Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999

Rühmkorf-Haltbar bis Ende 1999

AL FRESCO

Sieh hinter deinen Rollen
wie leicht der Schnee in Nebel fällt.
Oh das Nichtendenwollen
der Wiese und der Welt.

Die Hecken, die Kanäle,
gibt alles seine Grenze hin;
das stimmt bis in die Seele
und malt sich fort als Sinn.

Laß-laß dem Tag die Schwebe
und rühr nicht an den Trauerrand.
Ich bin ja auch nur kurz im Land
und weiß nicht, wie lange ich lebe.

Mit vielen Himmelsmitteln
hat Unschuld sich ein Bild erblufft.
Nur noch ein paar Wünsche rütteln
wie Falken in der Luft.

Dahinten und daneben:
halb Land-, wer weiß, halb Küstenstrich −
Langsam die Welt will wandeln sich
und dann soll Ruhe geben.

 

 

 

Welch ein Wortakrobat!

Beim Anblick des Deutschen Ecks bei Koblenz dichtet er „Dadeduda du deutscher Dreck“, Ernst Rowohlt hängt er ein „Vieles angelesen, nichts eratmet“ an, ein höchst verschraubtes Wortgedrechsel läßt er mit „Wer das versteht, den versteht bald keiner mehr“ enden und Erotik hört sich bei Rühmkorf so an: „Ehe Abschiedweh den Beichtstuhl schwängert, folge ich deiner Hängerosentitten Blindenschrift“. Das ist dann mal Lyrik! Mein Tipp: Im Winter erst einmal eine Flasche Rotwein, im Sommer eine Flasche kühlen Weisswein trinken, dann lesen, und – falls man es verträgt – gleich noch ne Flasche hinterher. Dann versteht man ihn auch, den guten alten Peter Rühmkorf.

Monsignore, lovelybooks.de

Der denkende Zeitgenosse Rühmkorf

− Zu seinen Gedichten Haltbar bis Ende 1999. −

Ein Freund, literarisch interessiert und gebildet, teilte mir kürzlich aufgebracht mit, er lese nie wieder Lyrik. Hölderlin, Trakl, Benn oder Brecht, dergleichen natürlich, aber Celan schon nicht mehr, auf keinen Fall diese neudeutsche Innerlichkeit, die sich tränenselig mit ihren Herzensangelegenheiten begnüge, diese sprachlose Naivität, die vom Frühstücksei bis zum Atomkraftwerk alles in einer Soße lyrischer Beliebigkeit verrühre. Schon gar nichts wolle er mehr wissen von den gesinnungswackeren Polit-Poeten, deren Gedichte sich von Leitartikeln nur durch die Zeilenbrechung unterschieden, ihn interessiere auch nicht das wachsende Dumpfmeistertum, das sich zu schade zum Denken sei und ehrwürdige Metaphern ruiniere. Ihm gehe es immer häufiger so, daß er entweder nichts verstehe, oder daß das, was er verstehe, derart sei, daß er lieber nichts mehr verstehe. Neulich habe er ein Gedicht von Volker von Törne gelesen, worin dieser seine Kollegen anrede:

Wenn ich manche eurer neuen Gedichte lese
staune ich ehrlich, wie euch euer Klein
Kram zu seitenlanger Poesie gerinnt…
Wie wär’s, wenn ihr mal ne Zeitlang die Luft anhieltet?

Das sei ganz seine Meinung und er könne nur hoffen, daß der Autor sich in diese Empfehlung mit einschließe.
Was hätte man ihm entgegnen sollen? Herrscht nicht noch immer unter jenen, die publizieren wollen die Meinung, Lyrik sei das Leichteste, und ist es nicht so, daß diejenigen, die mit dem Denken am wenigsten weit kommen, am ehesten zu dichten anfangen? Was sich da täglich auf den Redaktionstischen deutscher Zeitungen und Rundfunksender sammelt, läßt manchmal bedauern, daß die Tabus des Endreims und der gebundenen Formen gebrochen sind. Der Typus des poetischen Midas macht sich breit, dem alles, was er anfaßt, zur Gedichtzeile gerät.
In einem 1975 in dieser Zeitung erschienenen Essay wunderte sich Peter Rühmkorf über „das anhaltende und anscheinend durch keine Entmutigung zu bremsende Bedürfnis nach der Versifikation menschlicher Leiden und Leidenschaften“.

Rühmkorf schrieb dies als scharfzüngiger und gelegentlich polemischer Literaturkritiker. Aber ist er nicht selber ein Poet, hat er da etwa sein eigenes Nest beschmutzt? Tatsache ist, daß Rühmkorf zu jenen nicht eben häufigen Schriftstellern zählt, für die Verstand und Poesie nur zwei Seiten derselben Medaille sind und für die es kein Widerspruch ist, ihren privaten Empfindungen und Erfahrungen nachzuspüren und sich zugleich als politisches Subjekt zu verstehen.
Rühhmkorfs Mißtrauen gegen die „Versifikation menschlicher Leiden und Leidenschaften“ macht auch vor der eigenen Produktion nicht halt. Eben diese Tugend ist vermutlich Grund dafür, daß ich vor seinen Gedichten immer Achtung hatte, daß sie mir aber letztlich fremd blieben. Irgendeine Möglichkeit emotionaler Identifikation sucht man eben doch im Gedicht, und obgleich Rühmkorfs Lyrik auf dieses wesentliche Element nie ganz verzichtete, so sorgte doch sein massiver Verdacht gegen jede Art von Unmittelbarkeit dafür, daß man solche Zuwendung nur auf gelegentlich anstrenstrengenden Umwegen erhielt. Rühmkorfs frühere Gedichte waren aufs engste mit einer literarischen Tradition verzahnt, die von Walther von der Vogelweide über Heine bis Benn reichte, und obwohl er die Zitate, Anspielungen und Ausleihen herumwirbelte, bis von den glänzenden Überlieferungen nur noch schillernde Splitter übrig blieben, gebrochen durch Spott, Ironie und auch ein bißchen Verzweiflung, so konnte doch an solchen Kunststücken nur derjenige Gefallen finden, der mit diesem Bildungskanon groß geworden war.
Dies mag eine der Ursachen sein, daß Rühmkorf einen durchschlagenden Erfolg nie erreichte. Den einen war der Traditionshorizont fremd, die anderen, denen er vertraut war, mochten Rühmkorfs Respektlosigkeiten nicht. Friedrich Sieburg zum Beispiel befand 1959, man habe es bei Rühmkorf mit einem „begabten Feuilletonisten“ zu tun, „der einer besonderen Form jenes Journalismus huldigt, wie er auch von Enzensberger und Genossen mit großer Geläufigkeit betrieben wird“.
Die von dem Feuilletonisten Sieburg abfällig gemeinte Bezeichnung „Feuilletonist“ erinnert, nebenbei gesagt, an Tucholskys Diktum, nichts sei verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennten. Sein Fehlurteil ist wohl insofern bezeichnend, als es dem Unbehagen jener Leute Ausdruck gab, die Zeilen wie diese lesen mußten:

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
mit entspanntem Munde gepriesen; schöner ein künstlich Gebiß,
das den großen Gedanken
einer Schöpfung noch einmal käut.

Andererseits konnte dieser parodistisch verbrämten Kritik nur der etwas abgewinnen, der eine zumindest blasse Ahnung von Klopstock hatte.
Hans Magnus Enzensberger notierte einmal (siehe F.A.Z. vom 22. Mai 1976), Rühmkorf schreibe an dem weiter, „was einst Nationalliteratur hieß“. Daran ist richtig, daß das virtuose Spiel mit literarischen Formen, vom Paarreim bis zum Sonett, verbunden mit einer manchmal fast verdächtigen Sprachgewandtheit, immer auch mehr als ein Spiel war: So eben gab sich die „Versifikation menschlicher Leiden und Leidenschaften“ bei Rühmkorf. Und dazu gehörte auch die Erfahrung der Isolation und Ohnmacht, die linke Intellektuelle in den fünfziger Jahren machen mußten. Die Kritik an bildungsbürgerlicher Selbstgefälligkeit war insofern Gesellschaftskritik, als sie die scheinbar heilen Reste im Überbau attackierte, an die jene sich klammerten, die zu seinem Ruin beigetragen hatten. So produktiv Rühmkorfs Aversion gegen die naive und deshalb affirmative Unmittelbarkeit der herrschenden Lyrik war: er mußte sich nach und nach fragen, ob er nicht die Schlacht auf einem Feld führte, wo der Hase nicht mehr im Pfeffer lag. In dem Augenblick nämlich, in dem die literarischen Traditionen von selber an Bedeutung verloren, mußte die Taktik der Zerstörung und Aneignung wirkungslos werden. Das „Weiterschreiben an der Nationalliteratur“ wurde allzu mühsam, als es weder „Nation“ noch „Literatur“ mehr gab. Und es wurde zur Skurrilität angesichts der Politisierung Ende der sechziger Jahre. Anders als Arno Schmidt, mit dem Rühmkorf die literarischhe Gelehrsamkeit gemein hatte, konnte ihm das nicht gleichgültig sein. In seinem Buch Die Jahre, die er kennt beschreibt er, wie er in den Sog aktiven politischen Engagements geriet, und sicher ist es kein Zufall, daß er in jener Zeit kaum Lyrik publizierte, sondern mit zwei Theaterstücken, wenn auch glücklos, auf deutsche Bühnen kam.
In seinen neuen Gedichten ist Peter Rühmkorf ganz der alte, und doch klingt in ihnen ein anderer Ton. Sie stecken voller Witz und Aggressivität, zugleich aber sind sie nachdenklicher, verhaltener. Schwermut und Melancholie sind ihnen nicht fremd, uneingeschränkter bekennt sich der Autor zu seinen schwachen Stunden, düsteren Augenblicken, zu den Momenten der Verzweiflung, die er nicht mehr so leicht wie früher mit einem derben Spott oder einem ironischen Aperçu wegwischt.
Das hat, wie aus den Gedichten kenntlich wird, auch einen biographischen Grund: Rühmkorf wird in diesem Oktober (1979) fünfzig Jahre alt, und dies mag nicht nur diejenigen überraschen, die den Autor von weitem kennen, seine jugendlich-bewegliche Erscheinung mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln und der übergehängten Lederjacke, sondern es überrascht offenbar auch ihn selber. Mit leiser Trauer überblickt er dieses halbe Jahrhundert, und vielleicht bezeichnet der Titel Haltbar bis Ende 1999 die Zeitspanne, die sich Rühmkorf an produktiver Tätigkeit noch zugesteht – oder erhofft.
In seinem „Selbstportrait“, mit dem er den Band eröffnet, schreibt er:

Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! −
wie in eine Geschützmündung
mein Herz zieht allmächlich die Geier an.
Wer links kein Land mehr sieht,
für den rast die Erde bald
wie ein abgeriebener Pneu auf die ewigen Müllgründe zu.

Sieht der „rote Rühmkorf“ links kein Land mehr? Sicher ist, daß die kritische Kraft der marxistischen Kategorien für den Dichter wie für den Denker Rühmkorf immer noch essentiell ist. Nach wie vor zählt er zu jenen „linken Intellektuellen“, die solche Charakterisierung nicht als Schimpf nehmen, sondern sich eher zur Ehre anrechnen. Er zeigt auf die Widersprüche dieser Gesellschaft, legt sie offen, denn er ist „auf die Welt gekommen, um der Schöpfung mal ein bißchen unter die Röcke zu gucken“, und er weiß ja: „Dieses gewaltige Zeitalter des Verfalls / kann man doch nicht so einfach unberufen / an sich vorbeirauschen lassen – / Entweder das Schicksal handelt / oder du selber!“, und deswegen ruft er sich und seinen Freunden zu: „Bleib erschütterbar und widersteh!“
Doch Rühmkorf zählte nie zu jenen, die sich einer Heilsgewißheit sicher wähnen, und dieser Band dokumentiert eine gewachsene Skepsis. Die alten Hoffnungen sind in weite Ferne gerückt, die Utopien auf Sand gelaufen.

Ich will ja nicht hetzen, aber so rum betrachtet
ist der Sozialismus eigentlich
mehr ne Sache fürs Jenseits:
Ohne Hoffnung nicht zu ertragen
und zum Leben
− wie sagt man? – keine echte Alternative.

Zwar behauptet er nicht ohne Ironie: „Klar bin ich Kommunist diesem meinen Berufsrisiko. / Ich will das Glück für alle Anwesenden“, und solche Wünsche sind „anerkannte Träume der Menschlichkeit“, auf die er nicht verzichtet, andererseits aber bekennt er: „Ich will bloß nicht die ganze Gegenwart verwarten“, und in einer Mischung aus Spott und Sehnsucht heißt es: „Seit einigen Jahren, drei oder vier / laß ich nur noch das Glück an mich rankommen.“ Es ist nicht nur das Glück, dem Rühmkorf Zutritt gestattet, es ist auch der Zweifel und manchmal Verzweiflung. „Viele von uns sind verrückt geworden, / einige tödlich“, schreibt er, und er bezeichnet damit einen jener Endpunkte, den traurigsten, an dem die Linke in diesem Land angekommen ist. Der Weg der Verdunklung und Nachdenklichkeit, den Rühmkorf hier geht, führt ihn auf jene Position, wo das Ich ungeschützt sich selber begegnet.
Die Isolation, in der Rühmkorf sich sieht („Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen“), ist nicht selbstgewählt, sondern hat ihre gesellschaftlichen Gründe. Mit den „Betriebstankwarten“, die Überzeugung nur noch verwalten, mit jenen, die Gesinnung zeigen anstelle von Charakter, will er nichts gemein habe So bedrängt ihn denn das Gefühl der Einsamkeit, verstärkt durch die Erkenntnis allmählichen Altwerdens, und er schreibt:

Ich glaub, wenn ich weich genug bin,
emigrier ich in Richtung SU. Kann doch sein, daß die meine Reste
noch auf Leibrente nimmt.
Eh man sich völlig einsam hier
die Scheiße aus dem Arschhaar kämmt.

Bevor jedoch der Ton ins Pathetische umschlägt, folgen die Zeilen:

Aber Selbstmord dann komischerweise
immer noch diese eine Nummer zu groß.

Rühmkorfs immer hellwacher Verstand sorgt dafür, daß seine Gedichte, wo die letzten Dinge ihre Gegenstände sind, dennoch nie in großspurige Allgemeinheiten sich verflüchtigen. Ironische Besprechungen, Irritierungen und witzige Kontraste liebt er nach wie vor, zugleich aber versteckt er sich weniger als früher im Zitat oder in der Parodie. Zu groß sind die Verletzungen, zu schmerzlich die Erfahrungen, von denen die Gedichte handeln. Wo die politischen Perspektiven krumm geworden sind, geht es zuallererst darum, die eigene, ganz private Situation zu bedenken. Das Ich löst sich probeweise aus den Verklammerungen mit der Umwelt, aus den fragwürdig gewordenen Sicherheiten jener bestimmten Negation, die Rühmkorfs literarisches Werk bisher definiert hatte.
Der Prozeß beginnt mit der nicht nur scherzhaften Wendung „der einzige Mensch, der echt total an dir hängt, / bist du selbst“, und er geht bis zu dem Vorsatz „Ich will entwurzelt werden, ich will nicht mehr der ich bin“. Die Erfahrung des Alterns wird unerbittlich benannt:

Keine Angst, ich flieg auch ohne großes Zutun langsam auseinander.
Unwiderruflich.
Zuverlässig.
Haar für Haar und Zahn um Zahn.

Hoffnung geben da nicht die großen Parolen, sondern bescheidene und doch auch wieder tröstliche Alltagserfahrungen, das „völlig unhaltbare Junigrün, mit diesem gewissen schwar Schuß Efeu darin“, „die stumme Parkbucht voll Blattgold“ und das Erlebnis eines neuen Tags:

Wie so gewaltig
schäumt ein Morgen an die Brüstung

Es gibt wenige Schriftsteller, die so wie Rühmkorf alle Nuancen und Register der Sprache kennen, das Ordinäre ebenso wie das Artifizielle, den KaIauer ebenso wie das Bildungszitat. Zu seiner Technik gehört, daß er die Sprache ganz leicht macht, manchmal fast leichtfertig locker, ohne jedoch die Schwere und Schwierigkeit dessen, was er zu sagen hat, zu mildern. Im Zweifelsfall allerdings neigt er dazu, der hübschen Formulierung, dem ausgetüftelten Sprachspiel den Vortritt zu lassen, und gelegentlich verliebt er sich in seinen kunstvoll-schnodderigen Ton, so daß er dem Leser mehr Bewunderung als Anteilnahme abringt. Aber diese Schwäche ist zugleich seine Stärke: er will nicht das Mitgefühl, sondern das Mitdenken. Dazu gehört etwa Rühmkorfs empfindliche Aufmerksamkeit für die Deformationen und Versklavungen, denen die Sprache öffentlich ausgesetzt ist, und bisweilen genügt ihm eine winzige Drehung, um sie in Freiheit zu setzen, wie etwa am Beispiel jener Kühlschrank-Werbung: „Jetzt neu mit dem großen Familiengefrierfach.“ Was da so alles eingefroren wird, das bringt Rühmkorfs ungemütliche Intelligenz blitzartig zum Schmelzen. Und er setzt seinen Ehrgeiz nicht darein, eine besondere poetische Sprache jenseits des Alltäglichen zu finden, sondern benutzt den Jargon, die Umgangssprache, die Muster öffentlicher Rede ebenso wie das lyrische Versatzstück. Die Mittel sind ihm nicht heilig, und am Ende gelingt es ihm doch zumeist, „daß ein Gedicht den anfangs gramgebeugten Kopf doch doch irgendwie nach oben kriegt.“
So salopp dies auch formuliert ist, das Wort „Gram“ ist gerade so ernst gemeint, daß man es ernst nehmen muß. Nur so kann sich der Leser dieser intelligenten, verletzenden und verletzlichen Lyrik nähern, denn, um im Rühmkorfschen Tone zu reden, Kummer hat irgendwie jeder, und manche Dichter vergießen ihre Tränen derart drastisch, daß man am liebsten die Luken dicht macht, während man bei anderen nicht glaubt, daß sie jemals welche geweint haben könnten.
Das heißt nun nicht, daß man mit Rühmkorf schnell auf Duzfuß käme. Die imaginäre Zwiesprache mit dem Leser ist oft von der Verbalinjurie nicht weit entfernt:

Und ich sage dir, liebliche Leserin, die du unentwegt um Verständnis ringst: deine Titten versteht jeder zweite.

Solche Drastik ist durchaus nicht einseitig, wendet sie doch Rühmkorf auch ganz auf sich selber, und sie ist wahrscheinlich für jene Zeitgenossen, die dem feierlichen Ton ebenso mißtrauen wie der neuen Sentimentalität, die produktivste Art, über Gefühle zu reden. Die schonungslose, auf manche Leser vielleicht zynisch wirkende Sprache dieser Poesie ermöglicht überhaupt erst, des Gewichts solcher Erfahrungen wie Tod und Alter und Verzweiflung, aber auch Hoffnung und Liebe aufs neue inne zu werden.
Und nicht nur ihres Gewichts, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Qualität. Denn dies macht Rühmkorf immer wieder deutlich, daß seine „Leiden und Leidenschaften“ keine selbstherrlichen Empfindungen sind, sondern in einem Zusammenhang mit unserer Lebenswelt stehen, der nun aber nicht von vornherein evident, sondern immer erst zu suchen und zu beschreiben ist. Wenn das Ich dieser Poesie in schmerzlicher Isolation sich findet, so verharrt es selten darin; aggressiv oder nachdenklich sucht es den Widerspruch, den Widerhaken, die Wurzel des empfundenen Mangels. Es ist so, wie Rühmkorf schreibt:

Ich red von mir – zu euch – für uns.

Rühmkorfs Gedichte sind wahrhaft politische Lyrik, es sind die einzigen wahrscheinlich, die diese letztlich unlösbare Spannung aushalten und nicht zugunsten bloßen Räsonnements einerseits oder weltflüchtiger Ichbezogenheit andererseits auflösen. Indem Rühmkorf sich selber in diesen Gedichten öffnet, seine persönlichen Schmerz- und Glückserfahrungen unverstellt (wenn auch nie unvermittelt) zur Sprache bringt, zugleich aber einen Konversationston anstimmt, der die ganze Schärfe politischer Hoffnungen und Enttäuschungen nicht unterschlägt, hält er die beiden Pole in dauernder Spannung. Das ist auch die Ursache für das Vergnügen, mit dem man Rühmkorf liest: er ist ein denkender, ein empfindsamer und witziger Zeitgenosse, und wenn ich meinen Freund, den Verächter der Lyrik, treffe, werde ich ihm dieses Buch geben: Haltbar bis Ende 1999, und vielleicht darüber hinaus.

Ulrich Greiner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.1979

„Laß deine Anlagen leuchten“

Peter Rühmkorf, gerade fünfzigjährig, Lyriker, Essayist, kritisch-bissiger und überlegener Chronist dessen, was um ihn schrieb ein Zeit-Genosse im wahren Wortsinne −, hat sich in dieser Hinsicht seit seinem ersten Gedichtband kaum verändert. Das Buch nannte sich Irdisches Vernügen in g, erschien 1959 und zeigte den jungen Autor, der den Kopf „einen Stein des Anstoßes“ genannt hat, ganz schön kopflastig gescheit und auf höhere, eigene und andere Kosten vergnügt und dabei mitten unter den Leuten, unter der Literatur, so wie er sie zuvor als „Finist“ und unter dem Pseudonym Leslie Meier auf einem eigens errichteten „Lyrik-Schlachthof“ nicht so sehr ans Messer geliefert als seiner schön spitzen Zunge ausgeliefert hatte.
Seither hat Rühmkorf unsere Literatur mit seinen Büchern begleitet, mit Anfällen und Erinnerungen und mit Strömungslehren, im Jahre des fünfzigsten Geburtstages nun mit einem weiteren Gedichtband: Haltbar bis Ende 1999. Horst Janssen hat das Umschlagbild gestaltet und den Poeten porträtiert. „Von mir – zu euch – für uns“ nennt sich der einführende erste Textteil des Buches, und er gibt die Stichworte, die alten und die neuen, die zutreffen auf das, was Peter Rühmkorf wollte und erreichte. Er erreichte mit seinen Gedichten viele, und warum soll er sie nicht bis zum Jahrhundertende und jedenfalls bis auf weiteres erreichen, wenn er es mit Gedichten treibt wie mit Dichtung überhaupt:

Dichtung ist Ausnahmezustand und wird es immer bleiben, und die erste notwendige Voraussetzung für das Entstehen von originellen Versgebilden ist eine eigentümlich verrückte SchiefsteIlung zur Welt, gemeinhin als neurotische Verkantung zu besichtigen.

So kühl und schmissig und selbstverständlich hat er eigene und andere Gedichte angesehen, Verse als Dennoch, als Widerstand, als Trotz, aus Zorn oder aus einer komplizierten Freundlichkeit heraus. Rühmkorf hat schon immer zu analysieren verstanden, was es mit (seinem) Gedicht auf sich habe:

Was sich im Gedicht zu bezeugen hat, ist weder das Luxusgefühl persönlicher Unversehrheit noch das aparte Saturiertsein des Sozialanwalts, sondern die Bewußtseinsanfechtungen eines zwischen widersprüchlichen Wert- und Unwertvorstellungen zerteilten Zeit-Genossen.

Man muß zur Poetologie Rühmkorfs so viel heranziehen wie möglich, weil in solchen Äußerungen am unbefangensten und am genauesten über das Kunst- und Zeitprodukt, das Willens- und Unwillensprodukt Gedicht die Rede ist. Dies Poetologische setzt gleichsam die Gedichtabläufe fort, verlängert sie – nicht ins Abstrakte, sondern auf andere Art und Weise höchst lebendig, ins Wache und gelegentlich ins Überwache. Der „Ichschreiber-Jetztschreiber“ hat noch nie gefackelt und fackelt auch in den neuen, so lange als haltbar erhofften Arbeiten nicht. Das Jetzt bei Rühmkorf ist an kein Datum gebunden. Es ist die „Komm raus“-Situation, die mit ihm gemeint ist, und hört sich im gleichnamigen Gedicht wie folgt an:

Komm raus aus deiner Eber-Einzelbucht,
aus deiner Ludergrube.
Komm raus aus deiner kaskoversicherten Dunkelkammer!

Der Text endet:

Komm raus aus deinem Todeskoben, überleg dir das Leben:
Die Morgenschiffe rauschen schon an −
Ein Tag aus Gold und Grau: willst du mit rein? –

So freundlich, so auffordernd (und nicht, wie oft, herausfordernd) „lichtet“ sich das Scharfe und Schnoddrige, „(es muß ja nicht gleich was für die ganze Ewigkeit sein, / bloß so mit diesem gewissen / metaphysischen Biß): /  H a l t b a r  b i s  E nd e  1 9 9 9“.
Ohne solchen Biß könnte der Gedichtemacher nicht weitermachen, nicht auskommen – Metaphysik hin oder her, das Bissige, das Bewußte, das Erkennen von Grenze im Sprechen und von dieser Grenze so „haltbar“, so auf Widerruf wie möglich zu reden, so glaubwürdig, wie in seinen besten Versen: dies war und ist Peter Rühmkorfs Ansicht und Absicht stets gewesen. Diese Ansichten und Absichten stellt er im neuen Buch nun bis auf weiteres und meinetwegen für die nächsten zwanzig Jahre vor (dann nämlich, 1999, hätte er die poetischen vier Jahrzehnte auf dem Buckel, den er sich durch niemanden als durch sich selber krümmen läßt).
Der „einfallskundige“, der Bewußtseins-ungetrübte, der schnelle Peter Rühmkorf hat sich auf Welt und Zeit und Liebe und Leben seine poetisch „lavierte Federzeichnung“ gemacht: „Auch schon große Dinge erlebt. / Was war los? Nicht viel.“ Doch bleibt dies gewiß nicht sein letztes Wort, das als Resignation mißverstanden werden könnte. Zur Resignation war Rühmkorf nun einfach von je zu widerständig, zu mutwillig, zu frech aufgelegt, zu schön animiert, hochgekitzelt, auf die ruhigere Weise, noch vom Vorvorletzten Lied (das er übrigens dem Freund Nicolas Born widmete). In diesem schönen Gedicht steht die jubelnde, die himmlisch weltvergnügte Strophe:

Und darum sollst du, was dein Herze kränkt
v e r j u b e l n ! – ohne  I H N .
Mensch, diese Welt wird dir nicht einschenkt,
du mußt sie in dich ziehn.

Diese vier Zeilen (und gewiß nicht nur diese und ähnliche im Werk Rühmkorfs) haben das Widerborstige zart und liedhaft und wunderbar ermutigend gemacht. „Laß leuchten!“ nennt sich ein anderes Gedicht: bei Rühmkorf, wenn er will, leuchtet die Frechheit und wird anmutig lässig. Nichts wird unter den Scheffel gestellt: „Laß deine Anlagen leuchten“, so schließt der Gedichtteil, ehe der analytische Anhang kommt, diese Verlängerung, Erweiterung der Gedichttexte, wie gesagt. Eine Lyrik – wieder einmal – ohne „son blödes blindes Gesicht“.
Rühmkorfs Gedichte sind unter anderem auch „Durchreisebilder“. Die Aufenthalte überall scheinen kurz. Das Temperament Peter Rühmkorfs ist ungeduldig rasch weiter. Es sind – um es mit seinen eigenen Worten von früher zu sagen – immer noch „Vorüberlieder“. Sie blenden durch Intelligenz, durch gescheite Kantabilität, sie sind klar bis in die Tiefe, von der er nichts hält. Manche der liedhaften Verse wirken wie plötzlich entdeckte Strophen aus irgendeiner vergangenen Zeit, bis man merkt, wie nahe er am Augenblick, am Jetzt und Hier dran ist. So treibt auch Haltbar bis Ende 1999 das poetische, das kecke, das legere, das clevere und ahnungsvolle Spiel mit uns, das dieser alterslose Springinsfeld zu spielen nicht müde geworden ist.

Karl Krolow, Der Tagesspiegel, 4.11.1979

Überlebenszeugnisse eines Zeitgenossen

− Die neuen Gedichte des fünfzigjährigen Peter Rühmkorf. −

Die Zeit, da im Gedicht unaussterblich die Linden dufteten und in den Anthologien unsterblich die Gedichte, ist noch gar nicht so lange, aber gründlich vergangen. Selbst jener unverhoffte, mittlerweile auch schon fahl gewordene lyrische Frühling, den Peter Rühmkorf wenig zimperlich als „neue Zimperlichkeit“ etikettiert, brachte die Ewigkeitsflora der Poesie nicht mehr zum Blühen. Anemonen sind (möglicherweise leider) keine Erschütterer mehr, dem Herzen ist (sicherlich zu seinem Glück) die leiseste Ahnung von Thymian- und Mohn-Geheimnissen abhanden gekommen. „Gedichte“, notiert Peter Rühmkorf, „die klinisch schon tot sind und immer noch […] künstlich beatmet werden.“
Das Vertrauen auf ewige Schreibweisen erzeuge nur ewig gestrige, heißt es anderswo in der einfallsreichen Einfallskunde, seinem jüngsten poetologischen Credo im Anhang zu den 36 neuen Gedichten, die der Autor uns zu seinem fünfzigsten Geburtstag (am 25. Oktober) präsentiert. Bleibt anstelle der vermasselten Ewigkeitsperspektive allein die Flucht in die Öffentlichkeit? „Ich persönlich grüße in beide Richtungen“, läßt Rühmkorf uns wissen, und was dabei herauskommt, sind dann weder die notorischen „Besitztümer für immer“ noch jene lyrischen Eintagsfliegen, die sich von den Abfallen des Heute nähren, sondern – „von mir – zu euch – für uns“ – ausgestellte Überlebenszeugnisse, bestimmt zum sofortigen Gebrauch, aber doch mit einer Haltbarkeitsgarantie bis – mindestens! – Ende 1999.
Im solchermaßen abgegrenzten poetischen Revier hat dann sogar die Linde wieder ihren bescheidenen Platz: Vereinzelt steht sie in einer keineswegs park- oder dorfähnlichen Umgebung, eher am Rande der Autobahn im Fahrtwind, und sie blüht auch nicht; ihre Knospen sind „zu kleinen Fäusten geballte Zukunft“. Was für eine Metapher für die gegenwärtige Lage, die Peter Rühmkorf, der Bennschen Devise immer noch getreu, mit seinem hoch-empfindlichen lyrischen Instrumentarium erkennen. „Wo waren wir stehen geblieben, / damals, / Sommer Siemundsechzig?“ Damals: Das war, als die Faust im Gedicht, als Gedicht, aber auch außerhalb des Gedichts dem Bestehenden den Kampf ansagte im Namen einer Zukunft, auf die sie, indem sie sich zur Zeigehand entrollte, demonstrativ verwies.
Inzwischen hat die Zukunft, unentfaltet, wie sie weiterhin ist, selbst die Form einer Faust angenommen: zugleich Ausdruck ohnmächtigen Zorns und einer noch ungescholtenen Zuversicht, Sinnbild des (Rühmkorfschen) Gedichts. Die Linde wächst im Niemandsland zwischen Verzweiflung und Hoffnung, aber dieses Niemandsland ist auch jener poetisch-utopische Landstrich, „in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten ,wirklichen Welt‘“. Was der Liebhaber beim poetischen Gebilde sucht, ist ja immer noch Trost – den dieses heute freilich weniger denn je in Fingerzeigen zu erteilen vermag, die über seinen Rahmen hinausweisen. Erwartet wird immer noch die gelungene Synthese von Ich und Welt, die dem Ich seine Würde, der Welt ihre Rechtfertigung gibt, genau das also, was die Wirklichkeit Publikum und Mitspielern hartnäckig schuldig bleibt.
Der „Jetztschreiber“ hat es somit unendlich viel schwerer als seine in Orpheus versammelten Vorfahren. Denn da ist kein fertiges, seiner selbst gewisses oder auch nur eindeutig überdrüssiges Ich, das sich des Gedichts bedienen könnte, um mit der Welt Kontakt aufzunehmen beziehungsweise sich ihrer zu erwehren. Dieses Ich kommt ja erst in der lyrischen Rede, wenn überhaupt, zu einer halbwegs lebensfähigen Konsistenz, wie andererseits die Realität, ein absurdes Gestöber aus Informationspartikeln, sich erst im Gedicht, wenn überhaupt, in etwas notdürftig Weltähnliches verwandelt. Das Trostverlangen des trostlos dividierten Individuums ist ins Ungeheuere gewachsen, die Möglichkeit des Autors, Trost zu spenden, ohne den Zeitlosigkeitslügen zu verfallen, auf ein Minimum geschrumpft. Und doch heißt „die Utopie, an der wir wirkten, der wir zuschuften […] begreiflicher Zusammenhang und sinnlich erlebbare Fassung“.
Rühmkorfs Gedichte führen die verschiedenen Stadien des unter so miserablen Produktionsbedingungen stattfindenden lyrischen Prozesses exemplarisch vor. So finden wir neben vergleichsweise unverarbeiteten Konglomeraten von „Einstichen und Ausschlägen“, die freilich immer schon gruppiert sind um das hochgradig erregbare Empfindungs- und Sprachzentrum dieses unverwechselbaren Zeitgenossen, schlacken- und makellose Lieder, so strömend, so reinverfallen, so melancholietrunken, als habe sich kein zerbröseltes Ich je mit dem Sperrmüll des Geschehens vom Tage herumzuschlagen gehabt. Ich weiß (außer Biermann) keinen lebenden Lyriker, von dem ich mir derart melodische Strophen gefallen ließe, und ich weiß nichts, was ich mir von diesem Lyriker lieber gefallen ließe als beispielsweise das „Tagelied“. Zeilen wie diese:

Verdammter Morgen, bleiche Abschiedsstunde,
wenn uns der Schweiß gefriert.
Dein Finger paßt so schön in meine Wunde,
faß rein, daß sie sich spürt.

Oder jenes Strophenpaar, das die quälend aktuelle Antinomie von Einzelgängertum und Solidarität im Gesang aufhebt:

Der Kapitalismus macht die Welt zu Brei.
Und läßt sich auch noch rühren dieser Brei.
Mit Lust und unverbesserlich −
Du aber unterscheide dich
und schrei.
U n d   s c h r e i.
Du aber unterscheide dich und schrei.

Doch Schrein alleine macht dich noch nicht klug.
Alleine schreien macht die Welt nicht klug.
Du sollst nicht so wie alle sein.
Doch manchmal mußt du viele sein:
a l l e i n
a l l e i n
a l l e i n   i s t   n i c h t   g e n u g.

Erschütterbarkeit und Widerstand sind die beiden Momente, zwischen denen sich der Bogen dieser Gedichte spannt: ein Widerstand, der aus der Erschütterung hervorgeht, sie aber auch als seinen Gegenspieler auf den Plan ruft. Denn Widerstand neigt zur Verhärtung, leistet sich keine Trauer, verleugnet Widersprüche und läßt nur das andere, die Zukunft gelten. Erschütterbarkeit dagegen liefert sich dem Augenblick aus, der Unvereinbarkeit von Glück und Entsetzen, von jetzt und Morgen. So behauptet sich der Dichter Rühmkorf im Jetzt und Morgen. So behauptet sich der Dichter Rühmkorf im schmalen Zwischenreich unserer und seiner ganz persönlichen Jahre. Er weiß momentan keine Idee, für die er bedenkenlos seinen Kopf hinhalten könnte, er sieht „links kein Land mehr“ und kuckt in die Zukunft „wie in eine Geschützmündung“. Er fühlt „was wie Abschied nerzaufwärts von den Knien“. Aber da ist doch „noch etwas Rot im Spiel“, und sein Vogel Phönix hebt sich in die Lüfte: manchmal „himmelleicht, unangestrengt“, manchmal als Spottvogel, manchmal mit mißliebig scharfem Schrei – immer den Kopf hoch droben. „Daß es unsere Zeit einmal wirklich gegeben hat, / wird uns bald kein Deibel mehr abnehmen“, prophezeit ein Vers. Aber an diesen Gedichten, die es in unserer Zeit wirklich gegeben hat, werden künftige Leser unsere Wahrheit erkennen.

Albert von Schirnding, Süddeutsche Zeitung, 20./21.10.1979

Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999

„Haltbar bis Ende 1999“: ein Paradoxon! Denn versprechen zwar einerseits diese, uns aus dem Alltag so vertrauten Worte, etwas wie Homogenität, Konstanz und Wertbeständigkeit, so geben sie doch andererseits genügend Grund zur Skepsis und zum Unglauben in die Sache an sich. Beweist nicht das Lebendige selbst, daß es nicht durch Homogenität und Konstanz geprägt ist, sondern durch Bewegung, Wechsel, durch Entwicklung und Verfall? Ruft nicht vielmehr eine garantierte Haltbarkeit Assoziationen an Künstlichkeit und mangelnde Ursprünglichkeit hervor?
Gerade jenen Attributen zum Trotz dichtet Peter Rühmkorf für und gegen die Zeit: Seine Lyrik ist kein Auffangbecken für der schönen Seele resignierte Emotionalität und frustrierte Erotik. Der Autor dichtet nicht für einen in die Ewigkeit verlagerten transzendentalen Glücksanspruch des Individuums. Hier und jetzt ist die Zeit, die entscheidet: „Nicht daß du erst auf große Gedanken kommst, / wenn deine Zeit schon vorüber ist –“. Haltbarkeit gibt es für Peter Rühmkorf nicht, weder auf einer individuell-emotionalen Ebene, noch auf einer gesellschaftlichen, politisch-sozialen Ebene:

Wie ich höre, hast du lange nicht von dir selbst
gesungen, Onkelchen?!
Die Menschheit muß ja allmählich denken,
sie ist unter sich –
Wieviele Reiche haben inzwischen
ihre Besitzer gewechselt?
Das Bewußtsein ist siebenmal umgeschlagen.
Da schnei ich nun herein
mit lauter letzten Fragen

Diese ironische Selbstanrede, mit der Peter Rühmkorf sein Einleitungsgedicht („Selbstporträt“) beginnt, zeigt, daß der Autor am Ende der 70er Jahre (1979 erschien der Gedichtband zuerst), also am Ausklang jenes Jahrzehnts, in dem die Ursachen und Wirkungen der APO aufgearbeitet wurden, nicht nur den steten Wechsel von Herrschafts- und Bewußtseinsformen reflektiert, sondern auch seinen subjektiven Standort, sein Ich ironisch sarkastisch überprüft.
Peter Rühmkorf, der respektlose Theaterstücke und polemische Essays zur Literatur und Politik, sowie märchenhafte Prosa geschrieben hat, ist nicht nur ein lustvoller Fabulierer, ein feinsinniger Ästhet, sondern auch ein engagierter Aufklärer, der sich immer wieder mit den widersprüchlichen Weltbildern der Nachkriegswestdeutschen auseinandergesetzt hat. Mit seinen Gedichten reagiert er sensibel gerade auf die sozialen Deformationen und Bewußtseinsverkrüppelungen seiner Zeit:

Ideen rauschen so ran und fliegen vorbei, es stehn
aber gar keine richtigen Menschen mehr dahinter,
nur noch Betriebstankwarte,
nur Petroleumschwengel

Peter Rühmkorf richtet sich gegen die Konservierung des Menschen und des Menschlichen in Normen und Werten, die einer politischen Idee entspringen und letztlich nur der Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen dienen, in die die Einzelnen in dieser oder jener Funktion eingespannt sind, um ihre Haltbarkeit – im doppelten Sinne des Wortes – zu garantieren. Auch wenn Peter Rühmkorf sagt: „In Gedichten, da bin ich sozial verantwortungslos. In der politischen Prosa heißt mein gemeinsames Integral Sozialismus“, so zeigt er doch gerade in seinen Gedichten wie sensibel und leidenschaftlich dem Leben verwurzelt, er den platten Boden der Realität, den alltäglichsten Alltag in seinen politischen und sozialen Dimensionen auf den Punkt zu bringen imstande ist:

Hier zum Beispiel haben wir unser „PROGRESSIVES
THEATER ZUM MITSPIELEN, wo die Selbstdarstellung
des Menschen wieder einmal voll greift –
Wäre das nicht ein echtes Freizeitangebot an dich?“
Hier, gleich nebenan, entsteht ein „INDIVIDUELL GEPLANTES
FERTIGHAUS;
Kommunikationszentrum für alternative Lebensformen –
Sie müssen natürlich Ihre ganze Persönlichkeit mit einbringen!“

Manchmal glaube ich allerdings, diesen Schleim
kann die Menschheit auf Dauer gar nicht einschlürfen,
ohne daß sich ihr das Bewußtsein umdreht

Die objektiven Lebensbedingungen stehen für den Autor in einem krassen Widerspruch zu den subjektiven Lebenswünschen, die ihm übrigens sehr vertraut sind:

alles anerkannte Träume der Menschheit,
mit denen ich Umgang hab

Der Versuch, ein Arrangement zwischen beidem zu finden und damit so etwas wie dauerhaftes Glück in einer konstanten Umwelt zu erleben, scheint für Peter Rühmkorf absurd:

Die Wahrheit macht einem immer mal wieder
einen dicken Strich durch den Glauben.
Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! –
wie in eine Geschützmündung

Peter Rühmkorf ist ein aufstörerischer Zeitgenosse, ein Aufklärer mit anarchistisch-vitalistischen Intentionen. Wortgewandt und sprachgewaltig macht er Gebrauch von der „Freiheit sich nicht abzufinden“, oder gar einzufinden und in Konformität zu erstarren. Immer wieder insistiert er in seinen Gedichten auf die Vergänglichkeit des Seins:

Unsterblich bist du schon mal nicht.
lch glaub, zwischen dir und dem Leben stehen immer noch
viel zu viele Agenten rum,
dir dein ich auszureden –

Er fordert sich wie seine Lesenden auf, nicht in Programmen und Parolen, noch in abstrakten Glücksverheißungen der „Entmündigungsmedien“ und „politischen Agenturen“ zu erkalten, sondern „der Schöpfung mal ein bißchen unter die Röcke zu kucken“, denn:

entweder das Schicksal handelt
oder du selber!

Aus diesem Blickwinkel und aus dieser handlungsorientierten Einstellung heraus, auf das Leben zuzugehen, es gleichsam mit Distanz und Engagement kritisch und leidenschaftlich zu erleben, ist die Voraussetzung für die Prägnanz, für den Witz, die Treffsicherheit und die ironisch-sarkastische Würze der Rühmkorfschen Lyrik. Sie „ist Ausnahmezustand und wird es immer bleiben, und die erste notwendige Voraussetzung für das Entstehen von originellen Versgebilden ist eine eigentümlich-verrückte Schiefstellung zur Welt, gemeinhin als neurotische Verkantung zu besichtigen“. Daß es gerade die Lyrik vermag, diese Verkantung und Schiefstellung des Ich zur Welt zu transportieren, liegt für Rühmkorf nicht zuletzt in jenem bewährten poetischen Gestaltungsmittel, dem Reim, begründet. Ist dieser in der Lage „Zusammenhang im Zusammenklang“ zu stiften, eröffnet er dadurch jene für Rühmkorf typische Verfahrensweise, all die politischen, sozialen und emotionalen Widersprüche menschlicher Lebenszusammenhänge nicht nur zu verdeutlichen, sondern auch ursächlich miteinander zu verknüpfen. Dabei geht es dem Autor nicht darum, diese Widersprüche aufzuheben, oder sie gar durch Programme und übergeordnete, dem Menschen entfremdete Ideale zu nivellieren. Vielmehr pocht er darauf, mit und in ihnen zu leben:

Ich aber sage dir: in einen Kopf passen viele Widersprüche.
Der Verrückte ist immer im Dienst.
Ein Tragöde steht mitten im Leben

Die eine gültige Wahrheit zu finden, das ist nicht Peter Rühmkorfs Anliegen: sie gibt es für ihn nicht! Sofern sie existiert, erscheint sie als ,Opium fürs Volk‘, soll all den „Durchgedrehten, Umgehetzten“, die „ – Fortschritt marsch! mit Gas und Gottvertrauen –“ in sie hineintreten, dienen, einer Illusion von Unsterblichkeit zu erliegen. Wahrheiten kann es für den Autor nur im aktuellen Zusammenhang geben, in denen jeweils das Ich in seiner nicht entfremdeten, ursprünglichen Art Konstanz erfährt, indem er „erschütterbar bleibt – und widersteht“.

Marita Kaiser, Deutsche Bücher, Heft 2, 1989

Zu Peter Rühmkorfs Auffangpapieren

Ich bin gebeten worden, mir zu einigen Blättern von der Hand Peter Rühmkorfs so meine Gedanken zu machen, und ich kann bereits jetzt vorausschicken, daß sie mich sehr nachdenklich gestimmt haben.
Was liegt da vor?
Die nackten Fakten referiert ein handbeschriebenes DIN-A4-Blatt, das den mir zugedachten Beispielen beigelegt war und das allem Anschein nach von Archivarenhand stammt: „LYRIK, Haltbar bis Ende 1999“, heißt es da sowie: „Notizen/Fassung 1976/77“. Sodann geht es in die Details: „10 Bl hs A4 geknickt“, lesen wir oder „ca. 150 Bl A5-Format (auf A5 gefaltet) hs plus masch, z.T. geknickt“. Vor mir liegen sieben dieser Blätter, alle abgelichtet, manche beschrieben, einige bekleckst.
Alle geben Rätsel auf, am wenigsten die beklecksten. Da hat der Dichter wohl Kaffeetassen abgestellt, oder sollte auch das eine oder andere Glas Rotwein mit von der Partie gewesen sein? Gleichviel: All diese Kleckse teilen uns mit, daß der Dichter beim Dichten moderaten Nervengiften nicht abhold gewesen zu sein scheint, woraus ihm kein Fühlender einen Strick drehen wird. Freilich, mußte er Tasse oder Glas ausgerechnet auf einem poem in progress abstellen? Denn das macht den Inhalt der Blätter aus: rasch hingeschriebene Notizen, häufig Einzelworte, selten Sätze und alle so gut wie unleserlich. Hier und da lassen sich Anfänge erahnen, ja entziffern: „Soviel Blut“, doch wie lautet der Rest? Hilft da ein Blick in den Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 weiter?
Kursorische Prüfung der Gedichte führt zum Ergebnis: Fehlanzeige. Fündig hingegen wurde ich im weit ausholenden Nachwort. „Soviel Blut und keine Wirkung“, heißt es da nach Rühmkorfs Ankündigung, er notiere im folgenden die Anfälle und Ausschläge eines Tages, des Dienstags, den 20. Februar 1979. Worauf der Dichter drei Druckseiten voller Sätze und Sentenzen folgen läßt – ob wohl das mir vorliegende Blatt ebenfalls zu diesen Anfällen und Ausschlägen beigetragen hat? Es hat nicht den Anschein: „– keine Wirkung“, ist auch bei gutem Willen nicht aus den beiden schwungvollen Kürzeln herauszulesen, welche auf „Soviel Blut“ folgen. Dafür fördert der Blick ins Nachwort Wichtiges oder doch Hilfreiches zutage, nämlich eine komplette Poetik, in welcher Peter Rühmkorf nicht müde wird, das zu benennen, was da bekleckst, geknickt und häufig unleserlich vor uns liegt: Es sind des Dichters ständige Begleiter, da „ein Autor nie ohne Pentel und Auffangpapiere angetroffen werden“ sollte. Und was fängt sich auf diesen Papieren? „Anfälle und Einfälle“, „poetische Gedanken“, „partikulär empfangene Sprachmaterialien“, „Tausende von Niederschlagseinheiten“, „Splitter, Körner, Streusel, Funken, Blitze, Partikel“, „Ausschläge“, „unzählige Einzelkinder einer verstreuten Empfängnis“, „Ideen-Quanten / Energie-Proppen, Beschwingungskräfte. Optisch: Nu-Funken / Leuchtstaub // Hinteraugenblicke / Fulminanzen“, „Ausfüllungen und Einfälle – Stoßstellen und Blütenstäube (Novalis) – Niederschläge und bewegte Quanten – Ausschläge und AUSSCHLÄGE, Zwangserscheinungen und… kleine Flügelgenien“ – das alles und noch einiges mehr geht laut Rühmkorf dem Gedicht voraus.
Danach erst, gestützt auf ungezählte Auffangpapiere, kann der Dichter an die Arbeit gehen:

Nach einigen hundert, vielleicht einem guten Tausend von Versuchsschaltungen und Probepaarungen beginnen die einerseits bedrängten, zum anderen mitsprachebegierigen und aufs Kräftemessen erpichten Energiebündel in Beziehungen zu treten (nicht immer erwartete) und aufeinander einzureden.

Das klingt nicht nur nach Arbeit, das ist Arbeit: „Gedichte werden nämlich gar nicht, wie Gottfried Benn noch meinen durfte, aus Worten gemacht, sondern aus Einfällen, mithin ziemlich komplizierten und bereits belebten Wortverbindungen“, aus Einfällen wohlgemerkt, nicht aus einem Einfall oder deren zwei.

Bleibt nachzutragen, daß eine Handvoll Momentaufnahmen natürlich noch kein Gedicht bildet und eine sperrangelweit geöffnete Einfallspforte noch kein lyrisches Verfassungsorgan.

Erst nach „Hunderten von formverlorenen Augenblicken“ ist der Dichter dem Gedicht auf der Spur: „Ein halbwegs ernstzunehmendes Gedicht ist nämlich weder Augenblickssache noch nur Stunden- oder Tagewerk, sondern ein Arbeitskondensat von etwa einem Zwölftel Jahr“; und damit der Dichter das durchsteht, muß er eine Tugend an den Tag legen, die selten mit unseren Sängern in Verbindung gebracht wird:

eine Handwerksmoral (gemischt aus krankem Fleiß und dem absoluten Blick für Proportion).

Was sagt jemand zu alldem, der ebenfalls seit Jahrzehnten Gedichte verfaßt? Er freut sich, und er verwundert sich. Er freut sich darüber, daß der Kollege so ungeniert seine Lyrikkarten auf den Tisch legt, und er verwundert sich ob der Tatsache, daß der Auskunftgebende seinen höchstpersönlichen Zugang zum Gedicht ex cathedra zum allgemein verbindlichen Königsweg zur Poesie erklärt.
Gottfried Benn durfte noch meinen – das ist generös gedacht. Die Irrmeinung des Kollegen ist durch die Tatsache entschuldigt, daß er, gestorben 1956, Rühmkorfs Nachwort, geschrieben 1979, noch nicht kennengelernt haben konnte. Alle dichtenden Zeitgenossen aber und alle nach wachsenden Poeten können, nein müssen sich seit 1979 betreten an die Nase fassen, wenn sie sich mal wieder dabei ertappen, wie ihnen ein Gedicht einfach so aus der Feder fließt, durch nichts als einen einzigen Einfall provoziert, den zum Beispiel, einige Möglichkeiten der Reimverweigerung durchzuspielen:

Es liegt was in der Luft,
ein ganz besondrer Klang,
der viel zu viel verspricht,
jedoch er hält es auch.

Redet da jemand pro domo? Selbstredend, und ich tue das mit dem gleichen guten Gewissen, mit welchem Peter Rühmkorf vor nunmehr fast dreißig Jahren eine Poetik verkündet hat, welcher weltweit ein einziger Dichter zu genügen imstande war: er selber.
Und das – vermute ich – auch nur zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Haltbar bis Ende 1999, diesem Band voll langer, gegenwartspraller und faktengesättigter Gedichte. Mittlerweile faßt sich auch Rühmkorf gerne einmal kürzer, und wenn man ihn fragte, ob er an dem folgenden Sechszeiler, im Januar 2006 in dieser Zeitung abgedruckt, denn wirklich und wahrhaftig ein Zwölftel des Jahres gearbeitet hat, wäre er vermutlich der erste, dies lachend zu verneinen, was dem Gedicht freilich nichts von seinem Ernst nimmt:

VOLL IM TREND: LAND’S END

Gedichte, die den Lesenden enteilen,
flink wie bei ntv die Durchlaufzeilen,
a d e ! – a d e !
So en passant erledigt sich das Ende einer Gattung,
fragt sich nur, Feuer- oder Erdbestattung
Ich bin für See- …

Ich dagegen bin für: Nee! Und wenn denn schon etwas Poesiebezogenes im Meer versenkt werden sollte, dann doch bitte zuerst die Poetiken…

Robert Gernhardt, Erstdruck (gekürzt) unter dem Titel „Splitter, Streusel, Funken, Blitze, Partikel: Peter Rühmkorfs dichterische Auffangpapiere“ in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.2006 hier aus Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, S. Fischer Verlag, 2010

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Verena Auffermann: Im Vollbesitz aller Zweifel
Rhein-Neckar-Zeitung, 1.1.1980

Dieter Bachmann: Der Lyriker als Satyr
Tagesanzeiger, 13.12.1979

Rudi Bergmann: Wer nicht lieber lebt als schreibt
Die Tat, 2.11.1979

Hanspeter Brode: Der souveräne Könner ist überall zu Hause
Mannheimer Morgen, 10.10.1979

Elisabeth Endres: Im Tollwutbezirk. Der Lyriker hat sich zum Fünfzigsten selber beschenkt
Deutsche Zeitung, 9.11.1979

Heinrich Goertz: Die Wahrheit ist ihm widerwärtig
Stuttgarter Zeitung, 20.10.1979

Heinz Gross: „Diese Welt kann nicht so gemeint sein“
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13./14.10.1979

Hans Jürgen Heise: Auf den Lippen die Angst vor dem Tod
Die Welt, 22.9.1979

Hans Jürgen Heise: Ein roter Kuttel Daddeldu. Peter Rühmkorfs neue Gedichte
Esslinger Zeitung, 24.10.1979

H. Jergius: Haltbar bis Ende 1999
Nürnberger Zeitung, 13.10.1979

Anton Krättli: Schreibend sein. Fragmentarische Notizen eines Lesers
Schweizer Monatshefte, Heft 12, 1980

Wolfgang Kröner: Zur Linken die ewigen Müllgründe
Rheinische Zeitung, 25.10.1979

Karl Krolow: Verse als Trotz
Nürnberger Nachrichten, 19.9.1979

Heinz Michalik: Haltbar bis Ende 1999
Dasda, Heft 1, 1979

Heinz Michalik: Über-Lebens-Mittel
Kirschkern, Heft 9, 1979

Ernst Nef: Haltbar bis Ende 1999
Neue Zürcher Zeitung, 11.10.1979

Mathes Rehder: Sanft ergraute Trauerweide
Hamburger Abendblatt, 12.10.1979

Peter Schütt: Protesthaltung der fünfziger Jahre
Deutsche Volkszeitung, 11.10.1979

Leonore Schwartz: Zuckerrohr steht stramm
Kölner Stadtanzeiger, 27.11.1979

Jürgen Serke: Die Zeit anstoßen und die Kanaken vor den Kopf
stern, 18.10.1979

Joachim Fritz Vannahme: Gut für Widersprüche und Widerstände
Badische Zeitung, 26./27.1.1980

Jürgen P. Wallmann: Mund-zu-Mund-Beatmung
Basler Zeitung, 13.10.1979

Jürgen P. Wallmann: Neuer Rühmkorfband. Der Autor als Wespe
Rheinische Post, 13.10.1979

Elsbeth Wolffheim: In seinen Kopf passen viele Widersprüche
Frankfurter Hefte, Heft 6, 1980

Michael Zeller: Hoffen auf Rühmkorf
Literatur Konkret, Herbst 1979

anonym: Poet der vielen Stile
Der Abend, 25.10.1979

anonym: Peter Rühmkorf wird heute 50 Jahre alt
Heilbronner Stimme, 5.11.1979

 

Dichterei als Gegenproduktion

– Laudatio zum Bremer Literaturpreis 1980, gehalten am 26.1.1980. –

Bestellt, das Lob des Dichters und Schriftstellers Peter Rühmkorf zu singen, könnte ich mit Goethes Muse aus „Künstlers Apotheose“ tönen: „Dies ist der Schauplatz Deiner Ehre“, doch er würde darauf wie Goethes Künstler antworten: „Ich fühle nur den Druck der Atmosphäre“. Vier Literaturpreise in einem Jahr: ein Platzregen also nach fast zwanzigjähriger Dürre – das muß das Ergebnis einer erheblichen atmosphärischen Störung sein. Was war da los? Rühmkorf endlich preisfähig geworden? Hoffähig gar? Hatten die literarischen Normenkontrollstäbe endlich im Humus des Volksvermögens frische Wurzeln geschlagen? Oder ernten da heute einige, was sie weder säten noch begossen, sondern lange Zeit für Unkraut hielten, was ihnen zum Trotz und ihnen zuwider, „mit zweideutigen Mitteln und nie ganz stubenrein“, auf eigenem Stengel in ihre literarisch oder ideologisch aseptischen Treibhäuser hineinwuchs?
Sei’s drum. Versagen wir uns den spekulativen Blick ins Gebiß des preisläufigen Pegasus, er war lange störrisch genug. […]
Die Motive, aus denen Rühmkorf wurde, was er ist, rücken [in den 50er Jahren, W. E.] zusammen: Volkssprache und Zeitkritik, expressives sich selbst zum Ausdruck bringen und kritisch kontrollierende Parodie, „Dichterei“ als „Gegenproduktion“, der Entschluß, „mein Ich zum Selbstkostenpreis in Kunst aufgehen zu lassen“: allemal als polare Spannung im Kopf, der Balanceakt zwischen Gefühl und Verstand, Erlebnis und Kalkül. […]
Die ersten der siebziger Jahre jedenfalls benutzt Rühmkorf, um Bilanz zu ziehen, er notierte „Anfälle und Erinnerungen“ in Die Jahre die ihr kennt.
Hier kumulierte nun in einem einzigen Buch, was für das gesamte Werk Rühmkorfs bis auf den heutigen Tag charakteristisch ist: die fächerartige Ausbreitung der aus einem Zusammenhang hervorgebrachten thematischen und formalen Vielfalt: Bericht und Erzählung, Szene und Gedicht, Gutachten und Brief, Leitartikel und Essay, usw., eingebunden in Trauer und Humor, Stolz und Ironie: Spielformen und Spielweisen von ganz und gar Rühmkorfschem Selbstausdruck. Was davor war, wuchs zu diesem Buch hin, was danach kam und kommt, wurde darin ausgesät: jedes auf seine besondere Art: die literarische Selbstbestimmung mithilfe der Sängerkollegen Walther und Klopstock; der Versuch, die expressionistische Lyrik auf einem neuen, sozialpsychologischen Erkenntnisgrund begreifbar zu machen; der poetologische Klein- und Großkram in der ersten Strömungslehre; rundherum die lyrische Bilanz der Gesammelten Gedichte – und nun eine trotzige, die Wirklichkeitsrechte des sich selbst verantwortlichen Subjekts einfordernde Antwort auf eine absehbar beschissene Zukunft mit Haltbar bis Ende 1999.
So zeichnet sich für mich, ähnlich wie in Die Jahre die ihr kennt auf chronologischer Linie, im System des Gesamtwerks – gebildet aus den Koordinaten Erfahrung und Widerspruch, Erkenntnis und Selbstausdruck – eine Produktionskurve ab, die immer mehr sich zu einer Art von romantischem Zirkel schließt: zu einer Einheit in der Vielgestalt – ein vielbündiger Fächer in einer Hand und aus einem Kopf, der trotz mancher Nuß sich selbst treu und manchem quer blieb. Deshalb „Phoenix – voran!“, trotz dieser Zeilen aus Haltbar bis Ende 1999:

Die Wahrheit macht einem immer mal wieder
einen dicken Strich durch den Glauben.
Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! –
wie in eine Geschützmündung.

Heinz Ludwig Arnold, aus Wolfgang Emmerich (Hrsg.): „Bewundert viel und viel gescholten…“. Der Bremer Literaturpreis 1954–1998. Reden der Preisträger und andere Text, edition die horen, 1999

Peter Rühmkorf. Der rote Romantiker

„Ihn zu bestimmen ist nicht eben leicht“, heißt es in Peter Rühmkorfs „Selbstporträt 1958“, das nichtsdestoweniger eine erste Charakterisierung versucht, spöttisch und kampflustig:

Das Hohelied des Ungehorsams −
gebellt oder verkündet −
aber von keinem bisher so prägnant
als von ihm.

In einer „Hymne“ aus der gleichen Zeit heißt es:

Zwischen Geburt und Beil halte ich mich
meinem Zeitalter zur Verfügung.

Es gibt wahrscheinlich nur wenige Lyriker des 20. Jahrhunderts, in deren Gedichten das eigene „Selbst“ so häufig porträtiert wird, in denen so oft das Wort „ich“ zu finden ist. Was bereits in den frühesten Arbeiten der fünfziger Jahre beginnt, setzt sich bis heute fort, selbst in den Phasen, als sich das Dichter-Ich (scheinbar) von der Poesie lossagte. 1972 hieß es in einem Tagebuch-Eintrag:

… Drei Kreuze geschlagen. Schußstrich gezogen. Lyrik, in meinem Alter noch? Wohl doch ein bißchen unseriös, zumindest ein Luxus, den ich auf längere Sicht wirtschaftlich gar nicht durchhalten kann…
Wenn diese Gesellschaft sich keine Gedichte leisten kann – den Anspruch, ne Kulturnation zu bleiben, werd ich aus eigener Tasche bestreiten?! Gar nichts werd ich.

Drei Jahre später erschien diese Absage an das Gedichtschreiben mit geringen Varianten abermals, rhythmisiert und durch rhetorische Fragezeichen strukturiert, als erster Text (also programmatisch) einer Abteilung „21 Gedichte“ – mithin als Gedicht, unter dem Titel „Druse“. Es steht in dem Werk Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich; der Titel stellt den Autor neben (das begleitende Titelbild sogar vor) zwei der größten deutschen Lyriker vergangener Jahrhunderte – die Korrespondenz zwischen dem Titel-Ich und dem nun (im Gegensatz zum Tagebuch) in Großbuchstaben gesetzten ICH in „Druse“ ist auffällig. Wie kann der Ich-Schreiber Rühmkorf neben den beiden bedeutenden Poeten stehen und bestehen? Den entscheidenden Schritt signalisiert die Überschrift des letzten Kapitels: „Peter Rühmkorf… und das Ich“. Die kleine Variante gegenüber dem Werktitel zeigt das Wesentliche: Es geht nicht in erster Linie um das private Ich Rühmkorf, sondern um das Ich in der Literatur, seine Rolle, Bedeutung, Funktion. Rühmkorf will diese allerdings nicht auf das Innerliterarische – also auf das „lyrische Ich“ – beschränken, für ihn ist vor allem auch das schreibende Subjekt von größtem Interesse, und das nicht primär als Privatperson, sondern als „Gesellschaftsprodukt“, das sich „unter dem Druck und dem Zug von sehr bestimmten sozialen Prägekräften“ bildet. Das Ich – so Rühmkorfs These – wird in Umbruchszeiten, vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten, stärker aus seinen gesellschaftlichen Verankerungen gelöst und ist am ehesten in der Kunst zu finden, reagiert mit Kunst auf die Umbrüche.
Seit dieser Selbstvergewisserung hat der Autor weniger Scheu denn je zuvor, Lyrik zu schreiben und „ich“ zu sagen. Bereits das übernächste Gedicht nach „Druse“ beginnt mit der Zeile: „Ich saß, ich sah, ich schrieb“. In dem Gedicht „Zirkus“ heißt es:

was erwartet wird
ist einzig
dieses
leuchtende Subjekt.

Das Gedicht „Hochseil“ beginnt mit dem Traum des Dichter-Artisten „von einem Individuum aus nichts als Worten“.
Einige Jahre später, am Ende des fünften Lebensjahrzehnts, 1978, folgt dann ein zweites Selbstporträt, das zugleich das lange Schweigen in Sachen „Selbst“ zum Thema wählt:

Wie ich höre, hast du lange nicht von dir selbst
aaagesungen, Onkelchen?!
Die Menschheit muß ja allmählich denken,
aaasie ist unter sich −
Wieviele Reiche haben inzwischen
aaaihren Besitzer gewechselt?
Das Bewußtsein ist siebenmal umgeschlagen.
Da schnei ich nun herein
mit lauter letzten Fragen.

Die Bilanz des Porträts ist skeptisch, ja bitter, politisch desillusioniert, aber auch ironisch:

Die Wahrheit macht einem immer mal wieder
aaaeinen dicken Strich durch den Glauben.
Man kuckt in die Zukunft – jedenfalls ich! −
aaawie in eine Geschützmündung

Vielleicht ist es einfach nur dies:
aaamein Herz zieht allmählich die Geier an.

Zehn Jahre später, 1988, folgt dann ein drittes (das bisher letzte) Porträt unter dem Titel „Selbst III/88“ Es zieht Bilanz nicht nur von einigen Jahrzehnten Dichten, sondern wird zugleich, an der Schwelle zum Alter, zu einem großen Lebensrückblick: nach wie vor desillusioniert, gelegentlich melancholisch, aber zugleich witzig, ironisch, virtuos.
Diese Andeutungen zu Selbstporträts und Ich-Metamorphosen können eine Vorwarnung sein bei der Lektüre von Peter Rühmkorfs Werk Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen (1972), einer Autobiographie seiner ersten 43 Jahre; auch später hat Rühmkorf öfter in autobiographischen Texten („Olsberger Rede“, 1980; „Ein Porträt mit und ohne Hut“, 1990; vor allem TABU Tagebücher 1989-1991, 1995) bestimmte Phasen seiner Lebensgeschichte wieder aufgegriffen, beleuchtet, oft neu beleuchtet. Das deutet die Schwierigkeiten an, in einer Biographie Fakten und deren Sichtweise und Deutung zu trennen.
Das Gerüst der Daten, Namen und äußeren Ereignisse ist mithin wenig aufschlußreich, die Art ihres Erzählens, die Formen ihrer Fiktionalisierung meistens interessanter. Das beginnt bereits bei der Geburt am 25.10.1929 in Dortmund. Die Mutter ist Lehrerin, Tochter eines Superintendenten, der Vater – so Rühmkorf – ein reisender Puppenspieler „(Name ist dem Verfasser bekannt)“. Die künftige Mutter sucht Rat bei dem angesehenen Kirchenlehrer Karl Barth in Münster, der vermittelt sie nach Dortmund – das führte dazu, daß Rühmkorf „zu etwas so Sonderbarem wie einem Wahlwestfalen“ wurde. (Immerhin nahm Rühmkorf diese Identität ohne Probleme an, als er 50 Jahre später vor die Frage gestellt wurde, ob Herkunft und Bewußtsein mit den Statuten des Westfälischen Literaturpreises in Übereinstimmung zu bringen seien.) Mutter und Sohn zogen bald nach Warstade-Hemmoor bei Stade in Niedersachsen, wo Peter erst die Volksschule, dann das Gymnasium besuchte. Über seinen jugendlichen „Widerstand“ gegen die Nazis hat er sich in seinen Erinnerungen ebenso ausgelassen wie über seine ersten schriftstellerischen Erfahrungen bei der Schülerzeitung Die Pestbeule. Nach dem Abitur nahm er 1951 das Studium – Pädagogik, Kunstgeschichte, später Germanistik – in Hamburg auf; geistige Orientierung verdankte er hauptsächlich Kurt Hiller, dem Gründer des Aktivismus und streitbaren Verfechter des Prinzips „Ratioaktiv“. Rühmkorfs Hauptinteresse galt vor allem Theater und Kabarett, der „neuen Studentenbühne“, dem „Arbeitskreis progressive Kunst“ und dem Kabarett Die Pestbeule, das er (zusammen mit Klaus Rainer Röhl) führte. Mit seinem Freund Werner Riegel gab er die Monatsschrift Zwischen den Kriegen und 1956 einen ersten Gedichtband (Heiße Lyrik) heraus. Er schrieb unter mehreren Pseudonymen; als „Leslie Meier“ (den er in einem eigenen „Selbstporträt“ vorstellte: „einer der allergeringsten, / Verlaust und verliebt und verrückter Gedanken voll“; „der sensible Hamburger Linksausleger“) veröffentlichte er eine regelmäßige Kolumne Lyrikschlachthof gegen die dominierenden Tendenzen der konservativen Lyrik der Adenauer-Zeit, des von Rühmkorf so genannten „Restauratoriums“. Die Faszination durch Benn unterlief er mit parodistischer Polemik gegen die Benn-Epigonen. Rühmkorf arbeitete am Studentenkurier mit, der ab 1958 unter dem Namen Konkret zu einem der wichtigsten politischen Blätter wurde. Als studentischer Delegierter reiste er nach China und Prag, ehe er 1957 – auch angeödet von der „Altherrengermanistik“ – das Studium aufgab. 1958-64 war er Lektor im Rowohlt-Verlag, wo auch sein erster größerer Gedichtband Irdisches Vergnügen in g erschien. Der Titel ist Programm: Er variiert einen Titel des Hamburger Aufklärers Brockes, ersetzt allerdings „Gott“ durch „g“ (die irdische Schwerkraft), bekennt sich zu Sinnlichkeit und Aufklärung, zur literarischen Tradition und zugleich zum poetischen Spiel. Während der Lektoratstätigkeit schrieb Rühmkorf eine Monographie über Wolfgang Borchert, die bald eine sechsstellige Auflage erreichte. (Der Autor demonstrierte später die Ausnutzung des Schreibers durch den Markt daran, daß er für diese Arbeit pauschal abgefunden wurde – bereits im frühen „Selbstporträt 1958“ hatte es geheißen: „Zu wahr, um schön zu sein: auch der Feingeist muß fressen“. Ein zweiter Gedichtband erschien 1962, wiederum unter einem programmatischen Titel: Kunststücke. Fünfzig Gedichte nebst einer Anleitung zum Widerspruch. Diese Gedichte und eine Fülle von zeit- und literaturkritischen Essays machten ihn so bekannt, daß er es unternahm, als „freier“ Schriftsteller zu leben. Mehr als zwei Jahrzehnte lang war das ein äußerst mühseliges und wenig einträgliches Unterfangen. Rühmkorf selbst hat dafür wiederholt das Bild von der Doppelfigur des Dr. Jekyll und Mr. Hyde gebraucht: um diesem seine brotlose Kunst und sein Hobby des Gedichteschreibens zu ermöglichen, müsse jener als Prosaschreiber, Feuilletonist, Kritiker arbeiten, müsse als Vortragskünstler durch die Lande ziehen wie weiland Walther von der Vogelweide. Konkret hieß das zum Beispiel: 1964/65 Stipendiat in der Villa Massimo in Rom, Gastdozenturen in Austin/Texas und am Dartmouth College/Hanover, in Warwick/Großbritannien, in Frankfurt oder Paderborn; immer wieder Lesungen und Vorträge. Ehrenvolle Mitgliedschaften werden ihm angetragen, kleine und mittlere Literaturpreise, doch noch Mitte der siebziger Jahre, als Rühmkorf längst einer der berühmtesten deutschsprachigen Lyriker seiner Zeit war, hatte sich die von Beginn an vorhandene Kluft zwischen literarischem Ruhm und finanzieller Vergütung nicht geschlossen. Erst mit Auszeichnungen wie dem Arno-Schmidt-Preis 1986 und dem Georg-Büchner-Preis 1993 tritt dieses drückende Problem und Leitmotiv vieler Reden zurück.
In über 40 Jahren schriftstellerischer Arbeit veröffentlichte Rühmkorf etwa ebenso viele Bücher. In den ersten Jahren als „freier“ Schriftsteller schrieb er unzählige Feuilletons und Kritiken, gab verschiedene Sammlungen und Editionen heraus; der „poetische Hauptertrag“ waren drei Schauspiele: Was heißt hier Volsinii? Bewegte Szenen aus dem klassischen Wirtschaftsleben (1969), Lombard gibt den Letzten (1972) sowie Die Handwerker kommen. Ein Familiendrama (1974). Die Stücke behandeln aktuelle, wenn auch wenig gängige Themen (wie die Bedeutung der Wirtschaft); sie weisen prägnante Szenen auf, pointenreiche Dialoge voller Wortwitz – aber sie fanden selten den Weg auf die Bühne, reizten Regisseure wenig, so daß das Publikum kaum die Chance erhielt zu prüfen, ob die (teilweise) gut lesbaren Texte auch gut spielbar sind. Die Theaterarbeit fällt in die auffällige (fast vollständige) lyrische Pause von etwa einem Jahrzehnt, in der es „dem Autor offensichtlich die lyrische Stimme verschlagen hatte“, bis die Tagebuch-Aufzeichnungen zu einer Reflexion des bisherigen Schriftsteller-Weges führten, zur Bekräftigung der Absage und damit – wie eingangs gezeigt – beginnend mit „Druse“ paradoxerweise zu ihrem Widerruf durch deren Form und Formulierung. Diese „Wiedergeburt der Poesie aus dem Geist des Tagebuchs“ führte bald (wieder) zu einer kontinuierlichen Lyrikproduktion, die freilich nie üppig oder rasch ausfällt – die Anforderungen des Künstlers an sich selbst werden immer strenger −, so daß Zahl und Umfang der Gedichtbände überschaubar bleiben, zumal diese meistens durch Feuilletons, Kritiken, Offene Briefe auf (ein verkäufliches) Buchformat gebracht wurden. Den Gesammelten Gedichten (1976) folgten Haltbar bis Ende 1999 (1979), Bleib erschütterbar und widersteh (1984), Außer der Liebe nichts. Liebesgedichte (1986), schließlich Einmalig wie wir alle (1989) und Laß leuchten! (1993).
Als poeta doctus hat Rühmkorf seinen Kunstbegriff in zahlreichen Essays differenziert und mit der Begrifflichkeit der avancierten Theoriediskussion entwickelt. In einer Reihe von Gedichten wird das Komplexe in ein Bild gefaßt und pointiert. So heißt es im Titelgedicht der Kleinen Fleckenkunde (1982):

Die Kunst ist auch nur ein Naturgewächs
− − − mit Tricks.

Gegen die berühmte Arno Holz’sche Kunstformel des Naturalismus: „Kunst = Natur – x“ setzt Peter Rühmkorf gleichsam die Gegenformel: Kunst = Natur + Tricks. Zu den Kennzeichen solcher anti-naturalistischen Ästhetik gehören: das Dominieren der Phantasie über die Realitätsnachzeichnung, Artistik und Spiel, die Verbindung des Heterogenen, von Tragik und Komik, von Erhabenem und Lächerlichem, von Pathos und Schnoddrigkeit. Heinrich Heine, einer der Lieblingsdichter Rühmkorfs, hat dieses Prinzip seiner Ästhetik einmal in den angeblichen Napoleon-Satz zusammengefaßt:

Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas.

1981 erschienen Rühmkorfs Frankfurter Poetik-Vorlesungen agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven. Der Haupttitel zeigt Alliteration, Buchstaben- und Silben-Verdoppelung als Grundelemente der Kunst und des Reims. Rühmkorf spürte ihnen bereits in den sechziger Jahren nach, sowohl den Ursprüngen in Zauberspruch, Beschwörung und Gebet als auch ihren heutigen Formen im Kinderlied, im Abzählvers, im parodierten Werbespruch, kurz: in dem von ihm so genannten „Volksvermögen“. Verdoppelungen, Alliterationen, Palindrome, Wortspiele, Reime sind die Anfängerübungen des Wortkünstlers, es sind die einfachsten der „Tricks“, die Kunst über die Natur hinaushebt. „Trickesoteriker“ – so lautet eine der Bezeichnungen, mit denen Rühmkorf den Poeten in dem Gedicht „Schnellimbiß“ belegt, und er fügt erläuternd hinzu:

Also mit anderen Worten Artist.

Diese Berufsbezeichnung führt in den Kern der Rühmkorfschen Ästhetik und seines Selbstverständnisses. Bereits in den frühen Gedichten der fünfziger Jahre ist sie zu finden. Zu den virtuosen „Kunststücken“ des Artisten gehört von Beginn an die Aneignung der literarischen Tradition in einem Verfahren, das mit dem Begriff „Parodie“ nur deswegen nicht völlig unzulänglich bezeichnet ist, weil Rühmkorf ihm einen neuen Sinn gegeben, ihn zum „kritischen Sondierungsverfahren“, zur liebevoll-kritischen Wiederbelebung alter Texte entwickelt hat. Von Walther von der Vogelweide über Klopstock, Claudius, Eichendorff und Heine bis Benn reicht die Spannweite. Ganze Gedichte werden zur Kontrafaktur benutzt („Variation auf ,Abendlied‘ von Matthias Claudius“), häufiger noch einzelne Zeilen oder Bilder zitiert, leicht variiert, dadurch neu gelesen, verlebendigt – lange Zeit, bevor die Literaturwissenschaft von „Intertextualität“ sprach, hatte Rühmkorf dieses Verfahren bereits virtuos zu einem Höhepunkt geführt.
In einem dieser „Kunststücke“ von 1962 findet sich das Bekenntnis des Dichter-Ichs:

Ich habe gute Weile,
der Platz auf meinem Seile
wird immer uneinnehmbar sein.

Der Platz auf dem Seil wird zur Leitmetapher des Poeten-Daseins: Es ist das Hochseil, auf dem der Artist seine Kunststücke vorführt. Das Seil ist zwar uneinnehmbar, aber die Hochseilnummer ist zugleich eine Risikoveranstaltung. Mitte der siebziger Jahre, nach den Aktionen und Wirren eines politischen Jahrzehnts, nach der vollmundigen Grabrede, die einige seiner politischen Weggefährten auf die Literatur, insbesondere auf die Lyrik hielten, die keine unmittelbaren gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt, griff Rühmkorf demonstrativ sein altes Bild vom Zirkus-Artisten und Seiltänzer auf („Hochseil“). Allerdings bietet der Arbeitsplatz in den Lüften nicht nur Schutz vor Attacken, die Distanz prägt auch die Einstellung des Artisten zum Publikum und vor allem dessen Sichtweise des Artisten und seiner Kunst:

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier
v i e r f ü ß i g  – vierzigzehig.
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Der Lyriker macht sich – bei aller Ironie – keinerlei Illusionen darüber, wie über sein Tun gedacht wird. Und schließlich: Er weiß auch, wie gefährlich er lebt. Das Gedicht endet mit der Strophe:

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Es geht hier also auch um eine Veranstaltung auf Leben und Tod, der Artist kann straucheln, scheitern, abstürzen. Der hier genannte „Freund Heine“ hat die Existenz des Dichter-Artisten vorgelebt und vorgedichtet, er ist ein ständiger Bezugspunkt im literarhistorischen Beziehungsgeflecht Rühmkorfs. Artistik hat es mit „Tricks“ zu tun, ihr Ziel ist Perfektion. Selbstverständlich braucht der Artist Talent, Begabung. Aber Rühmkorf betont, daß auch in diesem Metier gelte: Der kreative Funke ist der Ausgangspunkt, was dann folgt ist eine Feil- und Feinarbeit von Wochen, ja oft Monaten. Da solche Äußerungen nicht nur von denen „ganz unten am Boden“ als übertrieben empfunden und allenfalls bildlich verstanden wurden, sondern auch von Kritikern und Freunden, hat Rühmkorf den Beweis dafür angetreten und 1989 ein Unikum in der Geschichte der Lyrik veröffentlicht: sämtliche Entwürfe, Änderungen, Fassungen eines einzigen Gedichts, des bereits erwähnten „Selbst III/88“, von den ersten Gedanken und Einfällen über viele tastende, experimentierende Zwischenstationen bis zu der Endfassung – alles in allem 730 faksimilierte Seiten.
Das Bild vom Hochseilartisten besitzt allerdings noch eine weitere Dimension. Die zentrale Aufgabe des Seiltänzers ist es, das Gleichgewicht zu halten. Die Vorstellung der Gleichheit verweist auf den politischen Kontext der Artisten-Poetik. Einmalig wie wir alle – der Titel des Gedichtbandes (1989) ist ein Bekenntnis zur Einmaligkeit eines jeden Menschen, damit zum Individuum und zur Individualität. Diese Überzeugung führte bereits im 18. Jahrhundert zur politischen Forderung nach Gleichheit, in der Französischen Revolution zum Grundrecht der „egalite“. In einer autobiographischen Skizze führte Rühmkorf sein ausgeprägtes Interesse für Gleichheitsfragen auf die sozial schwierige Jugend eines „nicht von Haus aus Gleichgestellten“ zurück; so habe er „Liberte nicht ohne Egalite“ denken können. Das politische Engagement läßt sich bei Rühmkorf von Beginn an vom poetischen Werk nicht trennen. Dabei gab es stets eine gewisse Aufgabenteilung: das direkte politische Wort ist vor allem die Sache der Rede, des Essays, der Streitschrift, des Offenen Briefes, kurz: der aufklärerischen Prosa; die Lyrik hingegen, geprägt von Lauten, Rhythmen, Reimen, ist häufig vitalistisch, gelegentlich anarchistisch, selbst im „Zeitgedicht“ dominiert das politische Glaubensbekenntnis oder Dogma nicht über den poetischen Ausdruck.
Zwei Seiten eines Autors, aber eben doch auch: eines Autors. Denn trotz allem gehört beides zusammen und durchdringt einander. Die politische Rede gewinnt ihre Schlagkraft und Prägnanz aus den treffenden Wörtern und Bildern, das virtuose Gedicht erhält seine Substanz von der gedanklichen Fundierung, die häufig politisch genannt werden kann – in der Frühzeit häufiger als später auch in tagespolitischer Zuspitzung. Wie Rühmkorf die Grundelemente seiner Artisten-Poesie – Verdoppelung und Reim – mit politischem Sinn und Hintersinn verbindet, zeigt sich zum Beispiel an einer Reihe von Deutschland-Gedichten. Der Name des Landes, verdoppelt, zitiert zugleich den Beginn von Hoffmanns von Fallersleben „Lied der Deutschen“ und dessen Rolle als Nationalhymne. In Rühmkorfs Gedicht „Hymne“ (1959) heißt es:

Ihr Jecke, das ist, was einem in Deutschland das Hirn an
die Decke treibt […]

Deutschland1, Deutschland2

Eine Fußnote vermerkt bei dem ersten „Deutschland“: „BRD“, bei dem zweiten: „DDR“. Die Nationalhymne, die emphatisch-stolz „Deutschland“ verdoppelte, nimmt (so Rühmkorfs Pointe) in tragischer Ironie die deutsche Verdoppelung in der Spaltung vorweg.
Zwei Jahrzehnte später zeigt Rühmkorf, vor dem Hintergrund des wachsenden Neonazismus, in verschärfter Weise die Verführbarkeit durch das eingängige Sprachspiel. Es läßt sich eben nicht-nur das A kindlich-spielerisch verdoppeln, sondern auch das S; und das verdoppelte Deutschland kann auch auf die nationalistische Wirkungsgeschichte der ersten Liedstrophe Hoffmanns von Fallersleben verweisen.

Deutsche Zauberstrophen (1980)

Ich weiß nur, Lieber, was du selber weißt
(nicht hin-, nicht hört!)
Ich weiß nur, was du weißt:
daß man es besser nicht mit Widerworten stört
was Deutschland-Deutschland heißt.

Ich seh im Schlaf was Schwarzes wie SS
− sie suchen uns −
(Ich seh im Schlaf was Schwarzes wie SS)
Da ist das Bellen des
Da ist das Bellen des
Revolvers und des deutschen Schäferhunds −

Rühmkorf demonstriert hier beide Möglichkeiten der Verdoppelung und Alliteration: Verführung, aber auch Aufklärung durch die Überbetonung des Stilmittels, dessen Wirkungsweise dem Leser vorgeführt wird.
Melancholie prägt notwendig ein Werk, das vom Scheitern so vieler Ideale berichten muß, verstärkt, wenn Altersgedanken hinzutreten. Aber im Gegensatz zu vielen seiner Alters- und Erfahrungsgenossen wird diese Haltung bei Rühmkorf nie dauerhaft zu Pessimismus. Das Scheitern von politischen Hoffnungen – des Sozialismus, einer Einheit von (und in) Freiheit und Gleichheit – führt nicht zu Resignation und Rückzug. Die Hoffnung auf die Kunst, mehr: die Überzeugung von der Kraft der Utopie gilt für Rühmkorf auch, nachdem dieser Begriff und das ihm zugrundeliegende Denken längst seine modischen Mitläufer wieder verloren hat, von Realisten und Pragmatikern (wieder) belächelt, ja verspottet wird. Solche Überzeugung nimmt ihre Gewißheit und den Mut zur Unpopularität aus der Auffassung des Gedichts: es ist für Rühmkorf der utopische Ort, in dem sich die in der ,Wirklichkeit‘ längst verlorengegangene Einheit des Ichs konstituiert. Das Gedicht ist „ein utopischer Raum“ – so schrieb Rühmkorf in seiner „Einfallskunde“ 1979 –, „in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten ,wirklichen Welt‘“. Utopie ist hier also nicht als Inhalt, als Ziel, als Wunschvorstellung verstanden, sondern als Ort und Augenblick von Kunst. Wenn der utopische Lyrik-Ort mit einem Begriff verbunden wird, dann lautet er am ehesten: Liebe. „Außer der Liebe nichts“, so war bereits 1962 ein Gedicht überschrieben – Außer der Liebe nichts hieß der Titel eines Sammelbandes Liebesgedichte 1986. Daß Anarchie, Wortlust und Liebe eine enge Einheit bilden, zeigen Rühmkorfs Gedichte immer wieder. Eines seiner letzten, „PAR AVION – express“ fragt: „wie weit geht Lieb?“ und antwortet mit dem Hinweis auf utopische, mythische und fantastische Orte:

DIE GROSSE GÖTTIN segnet die Geschenke, die
man nicht erklären muß.

Nur wild bewundern kann,
wie Avalun, Kythera, Lotosland, Loch Ness −
Da hört die Wahrheit auf und fängt die Liebe an:
PAR AVION – express

Politik und Liebe, Sozialismus und Anarchie, Tagespolemik und Utopie, Revolution und Romantik – „In meinen Kopf passen viele Widersprüche“ heißt ein Rühmkorfscher Essaytitel (Strömungslehre 1).
Der „rote Romantiker“ Rühmkorf – so eine Selbstcharakterisierung – zeigt sich außer in vielen Gedichten und in der Sammlung Über das Volksvermögen vor allem in seinen köstlichen Märchen, die unter dem anregenden Titel Der Hüter des Misthaufens 1983 erschienen sind. „Aufgeklärte Märchen“ verspricht der Untertitel und das Motto kündigt Ziel und Zweck des Unternehmens an: „In dubio pro publico“. (Auch noch der steifen Rechtsformel gewinnt Rühmkorf eine Variante, eine Rhythmisierung, einen dreifachen Reim ab.) „Im Zweifel für das Publikum“, kann man übersetzen, das wäre die literarische Version; „im Zweifel für die Öffentlichkeit“, lautet die etwas politischere Lesart, die deutlich macht, daß die Republik die res publica, die öffentliche Angelegenheit, ist. Der „rote Romantiker“ fühlt sich also zugleich der Aufklärung wie der Öffentlichkeit und der Republik verpflichtet. Und das eben nicht nur als Staatsbürger oder Redner, sondern auch als Märchenerzähler und als Lyriker:

Meine Gedichte sind öffentliche Gedichte, deshalb habe ich auch mit ihnen auf die Straße gehen können und sie im Zusammenhang mit Jazzmusik vorgetragen. Es sind öffentliche Gedichte von ihrem ganzen Gestus her. Sie wenden sich an jemanden. […] Gedichte sind keine Verschlußsachen.

Wie alle wesentlichen Motive des Werkes – Liebe, Alter, Reise, Artistik – werden auch diese – Kunst und Öffentlichkeit, Poesie und Politik – in dem erwähnten letzten „Selbstporträt III/88“ aufgegriffen. Der Artist, der mit seinen Gedichten durchs Land reist, spannt sein Hochseil überall, genauer (das Entstehungsjahr ist 1988): in der ganzen Bundesrepublik. Im Gedicht treffen wir allerdings nicht auf diesen Begriff, es heißt vielmehr: „die halbe Republik“. Was hier spielerisch klingt, hat natürlich einen ernsten Unter- und Hintergrund. Wieder wird das Thema der Hymne aufgegriffen, die in den Deutschen Zauberstrophen begründete weitere Einmischung („ich kann nicht lassen ab von diesem Land…“) wahr gemacht. Dem politischen Defizit der geteilten Republik setzt der Autor hier jedoch einen poetischen Mehrwert entgegen: „eine vollkommen neue Republik“. Es ist eine Republik, in der die Städte und Dörfer rhythmisiert werden, sich zu Drei- und Siebenklängen, alliterierend und binnenreimend ordnen. Der Begriff der „Kulturnation“ ist selten anschaulicher, bildkräftiger dargestellt worden als hier.
Das Gedicht „Selbst III/88“ zeigt damit, daß und wie auch noch heute bei Rühmkorf Artistik und Politik zusammenhängen. Ebenso wie es in den fünfziger und sechziger Jahren kurzsichtig war, hinter dem spottlustigen Parteigänger der Linken den Sprachkünstler zu übersehen, ist es einseitig, seit den achtziger Jahren – rühmend oder bedauernd – zu konstatieren, das Virtuosentum Rühmkorfs wende sich mehr und mehr den unpolitischen, allgemeinmenschlichen Themen – Liebe, Vergänglichkeit, Tod – zu. Nur solche Vereinfacher konnten überrascht sein, daß Rühmkorf als Büchner-Preis-Redner 1993 seine eigenen Gedanken zum Verhältnis von gescheiterter Revolution und Poesie einerseits, zum deutschen Vereinigungsprozeß andererseits entwickelte, changierend zwischen Melancholie und Ironie, lyrischer Zartheit und beißender Polemik.
Anfang 1972 schrieb Rühmkorf:

Habe viele Schlachten, aber nie meine Identität verloren. Wußte vermutlich auch nie recht, was das eigentlich ist.

Den ersten Satz könnte Rühmkorf auch über zwei Jahrzehnte später mit gutem Recht wiederholen, kaum hingegen den zweiten. Zumindest hat er seither immer wieder versucht, das eigene Selbst zu porträtieren und zu analysieren, seine Ziele in Leben und Schreiben zu erfassen und zu formulieren. Wo dies gelang, wurden Gedichtzeilen zu Programmen und zu Aphorismen zugleich, von „Bleib erschütterbar und widersteh“ bis „Einmalig wie wir alle“.

Hartmut Steinecke, aus: Hartmut Steinecke: Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, Erich Schmidt Verlag, 1994

Peter Rühmkorf, der Prediger mit der Schiebermütze

− Laudatio zur Verleihung des Erich-Kästner-Preises 1979. −

Gegen Ende seines autobiographischen Buches Die Jahre die Ihr kennt spricht der Dichter Peter Rühmkorf ein großes Wort gelassen aus. Er verkündet klipp und klar: „Habe viele Schlachten, aber nie meine Identität verloren.“ Mag sein, doch wie ließe sich diese seine Identität umschreiben, wie könnte man sie definieren?
Auf der Suche nach einer Antwort lesen wir weiter – und werden sogleich bitter enttäuscht. Denn der nächste Satz lautet:

Wußte vermutlich auch nie recht, was das eigentlich ist.

Und da haben wir schon die ganze Bescherung: Der Frage nach der ihm nie abhanden gekommenen Identität entzieht sich Rühmkorf mit einer flinken Volte. Er verweigert jegliche Auskunft, offenbar möchte er sich nicht festlegen. Vielleicht folgt er hier dem listigen Brecht, der einst seinen Interpreten warnend zurief:

Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.

Was tun? Peter Rühmkorf hat gut reden, er kann im entscheidenden Augenblick lächelnd schweigen. Aber ich, ihn zu rühmen bestellt, darf der heiklen Frage nicht ausweichen. Schließlich feiert man einen Poeten, indem man sein Werk erklärt, indem man seine Eigenart verdeutlicht und seine Einmaligkeit, eben seine Identität bewußt macht. „Ein saures Amt, und heut’ zumal“ – pflegt unser ehrenwerter Kollege Beckmesser zu klagen. Indes wollen wir nicht übertreiben: Die Aufgabe trifft den Kritiker doch nicht unvorbereitet. An erprobten Hilfsmitteln und Requisiten, Werkzeugen und Instrumenten mangelt es uns nicht: Da gibt es Rahmen und Sockel in bewährter Qualität, da haben wir handliche Schablonen und nützliche Etikette, da bieten sich wie von selbst allerlei Vergleiche und Parallelen an. Alles, was wir brauchen können, um einen Dichter kenntlich zu machen, steht zu unserer Verfügung, bald wird er in dem ihm gebührenden Schubfach der Literaturgeschichte einen gepolsterten Platz erhalten – und sein Fall ist erledigt.
Aber, ach, die Rechnung geht nicht auf. Mit dem Rühmkorf hat man Kummer. Denn er fällt aus dem Rahmen. Auf dem vorhandenen Sockel läßt sich der Ungebärdige nicht unterbringen. Mit den Schablonen ist ihm überhaupt nicht beizukommen. Die meisten Vergleiche hinken, und die Parallelen ergeben nicht viel. In keines der literarhistorischen Schubfächer will Rühmkorf hineinpassen, sein Werk leistet jenen, die es klassifizieren oder gar etikettieren möchten, hartnäckigen Widerstand. Fragt sich nur, ob das gegen oder vielleicht für dieses Werk spricht? Natürlich, einiges läßt sich schon über ihn, über seine Lyrik und seine Prosa sagen. Doch bald erlebt man eine ärgerliche Überraschung: Es stellt sich nämlich heraus, daß allzu oft das Gcgenteil von dem, was man in Sachen Rühmkorf für richtig und treffend hält, ebenfalls gar nicht falsch scheint.
Ein plebejischer Poet ist er, ein handfester Spaßmacher, ein Repräsentant und Verwalter des literarischen Untergrunds, ein Dichter der Gasse und der Masse, einer, der die Lyrik auf den Markt gebracht hat. Das alles kann als sicher gelten. Nur: Er ist zugleich ein feinsinniger Ästhet, ein raffinierter Schöngeist, ein exquisiter Ironiker. Gehört er denn nicht auch zu jenen, die im Elfenbeinturm der zeitgenössischen Poesie ein Dauerquartier haben, und dies mit gutem Grund? Er schämt sich nicht, das Drastische, das Vulgäre zu goutieren und zu schätzen. Und er zögert nicht, das Distinguierte, das Elitäre zu bewundern und zu lieben. In seinen Versen finden Schlager, Gassenhauer und Kinderreime ein unmittelbares Echo, hier wimmelt es von Kalauern, Reklamesprüchen und Latrinenscherzen. Aber in seinen kühnen poetischen Paraphrasen und Variationen feiern auch ganz andere Töne Urständ – die Oden Klopstocks und die Lieder des Matthias Claudius, die Hymnen Hölderlins und die Weisen Eichendorffs.
Er, der rote Rühmkorf – so nennt er sich gelegentlich selber – plädiert unermüdlich für das Diesseitige, das Transzendente geht ihn nichts an. Wer will, kann ihn als einen materialistischen Poeten bezeichnen, was immer dies bedeuten mag. Aber Hans Magnus Enzensberger, sein geistiger Bruder oder doch zumindest sein Cousin, der es doch wissen müßte, hält ihn für einen „metaphysisehen Dichter“ – und Enzensberger, meine ich, hat Recht. Wie sollen wir dies alles verstehen? Hätten wir es etwa mit einem Hans Dampf in allen Gassen der Literatur zu tun, mit einem, der heute dies und morgen das schreibt und uns am Ende, gleichsam ein moderner Eulenspiegel, allesamt lachend zum besten hält? Eine solche Vermutung liegt nahe und wäre doch abwegig. Zugegeben, dieser Rühmkorf ist nie ganz seriös – und immer sehr ernst. Sein Werk zeugt von erstaunlicher Konsequenz, ohne sich je der Prinzipienreiterei auch nur zu nähern. Es ist von verblüffender Einheitlichkeit, ohne sich je Einseitigkeit zuschulden kommen zu lassen.
Dem Widerspruch gilt Rühmkorfs Leidenschaft, der Widerspruch ist sein eigentliches Element, die Antinomie erweist sich als die Wurzel und der Grundzug seines Dichtens. Wenn seine so unterschiedlichen Bücher ein gemeinsames, ein dauerhaftes Fundament haben, dann ist es weder eine Idee noch eine Philosophie, weder eine Doktrin noch eine Ideologie; vielmehr ist es – und manche seiner Gesinnungsgenossen bedauern dies – nicht mehr und nicht weniger als sein widerspruchsvoll-militantes, sein spannungsvoll-ambivalentes Verhältnis zum Leben, zur Welt.
Gewiß doch, Rühmkorf ist ein entschiedener Rationalist und ein erklärter Materialist. Aber eben einer, der die Existenz des Irrationalen nicht ignoriert und der seine stille Sehnsucht nach dem Metaphysischen nicht verheimlicht. Er ist, könnte man sagen, ein diskreter Metaphysiker. Aber eben einer, der nicht müde wird, an Materielles zu erinnern und auf Materialistisches zu verweisen. Von der Antithese kommen ebenso seine Literaturbetrachtung wie seine Lyrik. Aber ihr Ziel ist stets die Synthese: „Zeitiger lerne Traum und Bündel zu schnüren“ – forderte schon der junge Rühmkorf. In seinen Versen konfrontiert und vereint er die Vision des Ungewöhnlichen und Unbegreiflichen mit dem Bild des Gewöhnlichen und Irdischen, mit der Realität unserer alltäglichen Umwelt. „Seine Existenz reicht vom Sirius bis zum Absatz, dem schiefen“ – hören wir von Leslie Meier, Rühmkorfs anderem Ich. Und seinem verführerischen Feinsliebchen macht er das reizvolle Angebot:

Ich teil mit dir den Dosenfisch
und Berenikes Haar!

Doch wer die Einheit von Traum und Bündel, von Vision und Realität im Sinne hat, der kann der Resignation schwerlich entgehen und auch nicht der Melancholie, und Schutz und Zuflucht sucht er, wie eh und je, bei Trotz und Übermut. Rühmkorf deklariert seine Dichtung als „Überlebenskunst“, er singt, eigener Aussage zufolge, das „Vorüberlied und Dennochlied in einem“. Allerdings lautet sein Befund:

Zum Gaukler fehlt mir die Handvoll Glück,
Zum Jeremias die Weitsicht.

Nein, das stimmt nicht ganz. Denn ob mit oder ohne Glück – er ist ein elegischer, ein bisweilen mißvergnügter Gaukler, der Spott mit Grazie zu verbinden weiß. Und ob mit oder ohne Weitsicht – er ist ein volkstümlicher, ein oft sarkastischer Jeremias, freilich einer, der unfeierliche, der kesse Töne bevorzugt. Er ist ein Prediger mit der Schiebermütze, ein Priester mit der Narrenkappe, ein kleiner, munterer Prophet und ein großer, würdiger Schalk, ein Buhrufer und Poet dazu.
Doch ähnlich wie seine Generationsgenossen Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger hat auch Rühmkorf nichts mit jenen deutschen Autoren gemein, die singen, weil sie nicht denken können, die dichten müssen, weil ihnen das Schreiben unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Gerade beim Volk der Dichter und Denker ist ja oft die Ansicht verbreitet, man könne entweder Dichter oder Denker, doch schwerlich beides zugleich sein.
Rühmkorf sieht in dem angeblichen Gegensatz zwischen Poesie und Intellektualität stets nur eine Herausforderung; die es in der Praxis zu widerlegen gilt. Was er seit vielen Jahren beharrlich anstrebt, nennt er selber die „Wiedergeburt der Unschuld aus dem Geiste der Reflexion“. Unmißverständlich stellt er die Frage, die gleichsam das Motto aller seiner literarischen Bemühungen ist:

Wie kreuze ich Reflexion und eingeborene Sangeslust, wie vereinige ich den Trieb zu Trällern und den Zwang zum Denken so, daß beide Tendenzen sich voll entfalten und schließlich ein organisches Ganzes entsteht?

Wieder also läßt sich Rühmkorf von einer Antithese oder, richtiger gesagt, von einer scheinbaren Antithese provozieren, um eine Synthese zu verwirklichen. Der einheitliche, der organische Charakter seines Œuvres hat hier seine tiefste Ursache und Motivation: Rühmkorf ist ein intellektueller Lyriker und ein lyrischer Essayist. Mit anderen Worten: Dieser Poet ist immer ein Kritiker, dieser Kritiker stets ein Poet. Und beide, der dichtende Kritiker und der kritische Dichter, sind Aufklärer und Lehrmeister. Nur daß der Aufklärer es hier und da für opportun hält, sich als Bruder Leichtfuß zu tarnen und daß der Lehrmeister keine Hemmungen hat, bisweilen, wenn die Sache es will, den Hanswurst zu spielen.
Als lachender Aufklärer, als heiterer Pädagoge hat sich auch jener verstanden, in dessen Namen Peter Rühmkorf heute ausgezeichnet wird: Erich Kästner. Was verbindet die beiden, was trennt sie? In Kästners Kurzgefaßtem Lebenslauf aus dem Jahre 1930 heißt es:

Ich setzte mich sehr gerne zwischen Stühle.
Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen.
Ich gehe durch die Gärten der Gefühle,
die tot sind, und bepflanze sie mit Witzen.

Auch für Rühmkorfs Dichtung gilt Kästners Titel „Gesang zwischen den Stühlen“, auch Rühmkorf liebt es, an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, auch er befaßt sich immer wieder – um einen anderen Kästner-Titel zu verwenden – mit dem „täglichen Kram“.
Auch Rühmkorf kann – wie Kästner – als ein Moralist ohne Illusionen gelten. Trotzdem läßt gerade das Stichwort „Illusionen“ den Abstand zwischen den beiden Generationen erkennbar werden: zwischen jener um 1900 geborenen und der dreißig Jahre jüngeren.
Kästner meinte zwar, der angestammte Platz des Moralisten sei und bleibe der verlorene Posten. Aber seine milde Resignation war nicht frei von Koketterie. Denn in Wirklichkeit wollte er nicht aufhören zu hoffen und zu glauben, daß die Menschen besser werden könnten, „wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht“? Die Erziehbarkeit des Menschen war Kästners Arbeitshypothese.
Er schrieb viele düstere oder zumindest scheinbar düstere Gedichte, er war vielleicht ein Pessimist – doch im Grunde der hoffnungsvollste, den es in Deutschland damals gab. Er war ein Negationsrat, doch der positivste, den die deutsche Literatur jener Jahre hatte. Kästners Gedicht „Brief an meinen Sohn“ enthält eines seiner fundamentalen Bekenntnisse:

Ich will nicht reden, wie die Dinge liegen.
Ich will dir zeigen, wie die Sache steht.
Denn die Vernunft muß ganz von selber siegen.

Aber nichts siegt auf dieser Erde von selber, am wenigsten die Vernunft. Wie schrecklich Kästners liebenswerter, wohl etwas treuherziger Irrtum war, das bedarf keines Kommentars. Es genügt, auf das Entstehungsdatum des Gedichts „Brief an meinen Sohn“ hinzuweisen. Es stammt aus dem Jahr 1932. Und weil Erich Kästner, der leisen Melancholie und der lauten Realität zum Trotz, vom künftigen Triumph der Vernunft überzeugt war, konnte er den Lesern jene unvergeßliche „Lyrische Hausapotheke“ liefern, die vornehmlich der „Therapie des Privatlebens“ dienen sollte.
Den deutschen Dichtern der Generation Rühmkorfs fehlt dieser unerschütterliche Glaube Erich Kästners an den gesunden Menschenverstand. Anders als ihm fällt es ihnen schwer, der moralischen Wirkung der Ordnung zu vertrauen und der ethischen Kraft der Vernunft sicher zu sein. Daher sind sie weder imstande noch gewillt, lyrische Hausapotheken zu produzieren. Die vielen Trostpflaster, Linderungssalben und Beruhigungsmittel, die Kästner in allerbester Qualität offerierte, wird man in den Gedichten Rühmkorfs vergeblich suchen. Er besänftigt nicht, er stört auf: Durch seine Verse werden Wunden nicht geheilt, sondern aufgerissen. Nicht Trost hat er zu bieten, sondern den Aufruf zum Widerstand:

Wer geduckt steht, will auch andre biegen.
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles was gefürchtet wird, wird wahr!)
Bleib erschütterbar.
Bleib erschütterbar – doch widersteh.

Übrigens ist für unser literarisches Leben immer noch jener Zorn charakteristisch, der seinen Mann ganz gut ernährt: Wer protestiert, der profitiert, wer rebelliert, der reüssiert. In der bundesdeutschen Literatur gibt es deshalb mehr Provokateure als Schriftsteller. Von jenen unserer Autoren, die sich morgens an den Schreibtisch mit dem festen Entschluß setzen, bis zum Mittagessen sehr zornig zu sein, will Rühmkorf nichts wissen. Er verpönt die branchenübliche, die überall feilgehaltene Entrüstung. Sein Aufruf zum Widerstand folgt nicht einer Mode, auch wenn er – was wir ihm nicht anlasten wollen – eine Mode bewirkt hat. Seine Empörung ist eine Antwort auf unsere Welt, seine Wut hat mit seiner Empfindlichkeit zu tun, sein Protest entspringt seiner Fähigkeit, die Gegenwart zu erleiden.
Aber es genügt nicht, die Gegenwart zu erleiden, man muß noch das Erlittene vergegenwärtigen. Rühmkorfs Anschauungen über die Aufgabe der Literatur, über ihre Möglichkeiten und Grenzen, lassen abermals seine so sympathische wie unveränderbare Vorliebe für die Ambivalenz erkennen. Selbstverständlich ist er ein politisch engagierter Poet. Aber er mißtraut dem politischen Engagement der Poesie. Natürlich ist er ein experimentierender Dichter. Aber das Experimentelle in der Dichtung scheint ihm dubios. Hinter diesen Widersprüchen verbirgt sich die Logik eines Künstlers, der weder an das Engagement ohne Experiment glaubt noch an das Experiment ohne Engagement, der meint, daß „totale Dienstbarkeit und absolut gesetzte Liberalität gleich tödlich für das Wesen der Kunst“ seien.
Allen, die ihn für ihre Zwecke mißbrauchen wollen, erteilt er in seinem „Mailied“ eine höhnische Abfuhr: „bin weder so-, noch sorum abzurichten“. Hier ruft er der „jungen Genossin“ belehrend zu:

Gestern Kommunist – morgen Kommunist,
aber doch nicht jetzt,
beim Dichten?!

Er fragt:

Kunst als Waffe?

Und antwortet entsetzt:

Da sei Majakowskij vor!

Wie alle guten Dichter hat auch Rühmkorf schwache Verse geschrieben – nur schlechte Lyriker können ihr Niveau immer halten −, doch hat er nie die Dichtung zur Magd der Politik degradiert. Er hat an vielen Demonstrationen teilgenommen, ohne je seine Individualität zu verbergen. Er ist in vielen Kolonnen mitmarschiert, ohne je seine besondere Gangart zu verleugnen. Wohin ihn allerlei Wege und Irrwege im Laufe der Zeit auch führten – von seiner „Fahne aus Hauch und Traum“ trennte er sich nie. Er blieb – um den Titel eines frühen Rühmkorf-Gedichts zu zitieren – „im Vollbesitz seiner Zweifel“.
Er dichtet „so links wie nötig und so hoch wie möglich“, dort sucht er einen Platz für seine Poesie. Die Welt verändern? Das ist, wir wissen es, ein ganz großer Spaß, ein einzigartiges Vergnügen, zumal für die Kinder der Wohlstandsgesellschaft. Darauf verzichtet keiner so schnell. Doch die Siegesgewißheit der Revolutionäre kennt der Autor Rühmkorf nicht, seine Rebellion ist von anderer Art: Ein Spieler, der das Risiko liebt, stellt er unsere Gesellschaft und sich selbst immer wieder in Frage. Und doch scheut er sich nicht, aufrichtig und trotzig zu gestehen:

…….. eigentlich
bin ich nur auf die Welt gekommen,
um der Schöpfung mal ein bißchen unter die
Röcke zu kucken.

„Wildernd im Ungewissen“ – auch dies der Titel eines seiner Gedichte – schreibt er Verse wider den Strich, singt er das Hohelied des Ungehorsams. Doch wer von ihm eine optimistische Zukunftsvision erwartet, wird nicht auf seine Rechnung kommen. „Graziös in Lebensgefahr grad zwischen Freund Hein und Freund Heine“ schwebend, eignet er sich weder als Trommler noch als Bannerschwinger.
Zwei Seelen wohnen, ach! in seiner Brust: Er ist ein militanter Aufklärer und ein verspielter Artist, ein Sachwalter heller Vernunft und ein Sänger dunkler Leidenschaft. Er läßt sich vom rationalistischen Kampfgeist beflügeln und zugleich zeigt er uns – mit einem heitern, einem nassen Aug’ – dessen Grenze. Aber wenn wir alles mit der Ratio erfassen könnten, wozu bräuchten wir dann die unzuverlässigsten aller Kantonisten, die Dichter?
Peter Rühmkorf, der zwar viele Schlachten, doch nie seine Identität verloren hat, beendet sein autobiographisches Buch mit der Beschreibung eines Spaziergangs an der Elbe. Er, der gewohnt ist, das Elegische mit dem Kaltschnäuzigen zu relativieren und jeden Anflug von Sentimentalität hinter Spott und Ironie zu verbergen – hier leistet er sich einmal einen Gefühlsausbruch ohne Rückversicherung, hier wird er wehmütig. Gar nicht schnoddrig, sondern eher gerührt und etwas verschämt fragt er sich und uns: „Könnte man da nicht fast zum Heimatautor werden? Fast ein Heimatautor – das ist er vielleicht auch, wenn wir diese Vokabel richtig verstehen. Rühmkorfs Heimat ist die Welt zwischen der Nordsee und der Lüneburger Heide, seine Heimat reicht von den Merseburger Zaubersprüchen bis zu den Buckower Elegien, von Walther von der Vogelweide bis zu Gottfried Benn. Nichts Poetisches ist ihm fremd.
So ist Peter Rühmkorf immer auf der Suche nach einer schönen, einer verlockenden Blume. Ihre Umrisse verschwimmen in weiter Ferne, nicht einmal ihre Farbe läßt sich genau erkennen. Ist sie blau? Oder rot? Man kann nicht ganz sicher sein. Doch ob blau oder rot – es ist auf jeden Fall die Blume der Romantik.

Marcel Reich-Ranicki, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.3.1979

Gespräch mit Peter Rühmkorf

– Am 6. Februar 1980 führte Matthias Prangel in Leiden das folgende Gespräch mit Peter Rühmkorf. –

Matthias Prangel: Heinrich Heine hat im Vorwort zur Lutetia die Schreckensvision von einer Zeit gezeichnet, in der der Krämer aus seinem Buch der Lieder Tüten drehen und in ihnen Kaffee oder Schnupftabak verkaufen könnte, obwohl man gerechterweise hinzufügen muß, daß Heine sich an gleicher Stelle in aller Deutlichkeit zum Kommunismus und dem Recht aller Menschen auf Essen und Trinken bekannte. Diese Befürchtung Heines von der begrenzten Haltbarkeit der Poesie teilst Du ganz offensichtlich nicht, jedenfalls nicht als Befürchtung. Hinter dem Titel Deines letzten Gedichtbandes – Haltbar bis Ende 1999 – scheint mir vielmehr eine Konzeption zu stehen, die entschieden mit dem Ewigkeitsanspruch von Kunst bricht.

Peter Rühmkorf: Laß mich zuerst einmal sagen, daß Haltbar bis Ende 1999 natürlich auch eine gewisse Unhaltbarkeit einkalkuliert. Wer glaubt, zwanzig Jahre zu halten, der rechnet die Unhaltbarkeit gleichzeitig mit ein. Ich weiß nicht, wieweit Heine seine Perspektive ausgezogen hat, vermutlich hat er aber noch an größere Zeiträume gedacht. Hinter Haltbar bis Ende 1999 steht eine Ästhetik, die zwar auf eine gewisse Haltbarkeit reflektiert, aber doch auch die soziale, geschichtliche, gesellschaftliche Abhängigkeit solcher Überbauprodukte wie Gedichte im Auge hat und weiß, es gibt keine Ewigkeitswerte. 1999 ist kein Ewigkeitsdatum, dahinter steht vielmehr eine Ästhetik oder Poetologie, die aufs Zeitliche zielt. Keine Riesenperspektiven für Paradiese, weite Zukünfte, illusionäre Welten, die wir überhaupt nicht mehr sehen, sondern für Zeiträume bedacht, die wir lebenden Menschen noch mit unseren lebenden Augen sehen und bewerten können. Wenn ich merke, daß diese Gedichte 1999 erledigt sind, dann sag ich, ich habs gewußt. Wenn ich sehe, daß sie noch gelesen werden – wunderbar, ich bin von der Wirklichkeit übertroffen worden, ein Glücksgefühl ganz anderer Art. Die von Heine beschriebenen Perspektiven sind die meinen – nicht so sehr die Befürchtungen. Kuck mal, als ich mein erstes ernstzunehmendes Gedichtbuch, Irdisches Vergnügen in g schrieb, da war das noch ein sehr anspruchsvoller Titel. Er knüpfte an die Literatur, an des alten Barthold Heinrich Brockes Irdisches Vergnügen in Gott an. Gott war aber schon geschrumpft auf ,g‘, das physikalische Symbol der Fallbeschleunigung, das heißt, es gab da schon eine Abkehr von den Ewigkeitsfreunden, eine Hinwendung zur Erde. Und das, was der Titel damals räumlich definierte, daß man sich auf der Erde vergnügen möge und die Seligkeit nicht vom Himmel erwarten solle, das kalkuliert der neue Titel in die Zeit hinein: Ein kleiner, abgemessener, überschaubarer, vielleicht erlebbarer Zeitraum. Ganz unverwandt sind diese Titel nicht, wiewohl der eine aus der Literaturwelt und der andere aus der Wirtschafts- und Warenwelt bezogen ist.

Prangel: Zum vieldiskutierten Verhältnis von Politik und Poesie und nochmals zu Heine. Heines poetisches Grundkonzept lief ja nicht auf einen Kompromiß zwischen Politik und Poesie hinaus, sondern er dachte an eine echte Synthese beider, an die politische Funktion der Poesie und die poetische Funktion der Politik. Schwebt Dir etwas Ähnliches vor?

Rühmkorf: Die Heineformel ist ja nicht ein ganzes Leben hindurch konstant geblieben. Es gab Zeiten, wo er dem Gebot der politischen Tätigkeit die Priorität eingeräumt hat. Und es gab Zeiten, wo er die Demokratie gefürchtet hat: z.B. daß die Natur zu Kartoffeläckern verkäme. Er hat durchaus Angst gehabt vor einer technischen und der an sie angeschlossenen sozialen Revolution, hat sie aber trotzdem immer gefördert. Heine hat sehr widersprüchlich gelebt und geschrieben – unterschiedlich widersprüchlich zu verschiedenen Zeiten: mal mehr das Recht des Ausnahmemenschen und der schönen Künste, mal mehr die demokratischen Freiheitsrechte der Allgemeinheit und das Recht auf Chancengleichheit betonend. In diesem Widerspruch hat Heine sich sein Leben lang bewegt. Es sind große menschliche Widersprüche, die eigentlich jeden denkenden Menschen berühren müßten und ihm zu schaffen machen. Denn wenn man Demokratie wirklich herzlich und energisch will, dann ist man für die Einebnung der Ausnahmeerscheinung. Aber was macht die Welt denn auf der anderen Seite überhaupt lebenswert, wenn nicht irgendwelche originellen, aparten, verrückten Außenseiter? Wenn das alles heruntergewalzt wird zu einem vollkaskoversicherten, abgesicherten Dasein, dann scheint mir das eine recht öde menschliche Landschaft zu sein. Mit dem Problem haben wir ganz handfest zu tun. Einerseits kämpfen auch wir Schriftsteller für unsere Rechte, indem wir uns für feste Zeilenhonorare, eine Altersversicherung, gewisse soziale Sicherheiten einsetzen, die diesem äußerst ungesicherten Beruf gewiß zustehen. Wenn Du andererseits siehst, wie etwa in den Rundfunk- und Fernsehstationen ein Versicherungswesen Raum gegriffen hat, das in den Köpfen bereits so fest verankert ist, daß die Leute, wenn sie den Sender betreten, nur noch an Versicherung denken, an ihren festen Arbeitsplatz, ihre festen Arbeitszeiten, von denen nicht abgewichen werden soll und darf, dann kann einen doch ein Horror ankommen vor solcher Zurückweisung von allem, was Privatinitiative und geistiges Unternehmertum ist. Daß einer etwas erfindet, daß einer über die Arbeitszeit hinaus arbeitet, das sind ja nicht nur Großunternehmerkategorien, sondern es sind auch menschliche Schaffenskategorien. Wenn bloß noch Arbeitszeit abgehockt wird, dann ist auch Ende mit der Erfindungskraft, dann leuchtet auch nichts mehr.

Prangel: Du hast Dich wiederholt als Dissident bezeichnet. Nicht als Einzeldissident, sondern als Gruppendissident. Welche besonderen Erkenntnismöglichkeiten gegenüber Wirklichkeit liegen in der Dissidenz, der Verschrobenheit, der Verrücktheit?

Rühmkorf: Wenn Du Dich der Norm beugst, dann wirst Du mit Deinem Kopf niemals Probleme haben. Erst auf dem Abweicherpfad, erst auf dem Dissidentenweg merkst Du auf einmal, daß Du es schwierig hast auf dieser Welt. Du eckst nämlich an mit Deinen abweichenden Gedanken. Und das sind traumatisierende Erlebnisse, die Dich richtig krank machen können. Aus diesem Grunde meine ich, daß der Dissident nicht für sich alleine sein sollte, sondern sich mit Leidens-, Schicksals-, Gesellschaftsgenossen zusammentun sollte zu Abweichergruppen, um nicht zugrunde zu gehen. Ich halte eine Außenseiterexistenz für außerordentlich gefährlich. Sie kann in schwere Krankheiten, zu Drogen, in lebensbedrohende Situationen führen. Ich selbst habe eigentlich immer in Gruppen gelebt. Das begann als Kind in den Spielgruppen. Ich war Einzelkind, aber ich habe mich mit anderen Kindern zusammengetan und im Zusammenleben mit anderen Kindern auch gelernt. Zuerst – was lernt man zuerst? – Kindersprüche, Kinderverse, eine Art eigener Dissidentenliteratur von ganzen Gruppen, der Kindergesellschaft. Die Kindergesellschaft steht ja immer unter dem Druck der Erwachsenengesellschaft. und da hat sich die Kindergesellschaft ihre eigenen Sprüche, ihre eigenen Abweicherverschen, ihre eigenen Protestgesänge gemacht, und in dieser Welt der kindlichen Abweicher mit ihrer eigenen Abweicherliteratur hat sich bereits mein Augenmerk, mein Ohrenmerk auf eine Art von Literatur gespitzt, die gegenströmig ist, die geheim ist, die apart ist, die trotzig ist. Später dann, auf der Schule, haben wir eine Schülerzeitschrift gemacht, die hieß Die Pestbeule; sehr aggressiv, um die Mitwelt herauszufordern. Da war ich aber auch wieder nicht alleine, sondern wir waren fünf, sechs, sieben Leute aus unserer Klasse. Nachher haben wir studiert und Studentenkabarett gemacht. Da waren wir schon zwanzig oder dreißig, wieder in Gruppenverbund. Dann haben wir eine Studentenzeitung gemacht. Da waren wir ein ganzes Redaktionskollekteam – wie wir immer gesagt haben, um zwei Welten zusammenzuschließen. Und so ist es eigentlich weitergegangen. Später kam als großes gemeinsames Hoffnungsintegral die Studentenbewegung und APO, und da dachten wir, daß das große Gruppenleben erst richtig losgeht, das heißt das die abweichenden Gruppen zu bestimmenden Massen werden und daß diese bestimmende Massen die Gesellschaft verändern könnten. Es war ein schöner Traum. Es war auch ein sehr kurzer Traum. Und hinterher saßen all die Träumer ziemlich einsam auf der Straße. Nicht bloß ich. Viele Existenzen geradezu zerschmettert, wenn sie nicht völlig konvertierten und gleich in die Wirtschaft abwanderten. Auch solche Fälle haben wir gesehen. Studentenführer, die sofort in die Wirtschaft oder in Presseabteilungen gegangen sind, da ein ganz anderes Brot gemacht haben. Die Inhalte erwiesen sich als austauschbar, und was geblieben war, das war eine gewisse rhetorische Begabung, die sich auf dem Zeitungspapier und für eine andere politische Richtung genauso schmissig engagieren konnte wie kurz zuvor auf der studentischen Rednertribüne. Aber wirklich engagiert gewesene Menschen waren sehr betroffen durch die Zerspaltung dieses sozialen Integrals, auch Glaubensintegrals, und da gab es schon Kollapse massenweise. Und komischerweise – ich muß das gleich anknüpfen, weil es hier so genau ins Konzept paßt – komischerweise war dies die Stunde, wo die deutsche Lesegesellschaft, wo die deutschen Intellektuellen wieder Gedichte zu machen und zu lesen begannen. Eigenartiger Prozeß, der uns zeigt, daß das Gedicht erstens abhängig ist von sozialen Determinanten und zweitens auch das Ich als neues Ichgefühl nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern gesellschaftlich bedingt und vermittelt ist. Ich habe auch am Theater versucht, gemeinsam zu arbeiten. Das ist nicht gelungen, weil unsere Theater sehr eigenwillige Anstalten sind, und wenn man da als Außenseiter reinzukommen versucht, wird man vor der Tür gehalten. Aber ich bin dann in der Selbstorganisation mit anderen, befreundeten Naturen mit Jazz und Lyrik aufgetreten. Und im Augenblick arbeite ich sehr gerne auf verschiedensten Gebieten mit Graphikern zusammen, sei es mit Janssen, sei es mit Schindelhütte, mit dem ich gerade ein Märchenbuch gemacht habe. Es scheint mir überhaupt die höchste Form der Geselligkeit, es sei denn, daß man nach der Arbeit nicht noch ganz andere, muntere orgiastische Formen der Geselligkeit entwickelt. Das Zusammenarbeiten ist mein großes Ideal – das aber praktisch möglich ist.

Prangel: Von Deinem Dissidententum begann mir etwas aufzugehen, als ich 1978 anläßlich des 100. Geburtstags von Alfred Döblin einen kleinen Beitrag von Dir in der FAZ fand. Ist eine Figur wie der Franz Biberkopf im Berlin Alexanderplatz, der am Ende des Romans seinen eigenen Weg geht, ihn aber eben doch nicht alleine, sondern in Gemeinschaft geht, so etwas wie der Prototyp des Dissidenten, den auch Du meinst? Und ist vielleicht auch Döblin selber so etwas wie der Dissident von allem Mystizismus einerseits und der Dissident von allem exaltierten modernen Rationalismus andererseits, der Vertreter jener totalen Dissidenz, die uns allen auch und gerade heute nottut, um auf dem Teppich zu bleiben?

Rühmkorf: Ich fange ein bißchen privat an. Ich möchte mich direkt als Schüler von Döblin bezeichnen. Ich habe Döblin gelesen, als ich noch auf der Schule war, und Döblin hat mir einen sehr vielen größeren, tieferen, breiteren Eindruck gemacht als die Zwangslektüre, die uns auf der Schule verordnet wurde. Mit Döblin ging mir zum erstenmal die Welt des modernen Romans überhaupt auf. Den Expressionismus hatte unsere Gruppe sich schon früher erobert, mit ihm hatten wir uns identifiziert, von ihm hatten wir uns beeinflussen lassen. Und innerhalb dieser Einflußsphäre war ich auf Döblin gestoßen, und das war für mich der große moderne Roman, das war modernes Schreiben. Es war eine Mischung aus Reflexion und dem, was einen modernen Menschen an Gefühlsströmen bewegt. Ich habe Döblin dann kennengelernt, weil ich ihm meine ersten Sachen geschickt habe. Ich war damals in einer starken Nervenkrise, war ein richtiger Neurotiker und habe Döblin daher, weil er ja Nervenarzt war, brieflich konsultiert. Ich habe ihm lange Briefe autoanalytischer Natur geschrieben, und Döblin hat mir immer sehr freundlich geantwortet. Es war kein literarischer Briefwechsel. Es waren wirkliche Leidenstiraden, die ich hinterher auch nicht veröffentlicht sehen wollte. Es hat mir sehr genützt, das alles einem verehrten Vorbild anvertrauen zu können. Er war ja nicht irgendein anonymer Psychiater, sondern ein hochgeschätzter Übervater. Und daß dieser hochgeschätzte Mann so freundlich auf meine Beschwerden einging, hat mir geholfen. Noch mehr hat mir allerdings geholfen, daß Döblin meine ersten Gedichte in seinem Goldenen Tor abdruckte. Das war eine praktische Hilfeleistung, das war praktische Therapie, die meinem angeknacksten Selbstbewußtsein wieder sehr auf die Beine geholfen hat. Später hat sich der Briefwechsel dann noch ein bißchen hingezogen, und Döblin hat in den ersten fünfziger Jahren auch ein bißchen an unserer Zeitschrift Zwischen den Kriegen mitgearbeitet. Es waren immer sehr freundliche Kontakte, und ich habe erst später, jetzt zum 100. Geburtstag, erfahren, daß Döblin an diesen Kontakten auch gelegen hat, daß dem alten, von uns geradezu mythenhaft weit entfernten Mann, den wir verehrten wie eine ferne Sagengestalt, daß diesem Manne ungeheuer viel daran lag, Schule zu machen und Schüler oder doch jugendliche Verehrer zu haben. Das ist uns gar nicht aufgegangen. Wir sahen bloß immer dieses gewaltige Massiv und wußten nicht, wie sehr auch wir ihm gutgetan haben. Wir nahmen damals nicht nur zu Döblin Kontakt auf, sondern auch zu einem Mann wie Kurt Hiller. Hiller war zuerst noch in der englischen Emigration und reagierte geradezu frenetisch-freundlich auf unsere Zeitschrift. Er glaubte, in uns Leute für seinen sozialistischen Bund vor sich zu haben. Er hat ja immer in diesen bündnischen Kategorien – ich meine das natürlich nicht im Sinne der Jugendbewegung – gedacht. Und später hat er einen Neu-sozialistischen Bund gegründet, bei dem wir, als Hiller wieder in Deutschland war, auch Mitglied waren. Bloß hat sich Hiller als Bundesmeister dann doch ein wenig unverträglich erwiesen, weil er zu sehr gesetzgebende Instanz sein wollte. Daraus haben sich Distanzen ergeben. Man will ja gerne Lehrmeister akzeptieren und auch gewisse Autoritäten haben, bei denen man lernt, bei denen man in die Schule geht. Aber man will sie selbst finden und möchte nicht von ihnen dominiert werden, da das eigene Individuum sich doch freikämpfen muß. Ein ähnlicher Fall war Hans Henny Jahnn. Es sind alles irgendwie Menschen – Hiller vielleicht noch am wenigstens – die ich Gestalten der Kunstliteratur nennen möchte, die aber dennoch politisch engagiert waren. Das politische Engagement hat bei Döblin zwar sehr gewechselt. Aber engagiert gewesen ist er immer. Die Zeiten haben sich grundlegend geändert. Döblin hat sie sehr genau beobachtet. Und ohne ein Anpasser zu sein, ohne gekauft zu sein, hat sich seine Meinung geändert. Das müssen wir akzeptieren. Anstößig gewesen ist er immer, mit jeder Meinung. Auch nach dem Krieg, als er wiederkam, ist er anstößig gewesen, genauso wie Hans Henny Jahnn, der sich schon in den fünfziger Jahren mächtig für die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ engagierte. Dieser Bewegung gehörten wir auch wieder an, und so bildeten sich auch im Hinblick auf Autoritäten Solidaritäten und Gemeinsamkeiten. Von Döblin erschien dann ja bald – aus der Emigration mitgebracht – die Tetralogie November 1918. Das war kein Buch mehr, auf das sich die Leute wie auf eine Geisterglaubensspeise stürzen konnten, es sei denn, sie wären christlichen Glaubens gewesen. Döblin war konvertiert und hatte als letztes Credo dann eben doch bloß den alten Christengott anzubieten: kein Mythos, der die Jugend zur Identifikation einladen konnte und wohl solch ein Alterszug, bei dem auch wir nicht mithalten mochten.

Prangel: Und nicht nur, daß er die Jugend vor den Kopf stieß, sondern auch die alten Weggefährten aus Emigration und Weimarer Zeit.

Rühmkorf: Döblin stieß nach der Konversion mit seinen Büchern in einen Leerraum. Dieser Raum war ein Erwartungsraum, und er hat mit seinen Büchern den Erwartungen nicht genügt, so bedeutsam diese Bücher in einzelnen Partien immer sind. Es gibt da fabelhafte Dinge, die mir von der schriftstellerischen Qualität her gewaltigen Eindruck gemacht haben und die ich noch heute, 25 Jahre später, fast wörtlich zitieren kann. Nur, die Glaubensinhalte luden denn doch nicht mehr zur Identifikation ein. Und so ging man immer wieder auf den alten Franz Biberkopf zurück, der für Döblin, der wie jeder Schriftsteller gerade seine neuesten Bücher gewürdigt, anerkannt sehen wollte, ja schon sehr lange zurücklag.

Prangel: 1962, vor recht langer Zeit also, hast Du einmal die deutsche Nachkriegslyrik Revue passieren lassen und bist in Deinem Urteil sehr hart gewesen. Du sprachst vom „lyrischen Requisitenhaus“ und hast nur wenig gelten lassen: ein wenig Bachmann, ein wenig Krolow und Celan, vor allem aber Grass und Enzensberger, mit denen Du die Revision der deutschen Nachkriegslyrik ansetztest. Wie stellt sich nun Dein Urteil über die seitdem vergangene Zeit dar?

Rühmkorf: Laß mich erstmal sagen, daß ich mit dieser Beurteilung eigentlich recht gehabt habe. Sehr vieles, was ich damals nicht nur habe Revue passieren lassen, sondern auch durchs Sieb trudeln ließ, hat sich nicht gehalten. Gehalten haben sich wirklich die wenigen Namen, die ich damals herausgehoben habe, während die ganzen in gewisser Hinsicht jeweils konformistisch-modernen Strömungen weder als Strömungen noch in ihren einzelnen Vertretern überlebt haben. Viele damals bekannte Namen sind einfach untergegangen. Kein Mensch kennt sie mehr, sie haben später nicht mehr veröffentlicht und dürften vermutlich auch keine Wiederauferstehung mehr feiern. Was sich danach entwickelt hat? Auf jeden Fall folgten noch weitere Gedichtbücher von Grass und Enzensberger. Enzensberger hat mich immer am meisten interessiert. Er war, obwohl kein Bundesgenosse im eigentlichen Sinn, doch immer ein Gesinnungsgenosse von mir, der sich auch mit ähnlichen Problemen herumschlug. Enzensberger – wir sind ein Jahrgang, wir sind ein Sternzeichen, wir sind gewissermaßen unter einem Stern geboren, in unterschiedlichen deutschen Landschaften, er süddeutsch und ich norddeutsch – hat sich auch mit dem alten Heine-Problem herumgequält: hier Artistik, dort Veränderung; hier der Ausnahmemensch und seine Rechte, Freuden, Lüste, dort der Kampf für demokratische Freiheiten, gegen den Krieg, gegen die Wiederaufrüstung, die Einbindung in die NATO, Atombewaffnung, die Zustände in der Dritten Welt, die Folter-Regime. Das sind politische Essentiale gewesen, die uns geeint habe. Ich selbst habe dann – man kann ja nicht absehen von dem, was man selbst gemacht hat – ab 1964/65 vorläufig überhaupt keine Gedichte mehr geschrieben. Weil ich glaubte, daß das Gedicht kein Austragungsort für politische Wahrheiten, kein politisches Hebelinstrument sein könnte, entschied ich mich für die Bühne, mußte aber bald die Erfahrung machen, daß auch die Bühne nicht der richtige Paukboden ist, um die wichtigen Dinge der Politik auszutragen. Ein viel zu schwieriges Gerät, viel zu kompliziert in ihren gesamten Darstellungs- und Produktionsmitteln. Bis das Stück erst einmal angenommen ist, bis es produziert ist, bis es ein Publikum erreicht und welches Publikum dann, das sind alles so Fragen. Diese Zeit, in der ich mich auch sehr intensiv mit Literatur, Theaterliteratur als Wirkungsliteratur beschäftigt habe, war für mich in negativem Sinn eine Lehrzeit, insofern ich gemerkt habe, daß ich mit meiner Theaterarbeit gar nichts bewirkte. Eher das Gegenteil. Ich habe mir große Schulden eingespielt, an denen ich zum Teil heute noch zu knacken habe, weil ich doch sehr lange Theater zum Selbstkostenpreis betrieben habe. Die Lyrik habe ich erst dann wieder beobachtet, als die Bewegung des sogenannten Neuen Subjektivismus aufkam. Nein, das stimmt doch nicht ganz. Ich muß noch einmal zurückhaken: Als ich selbst keine Lyrik mehr schrieb und sich später die Zeit immer mehr politisch polarisierte, habe ich mich in Essays und Aufsätzen für politische Lyrik stark gemacht, für die Lyrik Erich Frieds. 1966 erschien von Erich Fried der Gedichtband Und Vietnam und. Das war eine Zeit, wo Vietnam für uns Studentenzeitungsredakteure sowieso schon auf dem Tapet gewesen war und mich brennend interessierte. Ich würde solche Gedichte nicht machen können und nicht machen wollen. Ich habe Frieds Gedichte aber sogleich heftig begrüßt. Ich habe im Spiegel eine befürwortende Besprechung geschrieben, und erst in dem Moment, als das bei Wagenbach wie Blei liegende Gedichtbuch an den Transportriemen Spiegel angeschlossen war, konnte auch die Leserschaft zufassen, und aus dem Buch wurde auf einmal ein Bestseller. Was heißt Bestseller? Es wurde ein vielgelesenes Buch, das auch viele Leser bewegte. Dieser Art von Aufklärungslyrik, wie z.B. Erich Fried sie prototypisch in der Nachfolge Brechts betrieb, habe ich viel Aufmerksamkeit geschenkt und auch viel Nachschub gegeben. Nachher schien sie mir ein bißchen dünne, weil sie all zu einseitig auf politische, agitatorische, didaktische Momente festgelegt war und nichts von dem zeigte, was ich von Lyrik allerdings verlange: ein schlagendes Herz. Diese Lyrik atmete, pulsierte nicht richtig, und je länger sie dahinweste und je mehr Nachfolger sie fand, um so kreidiger schien sie mir. Es kam allgemein ein gewisser Mißmut gegen diesen Lyriktypus auf, fast vergleichbar mit dem Widerstand der Romantiker gegen die Aufklärung. So wichtig die Aufklärung auch für uns in Deutschland war, so wichtig war natürlich auch die romantische Gegenbewegung, Klopstock und drumherum, Emotionalismus, Subjektivismus. Ganz ähnlich war es jetzt, als diese Lehrpoesie all zu sehr – ich kann eigentlich nicht sagen ins Blühen geriet, denn Blumen waren da ja gar nicht zu sehen. Sie breitete sich auf allen Wandtafeln aus, und, es setzte ein gewisses Mißvergnügen an dieser Poesie ein. Und dann tauchte der Neue Subjektivismus auf. Und wenn man historische Zeiträume zu betrachten gewohnt ist, scheint es einfach notwendig, daß so etwas kommt. Ich selbst sehe mich allerdings als Altsubjektivisten in der Nachfolge Walthers von der Vogelweide und Klopstocks. Der Neue Subjektivismus schien mir immer ein bißchen kleinkariert. Es war da zwar etwas Wichtiges: Man begann die Welt wieder mit eigenen Sinnen wahrzunehmen. Man hörte wieder das Scheppern der Kaffeetasse, man sah den Zigarettenstummel im Aschbecher verglimmen, man sah, wie die Katze sich in der Sonne gütlich tat. Aber man erkennt an diesen Bezeichnungen auch schon, daß es Genre war. Es waren letztlich biedermeierliche Ideale, die sich unter diesem zündenden Titel verkauften.

Prangel: Ich komme noch einmal auf die gerade angesprochene Dünne von Lyrik in einem ganz vordergründigen Sinne zurück. Wenn man Deine Gedichte etwa mit den schon vom Umfang her stark reduzierten Gedichten Celans oder mit den Zeugnissen der konkreten Poesie vergleicht, so sind sie eher lang und beleibt. Die verbreitete Auffassung, daß Reduktion Gewinn sei, scheint bei Dir nicht auf Gegenliebe zu stoßen.

Rühmkorf: Nein, in keiner Hinsicht. Ich komme aus einer anderen literarischen Richtung. Und hinter einer Richtung verbirgt sich ja immer etwas Anthropologisches, ein bestimmtes Bild vom Menschen. Ich glaube nicht, daß das Reduktionsprinzip für die Kunst allzu fruchtbar ist. Wenn man Kunst – etwa in der Lyrik – auf die Lautwerte reduziert, dann findet für mich etwas statt, was ich Abtrag und Wegnahme nennen möchte. Man könnte sagen, bei jeder künstlerischen Abstraktion wird etwas weggenommen, darin liegt die Kunst. Es scheint mir aber doch Entscheidendes weggenommen, wenn ich alles, was gemütliche Anteilnahme, was die affektive und gefühlsmäßige Beteiligung betrifft, aus dem Gedicht ausscheide. Ich bin für Gedichte, die Gemüt, Affekt, Emotionen, Herz, Seele genauso ausdrücken wie das Kopfleben. Den Kopf lasse ich gewiß nicht aus. Das hat mir noch niemand vorgeworfen. Aber ich bin dafür, daß die Poesie den ganzen Menschen repräsentiert. Die didaktische Poesie, die Lehrpoesie repräsentiert nur Teile des Menschen, sie destilliert nur seine rationalen Überbauprodukte und stellt sie als Gedicht heraus. Kuck mal, als wir vorhin von meinen Lehrmeistern gesprochen haben, nannte ich Leute wie Jahnn und Döblin, und auch Benn oder Brecht gehören dazu. Das sind alles Leute, die nicht durch den Begriff Reduktion zu kennzeichnen sind. Es sind eigentlich synthetische oder besser vielseitige Naturen. Sowohl bei Döblin als bei Jahnn bekommen wir es mit einer menschlichen Beteiligung zu tun, die eben nicht nur verstandesmäßige Kategorien betrifft.

Prangel: Ein wichtiges Element Deiner Poesie ist die Ironie. Du sprachst einmal davon, daß die ironische Verhaltensweise die ernsthafteste Verhaltensweise gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit überhaupt sei.

Rühmkorf: Ja. Viele Bemerkungen in meinem neuen Buch, die ich ganz ernsthaft vortrage, werden ironisch aufgefaßt. Wenn ich z.B. sage, seit einigen Jahren ließe ich nur noch das Glück an mich herankommen, dann kucken die Leute immer ganz perplex: das kann doch nicht wahr sein, wieso? Ich sage eine ganz einfache Wahrheit, die man aber nicht glauben will, die man für Ironie hält. Es gibt immer wieder sehr direkte Aussagen, die aber im gesellschaftlichen Umfeld ironisch wirken. Daher meine ich, daß die Gesellschaft schon eine irgendwie verstellte oder eingetrübte Sphäre ist. Ich kann in meinem Buch hinkucken, wo ich will, es ist überall ironisches Sprechen. Das heißt es ist eben kein wirklich verstelltes Sprechen der Art, daß etwas gesagt wird, was nicht gemeint wird. Nein, ich meine genau dies. Trotzdem sind die Leute erheitert und belustigt, oder sie grinsen einverständnisvoll, weil sie meinen, es sei Ironie. In unserer verstellten Gesellschaft werden diese einfachen Aussagen als ironisch empfunden. Das ist mir erst bei diesem Band richtig aufgefallen. Es ist nicht ein vertünchtes Sprechen, nicht ein verhangenes Sprechen, eigentlich noch nicht einmal ein gebrochenes Sprechen. Es ist ein ungebrochenes Sprechen in einer ziemlich gebrochenen Umwelt. Ein schwieriges Problem, und ich sehe, daß ich über die Ironie noch einmal ganz neu nachdenken muß.

Prangel: Du bist sehr traditionsbewußt, aber in Deiner eigenen Arbeit alles andere als ein Traditionalist. Du setzt Reminiszenzen aus der Literaturgeschichte ein, aber Du tust es immer zu sehr individuellen Zwecken und auf ganz individuelle Weise.

Rühmkorf: Ja, das ist richtig. Traditionalismus in dem Sinne, daß man einfach aufgreift, was einem in den Schulen oder Akademien vorgesetzt wird, erscheint mir tot und lebensleer. Wo man aber Tradition derart betreibt, daß man sich in die Geschichte – Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte – vertieft, um etwas für sich selbst zu finden, da wird es eine ganz lebendige Angelegenheit. Hier sieht man Vorläufer, da sieht man ähnlich Empfindende, dort schließlich Naturen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten – und sie vielleicht vorbildlich gelöst haben. Es ist mir doch gelungen, selbst bei einem so weit entfernten Mann wie Walther von der Vogelweide verwandte Züge zu entdecken. Es bedarf für mich dieser traditionellen Verankerungsversuche, um das eigene Ich zu stabilisieren und Bundesgenossenschaft zu finden oder sogar zu konstruieren. So sucht man sich eigene Traditionslinien oder Linien des kulturellen Erbes, eines Erbes, das man nicht vorgesetzt bekommen hat, sondern das man sich selbst erobert hat. Das scheint mir die einzige belebende Möglichkeit, sich mit dem Erbe auseinanderzusetzen. Es ist keineswegs einfach Flucht. Kuck mal, man kann es mit anderen Gebieten vergleichen: Eine Zeitlang galt der maschinelle Progreß als das Nonplusultra. Inzwischen sieht man, daß er es gar nicht ist, und man besinnt sich auf Mittel und Hilfsmittel, die vielleicht viel menschlicher sind als diese kapitalistisch progredierende Technik. Und man kommt zu der Entdeckung: wir haben bei allem Fortschritt den blauen Himmel aus den Augen verloren, wir wissen nicht mehr, wie gute Luft riecht. Und auf einmal sehen wir, daß scheinbar rückständige, reaktionäre Denker, die ein Beharren auf gewissen menschlichen und naturalen Grundwerten gepredigt haben, so reaktionär gar nicht waren, daß dahinter vielmehr ein humanitäres Ethos steht. Und ähnlich ist es mit dem Erbe. Wir leben doch in einer Verschleißzeit. Die Bücher dürfen heute nur ganz kurz auf dem Markt sein, sie dürfen nur eben da sein, den Kopf rauszeigen, am liebsten in einer Auflage von hunderttausend Exemplaren, und dann ganz schnell wieder verschwinden. Dies ist das Verschleißgesetz der Gesellschaft, das den Buchmarkt in besonderem Maße kennzeichnet. Es ist ein mörderisches Gesetz, das über uns alle verhängt ist und über die Buchproduzenten eben in besonderer Weise. Denn sie hängen an diesen Waren, in denen ja viel mehr Seele, Leib, Mensch steckt als in anderen Waren. Eben sind die Gedichte erschienen, wupps sieht man sie im Ramsch. Welch grausiges Erlebnis. Gedichte sind Amulette, stellvertretende Votive des Ich, und auf einmal siehst Du Teile dieses Ich im Ramsch. Es ist, als ob das Ich persönlich verramscht wird.

Prangel: Bekommt gerade gegen den Hintergrund dieser Marktmechanismen Dein Getingel durch die Lande, Dein direkter Publikumskontakt einen ganz besonderen Wert für Dich? Es gibt Leute, die das lediglich als notwendiges imagebuilding betrachten und es keinen Tag länger als nötig täten. Ich habe den Eindruck, Du steht dem anders gegenüber.

Rühmkorf: Ja, ich sehe das etwas anders. Erstmal tingele ich ganz gerne. Es ist zwar nicht immer erfreulich. Es ist auch oft sehr betrüblich, wenn man als reisender Artist so durch die Lande zieht. Auf der anderen Seite gewöhnt man sich an das Leben und gewinnt einen ziemlich eigenartigen Einblick in Ökonomie. Du mußt bedenken, ich kann von meinen Büchern nicht leben. Meine Bücher leben von mir. Ich meine das einfach so: Wenn ich an einem Buch drei Jahre arbeite, dann kriege ich vielleicht das Geld für ein Jahr dafür. Zwei Jahre Arbeitszeit müssen also von mir auf anderem Wege aufgebracht werden. Und da ist das Geld immer noch am einfachsten verdient, wenn man die Texte früherer Bücher vorträgt oder Gedichte z.B. zusammen mit Jazzmusik zum Vortrag bringt. Das ist das Leben eines Reisenden, aber eben meine ökonomische Basis. Und ohne diese ökonomische Basis hätte ich gar nicht das finanzielle Substrat um Bücher zu schreiben. Ich muß also in dieses Geschirr hinein. Es können ja nur sehr wenige Autoren von ihren Büchern leben. Alle andere müssen sich um Zweitverwertungen kümmern oder um andere Umsetzungen, um überhaupt aus dem Schneider zu kommen. Eine große Gefahr scheint mir für den Schriftsteller zu sein, daß er für den Funk oder für die Zeitung arbeitet. Ich schreibe ja auch Rezensionen, arbeite auch für den Funk, aber die große Gefahr ist, daß man von den Apparaten aufgesogen wird und nicht mehr dazu kommt, Bücher zu schreiben. Wenn Du selbst mit den Büchern durch die Lande ziehst, ist das anders. Es heißt ja nicht, daß Du eine ganz andere Arbeit machst, die Dich ganz aufsaugt, sondern Du hast immer noch den nötigen freien Kopf, um an neue Bücher zu denken. Auch während der Reise. Vieles, was im letzten Buch steht, ist von Reiseeindrücken geprägt oder verzeichnet Reiseeindrücke. Es ist auf der Reise entstanden, und es hat die Reise nicht nur in seinen Inhalt, sondern in seine Strukturen aufgenommen. In manchen Reiseliedchen hört man den Zug, in dem der Schreibende sitzt, geradezu vorbeirauschen oder man sieht ihn im Auto die Lande durchfahren. Die Gedichte sind auch nicht blockartig, sie liegen nicht da wie ein Hünengrab. Sie haben eine Geschwindigkeit, eine Bewegung, die irgendetwas von der Fortbewegungsweise des Reisedichters aufgenommen hat und auch von seiner Versorgungsweise. Ich bin kein Ackerbauer und Viehzüchter. Ich bin ein Jäger und Sammler. Und dieses Jäger- und Sammlertum, das meine ökonomische Basis ist, drückt sich in solchen Überbauprodukten wie Gedichten aus.

Prangel: Du schreibst politische Poesie oder doch Poesie; die überall sozial und politisch verankert ist. Daneben steht aber bei Dir auch ganz praktische politische Alltagsarbeit. Wie sieht die aus?

Rühmkorf: Früher – womit ich nicht nostalgisch zurückblicken will – als ich noch eine Zeitung zur Verfügung hatte, erst Konkret, später auch noch Dasda, da hatte ich die Möglichkeit, politische Leitartikel zu schreiben. Man hatte die Hoffnung, daß man die 100.000 oder 200.000 Leute, die die Zeitung erreichte, auch in ihrem Kopf bewegen konnte. Heute habe ich solchen Träger praktisch nicht mehr und muß mich mit anderen Leuten zusammentun, um politische Meinung kundzugeben. Wo immer ich in der Bundesrepublik ein öffentliches Forum erwische, halte ich Reden, Vorträge, in die meine politischen Maximen eingewebt sind. Ich war gerade in Bremen zu einer Preisverleihung und habe mich auch dort sehr dezidiert über aktuelle politische Fragen zur nächsten Wahl geäußert. Sehr unangenehm für manche Grüne in diesem Fall. Denn obwohl ich die ideologischen und idealischen Grundvorstellungen der Grünen teile, scheint es mir ungeheuer problematisch, wenn sie bei den nächsten Wahlen als Partei auftreten, weil sie nämlich tatsächlich bewirken können, was sie ja im Grunde nicht bewirken wollen, daß nämlich Strauß an die Regierung kommt. Das ist ein kardinales Problem. Ich kämpfe Schulter an Schulter mit einem Mann wie z.B. Klaus Staeck. Wir kämpfen beide, ohne daß ich Mitglied bin, auf dem linken Flügel der SPD, versuchen überall wo wir können geistigen Einfluß zu nehmen, in die SPD hineinzuwirken, um Strauß zu verhüten und die Grünen zu ermahnen, bei den nächsten Wahlen vorsichtig zu sein. Wobei die politischen Gedankengänge darauf hinauslaufen, daß die Grüne Masse auf jeden Fall erhalten bleiben muß, nur eben nicht als Partei. Sie ist als Partei im Augenblick dabei, sich heillos zu zerstreiten. Bei jedem Kongreß gibt es neuen Zwiespalt. Dieser Grüne Block ist bei uns die Dissidentenpartei und als Dissidentenclub und von seinen bewegenden Charakteren her geradezu zwangslaüfig dazu verurteilt, immer neue Dissidenzen hervorzubringen. Es ist eine fatale Sache. Und diese Dissidenzen, Teilabweichungen bilden sich um so mehr heraus, je mehr man handlungsfähige Partei sein will. Solange man ein Interessenbund ist, der sich auf gewisse politische und humanitäre Essentiale – gegen Atombewaffnung, Nachrüstung, Luftverschmutzung, für die Gewinnung naturaler Energie usw. – richtet, kann man wirksam sein. Daher unser Vorschlag an die Grünen, auf jeden Fall als Manövriermasse in Betrieb zu bleiben, sich nicht weiter zu zersetzen, sondern gewissermaßen als Lobby politisch wirksam zu sein: machtvoll wie die Bauernverbände, kopfreicher als die Industrie und lauthals wie die Glaubensgemeinschaften.

Prangel: Glaubst Du wirklich, daß es eine Möglichkeit gibt, die positiven Gedanken der Grünen in die Politik der etablierten Parteien zu integrieren? Ist die SPD ein politischer Körper, der das in sich aufnehmen kann?

Rühmkorf: Ja. Ja. Wenn die Grünen sich nicht heillos zerstreiten, müssen die Parteien ihre Thesen aufnehmen, sie müssen es sogar alle. Es wird genauso sein wie mit dem Sozialismus. Seit Beginn der sozialen Bewegung in Deutschland kann eigentlich keine ernstzunehmende Partei mehr von sozialen, ja sozialistischen Gesichtspunkten absehen. Ich hoffe, daß dasselbe mit den Ideen der Grünen geschieht. Der Grüne Druck muß vorhanden sein, und ich sage Dir, daß die Parteien sich anpassen müssen. Ich möchte, daß ein Typus von außerparlamentarischer Opposition erhalten bleibt, machtvoll eben wie eine Lobby. Das haben wir noch nie gehabt. Eine kleine Partei mit fünf oder sechs Sitzen, das können wir immer wieder einmal haben. Aber eine richtige Lobby? So pragmatisch denke ich über Politik.

Deutsche Bücher, Heft 1, 1980

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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