegen die wichtigsten Gründe für das Scheitern Rühmkorfs auf der Bühne?

Rühmkorf: Das weiß ich nicht. Ich habe es damals so empfunden, als ob es tatsächlich auch gegen das Stück Was heißt hier Volsinii – und zwar von beiden Teilen Deutschlands, von beiden Deutschländern – so gravierende Bedenken gab, daß es nicht die richtige Aufnahme gefunden hat. Dieses Stück sollte zuerst in der DDR aufgeführt werden, und da war Prag noch sehr frisch und sehr neu im Bewußtsein des möglichen Publikums, es ist immerhin ein Stück gegen Einmarsch, gegen Imperialismus, gegen die Verbündung einer herrschenden Klasse mit einer fremden Imperialherrschaft – und ich bin in der DDR auch reichlich oft befragt worden, ob der DDR-Zuschauer es in Richtung Prag anvisieren könne. Ich habe gesagt, daß ich das nicht wisse. Ich hatte es lange vor Prag geschrieben, und in der Bundesrepublik hatte man es auf die lange Bank geschoben. Es könnte also sein, daß sich in diesem Fall tatsächlich politische Bedenken zweierlei Art gegen ein Anti-Einmarschstück bemerkbar gemacht haben.

Arnold: Ein rein politischer Grund. Gibt es auch unter Umständen künstlerische Gründe für das Scheitern – es sind ja drei Stücke: Waren es vielleicht zu literarische Theaterstücke?

Rühmkorf: Ich könnte sagen, ich bin grob fahrlässig beurteilt worden, was ich damals tatsächlich so empfunden habe. Es ist ja eigenartig, nur zwei Stücke sind aufgeführt worden: Lombard gibt den Letzten in Dortmund, das war mein zweites Stück und ist zuerst aufgeführt worden, und als zweites Was heißt hier Volsinii im Großen Schauspielhaus in Düsseldorf. Das dritte Stück Die Handwerker kommen ist bisher nie aufgeführt worden. Nun habe ich allerdings persönlich miterlebt, daß die Publikumsresonanz in bei den Fällen positiv war. Im Falle des Stückes Was heißt hier Volsinii so positiv, daß die ganze Theaterbelegschaft glaubte, das wäre ein richtiger Durchbruch. Und da habe ich gedacht, warten wir erst mal ab, was der Montag bringt, und der Montag brachte eine ziemlich einhellige Verdammung durch die Kritik. Für mich ein interessanter Punkt weiterzufragen: Wo steht die Kritik, für wen arbeitet die Kritik? Ich konnte aus der Resonanz des Publikums immerhin ersehen, daß ich ein versorgungsbedürftiges Publikum mit bestimmten Aufklärungsinhalten und mit Kunst, mit Theaterkunst bedient und versorgt hatte. Ich habe mich auf der anderen Seite gefragt, warum die Kritik das nicht zur Kenntnis genommen hat. Sie hat es verschwiegen, oder sie hat es zu einem Mißerfolg beim Publikum umgelogen.

Arnold: Was waren denn die Kriterien dieser Kritik?

Rühmkorf: Die Hauptkriterien haben sich in der reaktionären Presse gebildet, und sie lauteten etwa so: Wenn eine Figur auftaucht mit dem (im übrigen uretruskischen) Namen „Achsi Caie Sprinte“, dann ist das natürlich Axel Cäsar Springer. Und: Noch primitiver ginge es wohl nicht. Im politischen Theater muß es aber manchmal so primitiv zugehen wie in der wirklichen Welt.

Arnold: Konnte sich Rühmkorf, nun ganz allgemein gefragt, von der literarischen Kritik zu Recht oder zu Unrecht behandelt fühlen?

Rühmkorf: Nein, außer auf dem Gebiet des Theaters habe ich im Augenblick nicht so großen Hader mit der Kritik.

Arnold: Im Augenblick nicht, aber früher?

Rühmkorf: Ja, früher schon, und sicher nicht grundlos. Ein Schriftsteller existiert nun einmal aus seinen Antizipationen – oder er soll die Finger ganz aus der Literatur lassen. Falls man Vorgriffe macht, dann muß man Zeit und Sitzfleisch haben, die Geduld und den Mut, die Zeit der Vorgriffe und Vorausahnungen durchzustehen, und wenn er Glück hat, kapiert die Kritik noch zu seinen Lebzeiten, was da eigentlich los war. Das hat bei mir immer ein Weilchen gedauert. Aber ich habe daraus auch meine eigenen Lehren des Widerstehens und des Ausharrens gezogen.

Arnold: Es gibt eine Gattung der Literatur, die Rühmkorf nie geschrieben hat, die erzählende Prosa. Warum, wo er doch so schön erzählen kann?

Rühmkorf: Nein, ich glaube nicht, daß Erzählen zu meinen Begabungen gehört. Es kann sein, daß ich auch auf diesem Gebiet noch mal experimentiere. Das kann sogar schon bald sein. Es ist wieder eine Sache der Investitionen, die hier vorab zu leisten sind. Vielleicht kann ich es mir im nächsten Jahr, mit den Subsidien von Bergen-Enkheim versehen, erlauben, wer weiß. In welcher Form, das allerdings möchte ich noch in der Luft schweben lassen.

Arnold: Ich habe mir überlegt, warum das so sein könnte: Vielleicht weil die Prosa viel zu weit von Rühmkorf selbst wegführt, viel weiter jedenfalls als die Lyrik und viel weiter auch als der Essay, wie er ihn begreift. Nur das Theater macht eine Ausnahme. Und Rühmkorf bleibt lieber bei sich selbst.

Rühmkorf: Ja was heißt: „Bei sich selbst“? Es kann natürlich sein, und diese Gedanken habe ich mir auch schon öfter gemacht, daß ich, wenn ich erzählende Formen angehe, vielleicht über Tagebuchformen zu Erzählformen finde. Das ist jedenfalls ein Gebiet, auf dem ich wenig experimentiert habe, auf dem ich ganz wenig Erfahrung, ganz wenig Training habe. Möglicherweise sind das Eigenschaften und Talente, die ich in mir noch ausbilden muß. Und es ist wieder mal eine Sache, die ein Hasardspiel ist. Ich hasse Schriftsteller, die nicht alle paar Jahre mal Hasard spielen. Ein Roman und noch ein Roman, ein dritter, ein vierter, ein fünfter, das sind doch im Grunde ziemlich elende Reproduktionsexistenzen, grauenhaft. Ich glaube, daß das überhaupt zu einem Schriftsteller gehört, sich selbst alle soundsoviel Jahre rabiat mit neuen Büchern in Frage zu stellen und Bücher in die Welt zu entlassen, bei denen von Anfang an unentschieden ist, ob es gut ausgeht oder nicht.

Aus: Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Schriftstellern, Rowohlt Verlag, 1979

Eine Podiumsveranstaltung mit Peter Rühmkorf

… „Finismus“ heisst die Richtung, die der heute siebenundvierzigjährige Peter Rühmkorf unter dem Pseudonym Leslie Meier zusammen mit Werner Riegel bis 1956 in der Zeitschrift Zwischen den Kriegen verfochten hat. Das Wort, das wohl kaum in einem Fremdwörterlexikon zu finden sein dürfte, wurde dem lateinischen „finis“ (Ende) nachgebildet und meint für den Bereich der Lyrik – denn damit befasst sich Peter Rühmkorf hauptamtlich –, dass es mit dem Dichten ein für allemal aus und vorüber sei, dass die ganze Gattung Gedicht ausgedient habe. Wer nun aber meint, Rühmkorf hätte aus dieser etwas voreiligen, aber immerhin bemerkenswerten Erkenntnis die Konsequenzen gezogen und eine Stelle als Tankwart oder Fremdenführer gesucht, der verkennt sein paradoxes Genie. Obschon für ihn die Lyrik tot und längst beerdigt ist, kann er von sich nämlich behaupten:

An Einfällen ist kein Mangel, und das Wort versagt sich mir nicht.

Mit einem kleinen Geniestreich macht Rühmkorf, da er nun mal nicht ohne Gedichte leben kann, das Unmögliche möglich: Die Zeit der Gedichte ist vorüber, Rühmkorf schreibt dennoch welche; was läge näher, als die so entstehenden Produkte „Vorüber- und Dennochlieder“ zu nennen?
Dass es ihm nie an Einfällen mangelt, dafür sorgen übrigens alle jene Gedichte und sonstiges Literarisches, das entstanden ist, bevor die Zeit für Lyrik vorüber war. Rühmkorf kennt sich da gut aus und weiss virtuos und ohne falsche Hemmungen mit Zitaten und Anspielungen zu spielen, er ist ein Meister der bitterbösen Parodie, ein Fachmann für die Verhunzung von einstmals literarisch Erhabenem. Allerdings rächen sich hier die Toten auch, denn gerade das parodistische Moment macht Rühmkorfs Schöpfungen elitär: Eine Breitenwirkung ist ihnen zum vornherein versagt, weil nur wenige sogenannte Intellektuelle von ganzem Herzen mitlachen können. Rühmkorf tut daher gut daran, sein politisches Engagement nicht an die grosse Glocke zu hängen und sich als unpolitischen Lyriker zu verstehen:

Gestern Kommunist, morgen Kommunist, aber doch nicht heute beim Dichten!

Unmittelbar sympathisch an seinen Arbeiten ist jedenfalls das einem direkten Engagement abholde, mit dem parodistischen Grundton eng verknüpfte spielerische Element, das den Leser mit einbeziehende Vergnügen des Autors, lustig draufloszuschnattern, ohne darauf zu achten, dass immer besonders Tiefsinniges dabei herauskommt.
Für einen derart schwierigen und nicht leicht in irgend eine literarische Gattung einzureihenden Poeten hatte das Stadtzürcher Präsidialamt sicher Mühe, einen Fachmann für die übliche einleitende Laudatio zu finden, als es für den 15. Januar im Rahmen des Literarischen Podiums einen Abend mit Peter Rühmkorf vorbereitete. Doch wozu hält sich die Eidgenossenschaft in Zürich einen gewissermassen staatlich approbierten Literaturprofessor, dem so etwas wie diplomatische Immunität im literarischen Leben Zürichs zusteht, und der daher immer frisch von der Leber weg formulieren darf ? Professor Dr. Adolf Muschg übernahm den Job. Er stellte dem nicht sehr zahlreichen, aber links von der Mitte recht prominenten Auditorium Peter Rühmkorf als einen „poeta doctus“ vor, der sowohl in Latein und Mittelhochdeutsch als auch auf soziologisch parlieren könne, sich aber bescheidenerweise gleichwohl mit Deutsch begnüge. Muschg lud – als ob das noch notwendig gewesen wäre – ausdrücklich „zum Genuss von Missverständnissen“ ein und sparte nicht mit den von einem feinsinnigen Lächeln begleiteten humorvollen Tiefschlägen gegen die (übrigens gar nicht anwesenden) „feinen Leute“. In Rühmkorf sah er denn auch vor allem den Repräsentanten der 67/68er Studentenkrawalle, einen allerdings, der resignieren musste und nun gewissermassen den Hofnarren der bürgerlichen Gesellschaft spielen muss. Ein Trost nur, dass „noch niemand freiwillig Hofnarr gewesen ist“ und im Grunde genommen immer „die Höfe die Narren waren“. So nebenbei erhielt Professor Muschg auch noch Gelegenheit, die ehemals modischen Warenhausbrände mit den Maschinenstürmereien des 19. Jahrhunderts gleichzusetzen:

Man zerschlägt die Produktionsmittel erst, wenn man keine Hoffnung mehr hat, sie sich anzueignen.

Peter Rühmkorf, der zuletzt mit an einem anderen grossen Revolutionär geschulten Worten – „Hier steht Rühmkorf, er kann nicht anders!“ – aufs Podium gebeten wurde, hatte es schwer, den in ihn gesetzten progressiven Hoffnungen gerecht zu werden. Zum Glück nahm er sich selbst weit weniger ernst, als man hatte befürchten müssen. Wenn aber trotz seiner Begabung als Kabarettist keine rechte Stimmung in dem barocken Musiksaal aufkommen wollte, so lag das wohl zur Hauptsache an der Virtuosität dieses Gedankenjongleurs, dessen Texte sich einem unmittelbaren Verständnis – was das in diesem Falle auch immer heissen möge – nur schwer erschliessen. Man hörte Gedichte und Prosatexte aus Rühmkorfs jüngsterschienenem Buch Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Beim Ausschnitt aus dem Text über den mittelalterlichen Minnesänger interessierten mehr noch als die eigenwillig interpretierten biographischen Details Rühmkorfs Uebersetzungen der Gedichte, die von einem unbefangenen Verhältnis zur Literaturgeschichte und einem sicheren Einfühlungsvermögen zeugen. In einem Essay „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ nahm Rühmkorf ausführlich Stellung zur Möglichkeit lyrischer Dichtung heute. Er scheint nun für das Gedicht doch auch theoretisch wieder eine Chance zu sehen, es wird für ihn zu einer „archaischen Mitteilungsform, mit der man noch aus dem Medienverband der Informationskonzerne heraustreten kann“. Aber auch darauf wird man Peter Rühmkorf wohl letztlich nicht festlegen können!
Man lernte am 15. Januar jedenfalls einen eigenwilligen literarischen Zeitgenossen kennen, ein „Original“ voller Ideen, einen Satiriker voll des schwärzesten Humors und einen Lyriker, der die Gabe hat, mitten in einem scheinbar in jeder Hinsicht respektlosen Pamphlet Sangbares, echt Poetische aufklingen zu lassen.

Die Tat, 22.1.1976

Peter Rühmkorf – ein bundesdeutscher Poet

Durch Adolf Muschgs geschickte Einführung des bundesdeutschen Poeten Peter Rühmkorf war man fast von so etwas wie Spannung angesteckt; denn er empfahl den Besuchern des Literarischen Podiums im Stadthaus, sich eine Stunde lang provozieren zu lassen von einem linken Satiriker, einem lyrisch vermittelten Rühmkorf, der aus seinem neuen Opus Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich lesend „zum Genuss von Missverständnissen einlüde“. Muschgs launiges, von progressiver Diktion gespicktes Präludium war den Besuch des Abends schon wert – mit dem Dichter Rühmkorf dagegen hatten wir etwas mehr Mühe, was nichts über seine Qualität aussagt.
Qualitäten besitzt er nämlich vor allem im Ausbau eines versierten, aus Gegenwartssprache sich speisenden schein-lyrischen Jargons, dessen Abstand zur klassischen Idee des Lyrischen ihm einen Raum zur Gegen-Lyrik bietet, in dem er sich doch wieder kritisch beziehen kann auf die Modelle der Tradition. Es gibt bei Rühmkorf eben nur eine Sprache, keinerlei Schichtung: von der Fäkalie, die Zärtlichkeit sein kann, bis zum tagespolitischen Propaganda-Slogan ordnet sich alles zu einer Sprache, die aber eben nur noch in so etwas wie „Lyrik“ sich kritisch präsentieren lässt. Darin ist sozusagen ein gesellschaftsanalytischer Impetus, der mittels satirisch-lyrischer Analyse der bundesdeutschen Sprachmentalität den Spiegel ihrer Fatalität vorhalten will. Und dieser Impetus will mehr sein als „Wackeln mit dem Ueberbau“. So Rühmkorf. Ist er mehr? Der Lyriker – nach Rühmkorf ein „anthropologisches Monstrum“ – bleibt als Monstrum wenigstens ein Individuum mit persönlicher Kraft. Von einer solchen konnte Rühmkorf nicht Zeugnis ablegen an diesem Abend, jedenfalls eben nicht mit diesem Programm, mit dem er sich eher einen Bärendienst leistet; denn er liest und liest und liest lustig Lustiges und immer und immer Satirisches aus derselben Küche und nach selbem Rezept. Für Hörer wenigstens sollte er sich vielseitiger zeigen. So verharrt man eher vor ihm in der Frage, die er poetisch so inkarnierte:

Rede ich Blödsinn oder dichte ich schon, oder lieg ich, unhaltbar, dazwischen.

gae, Neue Zürcher Nachrichten, 21.1.1976

 

LUFTPOST
Für Peter Rühmkorf

Luftikus, lau ist die Luft
in der du auf hanfenem Seil
überm Abgrund der Gruft
kobolzt um dein Seelenheil.

Pfiffikus, dünn ist der Pfiff
fahrend durch Mark und Bein.
Riffikus, steifer das Riff;
Drumrum oder mittendrin?

Glückhans, ganz ist das Glück
erst bekleistert von Pech.
Meistere noch ein Stück
heiterhin, motzfrech.

Peterchen, werd mir nicht leise
der Mond beschweigt seinen Ring.
Puterchen, werde nicht weise
dreh noch ein linkes Ding.

Turmulus in deiner Mansarde
paffe den Schiffen den Weg.
Schick sie, övelrasierter Barde
hinaus ins Logbuch der See.

Richard Pietraß

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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