Peter Rühmkorf: Kleine Fleckenkunde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Kleine Fleckenkunde

Rühmkorf/Rühmkorf-Kleine Fleckenkunde

INDIVI-DUUM

So möge denn, Hummel Hummel – Moors Moors,
geschehn was wir erträumen:
Der Reim ist die Klecksographie des Ohrs,
der Klecks will dem Auge sich reimen.

O hochverehrtes Publikum,
vertrau der sinnlichen Blendung:
Bringe dein Indivi-duum
gespiegelt zur Vollendung

 

 

 

Was einer in Etappen klekst
braucht weiter keinen Klappentext

Haffmans Verlag, Klappentext, 1982

 

Gruß an Rorschach

− Peter Rühmkorfs Kleine Fleckenkunde Reime zu Klecksographien. −

Der schwäbische Romantiker Justinus Kerner gilt als Ahnherr der „Klecksographie“: jener grafischen Kunst- (oder Kunstgewerbe-)Übung, bei der man auf eine Seite eines in der Mitte gefalteten Papiers einen Tinten-Klecks macht, die Blattseiten aneinanderdrückt und dann wieder auseinanderfaltet. Dabei entstehen (so Kerner 1857) „kraft ihrer Doppelbildung, die sie durch ihr Zerfließen und Abdruck auf dem einen Raume der anderen Seite […] erhalten, der Phantasie Spielraum lassende Gebilde der verschiedensten Art.“
Das Klecksographieren, im 19. Jahrhundert in Schwaben eine Zeitlang ein verbreitetes Modespiel, wurde später von dem schweizerischen Psychiater Hermann Rorschach in den Dienst der Psychiatrie gestellt. Aus der Deutung der symmetrischen Klecksgebilde durch den Patienten zieht der Seelendoktor seine Schlüsse.
Eben diesem Medizinmann nun entbietet der Poet Peter Rühmkorf den respektlosen „Gruß an Rorschach“:

Ich sehe was, was du nicht siehst,
und sag dir im Vertrauen:
Herr Doktor Arschloch,
der mich pyschoanaliest,
er wird mich nie durchschauen.

Dieses Verschen findet sich in dem Buch Kleine Fleckenkunde, das im Haffmans Verlag erschienen ist und in dem Rühmkorf auf 111 Seiten Klecksographien und dazu passende Reime gesammelt hat. Der kleine, hübsch gedruckte Band ist „Den letzten Resten der Besten“ gewidmet, enthält im Motto die Reverenz des Dichter-Malers vor seinem Ahnherrn („Die Methode Justinus Kerner / ist der beste Fleckenentferner.“) und bringt auf den inneren Einband-Deckeln den guten alten Kalauer-Schüttelreim: „Was einer in Etappen kleckst / braucht weiter keinen Klappentext.“ Es braucht auch keine lange Rezension, verdient aber doch, als intelligentes Spiel, einen empfehlenden Hinweis.
Rühmkorfs Klecksographien, sehr subtile, zarte Gebilde, sind meist deutlich zu erkennen und zeigen etwa Insekten, Gesichter, Paare, Pflanzen, Flügelwesen aller Art – vom Engel bis zum Schmetterling – und allerlei Eindeutiges. (Das soll hier allerdings nicht benannt werden; sonst würden ja die Rorschach-Jünger alarmiert, zum Fährtenlesen förmlich eingeladen.) Die Reime, die er gemacht hat, versteht Rühmkorf selbst als ganz natürliche Entsprechungen zu den Bildern:

So möge denn, Hummel Hummel – Moors Moors,
geschehn was wir erträumen:
Der Reim ist die Klecksographie des Ohrs,
der Klecks will dem Auge sich reimen…

Einige wenige Male scheint Rühmkorf die Bilder allerdings erst später auf bereits vorliegende Texte gemacht zu haben. Daß dies überhaupt möglich war, zeigt, daß Rühmkorf sich bei seinen Klecksographien nicht völlig dem Zufall überlassen hat. Während Kerner feststellte, „daß man nie das, was man gern möchte, hervorbringen kann“, hat Rühmkorf, der auch ein begabter Zeichner ist, dem Zufall mehr oder minder sanft nachgeholfen. Das gibt er dann in seinem „Geständnis“ am Ende des Buches auch zu:

Was uns an diesen Spielen rührt,
das ist mit Schweiß nicht zu erkaufen.
Es ist zur Hälfte programmiert,
zur Hälfte so gelaufen.

Jürgen P. Wallmann, Rheinische Post, 16.4.1983

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Walter Vogl: Kleckse und Märchen
Die Presse, Wien, 27./28.8.1983

 

Peter Rühmkorf und seine Kleine Fleckenkunde

Ob Mann und Maus, ob Laich und Lurch,
die Kunst des Augenblicks ist:
entweder der Heilige Geist schlägt durch
oder schlägt nicht und nix ist.

Der Heilige Geist Deutscher Dichtung schlägt in Peter Rühmkorfs Kleiner Fleckenkunde gewiss nicht durch. Und dennoch bleibt uns etwas, das mehr als „nix“ ist: Einerseits die zweckfreie Freude an einem landläufig unkünstlerischen Verfahren – in der eigenen Kinderzeit oft genug geübt – und dessen halbwegs zufälligen Produkten, andererseits der begründete Verdacht, dass der Klecksograph und Schriftsteller Rühmkorf mit seinen Tintenfiguren und den beigegebenen Versen kleine bloße Ornamentik im Sinn haben mag.
„Die Methode Justinus Kerner ist der beste Fleckenentferner“ – dieses Motto verweist den Literaturkundigen auf die 1890 posthum gedruckten Klecksographien des schwäbischen Arztes, Dichters und Geistersehers Justinus Kerner (1786–1862), dessen Tintenbilder und verbale Fegefeuerphantasien nurmehr skurril anmuten. Die Methode des Magus aus Weinsberg aber bleibt frappant, und nutzbar für Provokatorisches.
„Was einer in Etappen kleckst. / braucht weiter keinen Klappentext“, und auch kein ausgreifendes, dieses Buch mit Theoretischem belastendes Nachwort. Deshalb nur ein Weniges zum Autor und seinen grundsätzlichen Abneigungen, die auch die Kleine Fleckenkunde mit bestimmen.
Peter Rühmkorf wird am 25. Oktober 1929 in Dortmund geboren. Seine Mutter ist Lehrerin, seinen Vater kennt er nicht, die Patenschaft übernimmt der protestantische Theologe Karl Barth. Diese Patenschaft wird Folgen haben. Aus dem Stürmer erfährt das Kind:

Karl Barth, der Kriegshetzer! – Auch der Theologe Karl Barth stimmt mit seiner antideutschen Propaganda und talmudischen Rabulistik in den Chor der jüdischen und freimaurerischen Kriegshetzer ein.

Das war 1938. Rühmkorf wird kein Nazi, ist in der Hitlerjugend nicht gern gesehen; die Schule erfährt er ausschließlich als „Penne, Druckanstalt, Kuriositätenkabinett“. Mit anderen Ausgegrenzten gründet er die Stibierbande, das sind junge Leute, die alliierte Flugblätter sammeln, um sie dann auch wirklich zu lesen, die in der nicht begriffenen Gefährdung Schmähverse und Witze erfinden, ein geringes Stück Gegenkultur besetzt halten.
Erste wahllose, bald aber systematische Lektüre: Freiligrath, Walt Whitman, Arno Holz, Johannes Schlaf, die Expressionisten. 1945 markiert für Rühmkorf den Beginn eines neugewonnenen Lebens. Endlich kann Versäumtes nachgeholt werden, Literatur und Leben scheinen für vieles offen. In den Jahren 1951 bis 1958 studiert Rühmkorf in Hamburg Germanistik und Psychologie. Mit seinem Freund Werner Riegel (1925–1956) gibt er seit 1951 die antimilitaristische Zeitschrift Zwischen den Kriegen heraus. Unter dem Pseudonym Leslie Meier schreibt er für den studentenkurier (später konkret) die Kolumne „Lyrikschlachthof“. 1956 (Heiße Lyrik, zusammen mit Werner Riegel) und 1959 (Irdisches Vergnügen in g) erscheinen erste eigene Gedichtbände. Es ist die hohe Zeit der Benn- und Kafka-Exegeten, der „Geist der Goethezeit“ prägt die holzhaltigen Vorlesungen und Seminare an der Universität. Die Erwartung eines demokratischen Neubeginns erfüllt sich nicht, da bleiben nur ironische Abrechnung und provokantes Dagegenreden. Peter Rühmkorfs Misstrauen gegenüber allem wie immer gearteten Raunen und Stilisieren findet seinen Grund in der Erfahrung eines sich selbst genügenden, konservativen Kulturbetriebes, der allenfalls die Geste des nonkonformistischen Warners erlaubte. Polemik und Verriss sind diesem Autor die geeigneten Mittel in der Auseinandersetzung. Sein programmatischer Aufsatz „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ (1962) zieht eine katastrophale Bilanz poetischer Farn- und Flechtenkunde. Was zählt, ist allzu wenig: Wolfgang Borchert, einiges von Böll, Koeppen und Andersch, der bissige Arno Schmidt, und natürlich die zornigen Anfänge Hans Magnus Enzensbergers.
Peter Rühmkorfs eigene Lyrik fasziniert schon bald wegen ihrer ausgestellten (auch zur Schau gestellten) Virtuosität. Da meldet sich einer zu Wort, der respektlos und kenntnisreich alle ihm sympathischen Register dichterischer Rede zieht, der jongliert, persifliert, Echos der Literaturgeschichte aufnimmt, eigentlich mit allem einmal Gelesenen etwas „machen“ kann. Man kann fragen, wo denn da der authentische Ton bleibe.
Peter Rühmkorfs Authentizität bestätigt sich im Zusammenwirken disparatester Sprach- und Kunstebenen: klassizistische Redeweise und Straßenjargon, Pathos und Understatement, Sonett und Abzählreim… dies alles nimmt der Autor in sein Gedicht hinein, als Rühmkorf-Lied sofort erkennbar, als „Dennoch- und Vorüberlied“ in einer Zeit gesellschaftlichen Stillstands. Haltbar bis Ende 1999 – so der ironische Titel eines Gedichtbandes des Jahres 1979 – sind diese Gedichte ohne Zweifel, manche von ihnen nicht sehr viel länger, das mag schon sein.
Die hinterhältigen Verse und Figurationen der Kleinen Fleckenkunde zielen wie eigentlich alles in Rühmkorfs umfangreichem Werk gegen eine beschauliche Kunst-Betrachtung und die ihr zugrundeliegende fatale Idee von der Kunst als einem weihevollen Phänomen. Wer hier das Sakrileg der Schmähung deutscher Klassik entdecken will, dem sei versichert, dass Peter Rühmkorf den Weimarer Geheimen Rat auch schätzt:

Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern.

Klaus Pankow, aus Peter Rühmkorf: Kleine Fleckenkunde, Insel Verlag, 1988

Marktplatz als Metapher oder Der literarische Wanderarbeiter

Nur der Anfang einer Wortkonkordanz soll dies sein, besser aber bloß eine schlichte Feststellung: Ein gewichtiges Wort in Rühmkorfs Gedichten und Selbstaussagen heißt zwischen. Die erste Publikation, eine hektografierte Monatsschrift, die er zusammen mit Werner Riegel ab 1951 herausgab, hieß Zwischen den Kriegen. Das war als Signal gemeint, also polemisch. Mittlerweile bezeichnet dieses zwischen aber eine geistige Ortsbestimmung. Das Gedicht „Hochseil“, eine poetische Selbstbespiegelung, schließt mit den Zeilen:

Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Und das berühmte Appell-Gedicht „Bleib erschütterbar und widersteh“ verweist wiederum auf eine Zwischenlage:

(…) zwischen Scylla hier und dort Charybde.

Diese Reihe ließe sich noch fortsetzen mit diversen Beispielen, auch solchen, in denen das Wort zwischen sich nicht expressis litteris findet, wohl aber gemeint ist.
Es ist ein bißchen waghalsig, aber ganz gewiß zutreffend, wenn man Rühmkorfs Position zwischen Himmel und Erde ansiedelt, nämlich auf dem Hochseil, das er so gern als seinen schwebenden Standort reklamiert, und nicht nur in dem so betitelten Gedicht. Es wird zur zentralen Metapher in allen seine Poetologie erläuternden Selbstaussagen der letzten fünfzehn Jahre. Was er auf dem Hochseil ausprobiert, erläutert er in dem Gedicht „Waschzettel“. Er übt „Balance (…) zwischen Krisen- und Klassenbewußtsein.“ Krisenbewußtsein bezieht sich hier – denn „Waschzettel“ ist ganz dezidierte „Ich-Poesie“ – auf die hin- und herschlingernden „Identitäts-Skrupel“ des dichtenden Individuums Peter Rühmkorf. Und der Balance-Akt zwischen Krisen- und Klassenbewußtsein reguliert sich zwischen seinen privaten Krisen und denen seiner Klasse. Über erstere braucht man hier nicht zu reden: Er hat sie freimütig ausgebreitet in Die Jahre die Ihr kennt, und natürlich auch in den Gedichten. Sein Klassenbewußtsein ist dagegen leichter zu orten (was nicht heißt, daß man es leicht nehmen kann!). Es meint nicht die Zuordnung zu der gesellschaftlichen Schicht, der er entstammt, sondern die, in die er hineingeriet durch seinen Beruf, also die Zugehörigkeit zu einer ganz speziellen Zunft, die ja wegen ihrer ungesicherten materiellen Basis eine Klasse für sich darstellt. Er hat sie ganz rüde und illusionslos so beschrieben:

(…) von ihren Verkaufs- und Vertriebsmethoden her sind diese wunderlichen Untenehmer nämlich nicht viel mehr als Wanderarbeiter. Saisonjobber. Unständige Obstpflücker oder hausierende Ambulante. Früher von Hof zu Hof, von Kloster zu Kloster, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt; dann – Klopstock – von Finanzier zu Finanzier, von Gönner zu Gönner, von Verleger zu Verleger; na und wir heute – bitteschön – von Funk zu Funk, von Kunstverein zu Kunstverein, von Zeitung zu Zeitung, von Fall zu Fall.

Mit einem Wort – wieder einem aus der Konkordanz –: der Schriftsteller ist abhängig vom Zwischenhandel. Diese Vermittlungsindustrie setzt sich aber nur ein, wenn es ihr selber Profit bringt, oder Renommee, oder am besten beides. Und also besteht da eine risikoreiche Abhängigkeit, die nur noch überboten wird von der Abhängigkeit des Schriftstellers von seinem eigenen Produktionsapparat. Was tun, wenn der Kopf einmal nicht produzieren will? Dann stürzt er – trotz dem parlamentarisch abgesegneten „Künstlersozialversicherungsgesetz“ – in eine Krise. Dieses spezifische Berufsrisiko, daß der Kopf einmal nichts mehr hergeben will, teilt der Schriftsteller mit dem Hochseil-Artisten, den die Angst plagt, daß seine Nerven einmal versagen und er abstürzt. Das Hochseil deutet also paradigmatisch auf die Absturzgefahr, die durch das Produktionsmittel gegeben ist.
Zum andern: das Hochseil wird zum Überlebensinstrument. Gegen die Not der Abhängigkeit vom Vertriebsapparat setzt Rühmkorf die Tugend der Selbstanpreisung. Wie sein in die „Leidensgenossenschaft der lyrischen Wanderarbeiter“ eingemeindeter Vorgänger Walther von der Vogelweide es ihm vorgemacht hat, so hat auch er sich schon seit langem in die Zunft der „herumziehenden Schausteller und Selbstanbieter“ eingereiht: „Wer einem Literaturwerk die gewisse Anfangsbeschleunigung“ geben will, weil sie von den Vertriebsapparaten nicht kommt, „muß sich selber rühren. Tragen die Bücher ihren Erzeuger nicht, muß der Erzeuger seine Bücher eben in die eigenen Hände nehmen.“ Oder noch prononcierter formuliert:

Nehmt Eure Gemischtwarenkörbe auf euch und wandelt – bindet die Bauchläden fester!

Die Bedingungen des mündlichen Vortrags von Lyrik, also der Direktübertragung von Lesbarem zu Hörbarem, dürfen aber nicht – und das muß mit sieben Ausrufezeichen betont werden – zu einer „Absenkung des literarischen Anspruchs“ führen. Gefälligkeit und leichtere Konsumierbarkeit werden mitnichten angestrebt. Nein, das Publikum soll nicht nach seiner Façon bedient werden, sondern sich zu der des Autors hinaufbemühen. Aus dieser unmittelbaren Anbietungsweise ergibt sich eine Herausforderung an den Dichter. Und die wird ebenso zu einer Provokation des Publikums. Das Wechselspiel der gegenseitigen Herausforderung ist es, dem Rühmkorf große Anstrengungen widmet, es ist ganz genau kalkuliert. Das heißt, es wird nicht durch auktoriale Herab-Lassung eine gefällige Kommunikationsebene hergestellt, auf der der Dichter zum Kumpel des Auditoriums wird. Er bleibt das eine, einzige Ich, also die „ins Gewand der Poesie gehüllte Erstepersoneinzahl, ein Wechselbalg von Persönlichkeit, halb der Natur entsprungen, halb ins Kostüm verwickelt“, ein Individuum, das die zur Kunst gewordene eigene Biographie aufs Hochseil hebt. Auch das ist eine Balance-Akt, den das Publikum aber nicht merken darf, so wenig wie man es dem Seilkünstler anmerkt, daß er hinter der lächelnden Maske seine Nerven aufs äußerste anspannt: „Seine wirklichen Gespenster wie eine zirzensische Seehundnummer vorführen und seine oft tief in Friedhofsboden wurzelnden Zwangsgedanken gegen wachsende Bühnenhimmel ausziehen (aber so, daß sie leuchten und Funken werfen), das scheint mir als experimentelle Herausforderung doch bereits die Schreibweise und den Satzbau anzugehen (…).
Schreibweise und Satzball bekommen in Rühmkorfs Lyrik seit längerem schon einen appellativen Gestus, sozusagen Aufforderungscharakter. Dafür ein paar Beispiele: Etwa aus dem Gedicht „Waschzettel“, wo der Dichter vom Hochseil herabruft:

Hier, meine Damen und Herren, bezeugt sich noch einmal (…).

Oder:

Eine Stimme, meine Herrschaften, eine Stimme!

Oder:

(…) also wissen Sie, eigentlich
bin ich nur auf die Welt gekommen,
um der Schöpfung mal ein bißchen unter die Röcke zu kucken –.

Oder:

K o m m e n   S i e   u n d   s e h n
die Beschehrung:
meine wild bewegte Deponie.

Dieses direkte Adressieren gibt sich nicht als feinsinnige Überredungskunst des Predigers – das Predigen überläßt Rühmkorf lieber den einschlägigen Fachleuten –: Es soll schwebendes Einverständnis zwischen Autor und Auditorium erzeugen. Wenn schon das eigene Innenleben – wir sind immer noch beim Ich – zu Markte getragen wird, dann muß die Selbstdarstellung mehr bewirken als nur Selbstdarstellung. Die „vom Verkauf ihrer selbst existierende Seele“ verharrt nicht in Solipsismus; sie verlangt, hoch auf dem Seil, nach dem „Geselligkeitsfaktor“. Der „literarische Gestus“ von Rühmkorfs Lyrik zielt also auf Mitteilbarkeit. Das Ich, wenn es sich der Masse vorführt, will sich eingemeinden. Und so heißt denn auch ein oft rezitiertes Gedicht „Von mir – zu euch – von uns“. Das jedoch appelliert nicht an das diffuse Wir-Gefühl der im Gleichschritt Marschierenden, nicht an den „Linken Marsch“, obschon Rühmkorf zugibt, daß Majakowskij ihn durchaus beeinflußt hat, Aber das hat nie zu Imitation oder auch nur zu gleicher Poetologie geführt. Der „Sozialisationsfaktor“ von Rühmkorfs Lyrik funktioniert sehr viel subtiler. Nach seiner Überzeugung hat das Gedicht „im wahrsten Sinn des Wortes (…) ein richtiges leibliches Sein. Seine Anteilnahme an der wirklichen Welt beschränkt sich nicht auf Meinungskundgaben und parteiliche oder parteiische Erörterungen – es drängt mit allen seinen Fasern (…) auf Beteiligung, magische Partizipation.“ Das Ich kann und will sich dabei gar nicht ausklammern, will nicht, wie der nachrevolutionäre Majakowskij, „dem eigenen Lied auf die Kehle treten“ und nur noch Agitation betreiben. Nein, das Ich ist absolut präsent, daraus macht Rühmkorf keinen Hehl:

Worum es geht, ist eine Ich-Poesie, in der das Ich sich freiweg in den Superlativ und in die Überheblichkeitsform begibt und in der doch gerade die gesteigerte Selbstwahrnehmung den Sozialisationsfaktor darstellt.

Das ist zugegeben – ein Glaubenssatz, begrifflich erklären läßt er sich nicht. Allenfalls dadurch, daß man das oft formulierte Bekenntnis des Autors, Dichten sei „sinnbildliches Handeln“, mit diesem Glaubenssatz in Verbindung bringt. Aber schließlich muß man ja auch nicht erklären, was sich viel besser durchs Erleben erfahren läßt: Die Veranstaltungen selber sind das schlüssigste Beweismittel. Vorgeführt wird nämlich Kunst als eine Form gesteigerter Überlebenskunst, natürlich nicht als Begleitbrevier nach dem Motto „Mit Goethe durch das Jahr“, sondern durch die Einladung, einem Balance-Akt beizuwohnen. Der beruht auf der Überzeugung, „daß jeder Mensch, den Menschen in seinen Spannungen und Zerspaltungen ernst zu nehmen und gleichzeitig eben diese Widersprüche auszubalancieren, künstlicher Natur ist. Und insofern ist Kunst hier nur ein Sinnbild für andere Harmoniebestrebungen, das heißt für Möglichkeiten, mit den ungeheuerlichen Widersprüchen der Welt und der eigenen Person in eine lebensmögliche Balance zu kommen.“ Der Nachvollzug dieses Balance-Akts durch das Auditorium ist es, den Rühmkorf mit der magischen Partizipation meint.
Was und wieviel hat das – um endlich das Ich in den Zeitbezug zu stellen – mit Politik zu tun? Ausdrücklich definiert der Autor das Ich als „politischen Stimmungsträger, als gesellschaftlichen Zeitanzeiger“. Was wird davon jeweils im Gedicht vermittelt? Im Zeitgedicht im günstigsten Fall: alles. Und in den übrigen wieder etwas, was mit dem Konkordanz-Wort zwischen zu tun hat. Das hängt schon mit der spezifischen Disposition des Autors zusammen, die er als „Schiefstellung zur Welt“ bezeichnet: „Der entscheidende Bruch liegt bei mir ja gerade dort, wo der Aufklärer in mir mit dem anarchistisch-vitalistischen Typus zusammentrifft.“ Die anarchischen Auf- und Abschwünge bleiben Privatvergnügen. Aufklärung aber zielt immer auf Adressaten, eben die, die aufgeklärt werden sollen. Um es mit platten antinomischen Begriffen zu erläutern: In Rühmkorfs Lyrik steht das Ich zwischen l’art-pour-l’art und engagierter Literatur, da gibt es nicht das eine pur und nicht das andere, sondern etwas, was exakt dazwischenliegt:

Was sich im Gedicht zu bezeugen hat, ist aber weder dies noch das: weder das Luxusgefühl der persönlichen Unversehrtheit noch das aparte Saturiertsein des Sozialanwalts, sondern die Bewußtseinsanfechtungen eines zwischen widersprüchlichen Wert- und Unwertvorstellungen zerteilten Zeit-Genossen.

Der „zerteilte Zeit-Genosse“ hält die Balance zwischen Aufklärung und Anarchie, weil eins ohne das andere unglaubwürdig wäre; der „Linke Marsch“ bliebe ohne das Ich bloßes Defilieren, und das private Luxusgefühl könnte er gleich für sich selber behalten. Denn Poesie ist keinesfalls „das erdentbundene Flügelwesen (…); ihr Grund und Boden ist noch immer das sinistre soziale Sein, dort sammelt sie ihre Erfahrungen und nimmt ihre Kollisionsschäden entgegen wie jedermann sonst.“
Damit bekommt auch der appellative Gestus noch eine weitere Dimension; oft zielt er nicht bloß auf magische Partizipation, sondern er will wecken und aufrütteln, wie in dem Gedicht „Allein ist nicht genug“. Die letzte Strophe macht das ganz deutlich:

Doch Schrein alleine macht dich noch nicht klug.
Alleine schreien macht die Welt nicht klug.
Du sollst nicht so wie alle sein.
Doch manchmal mußt du viele sein:
a l l e i n
a l l e i n
a l l e i n  i s t  n i c h t  g e n u g

Um diesen Appell zu verstärken (aber auch aus diversen anderen Gründen, die hier nicht alle aufgezählt werden sollen), hat Rühmkorf schon früh einige Mitartisten auf sein Hochseil gezogen, den Komponisten und Pianisten Michael Naura und seine band. 1966 traten sie zum erstenmal gemeinsam auf dem Adolphsplatz hinter dem Hamburger Rathaus auf. Dreitausend Leute standen da und hörten zu, wie von einem Lastwagen herab abwechselnd Jazz und Lyrik vorgetragen wurde. Das hatte es bei uns noch nicht gegeben, und ich weiß noch genau, wie damals sogar sogenannte aufgeschlossene Leute, die nicht dabei waren, die Nase rümpften; man hielt das für populistische „Anmache“. Inzwischen hat sich diese Art von Darbietung, die ja Potenzierung des einen durch das andere ist, längst durchgesetzt, ist auch von anderen imitiert worden. Also keine Monopolstellung mehr, wohl aber die Urheberschaft für ein Pilotprojekt kann die Gruppe beanspruchen. Damals, vor 1968, spielte gewiß eine Rolle, daß sich unter der bundesdeutschen und bundesweiten Restauration viel unterschwellige Protestenergie angesammelt hatte, doch war die Erprobung neuer Mischformen keineswegs als purer Aktionismus gedacht. Vielmehr sollten Lyrik und Jazz sich gegenseitig tragen und: möglichst sogar steigern. Damit wurde das Hochseil auch zu einem Halteseil, weil eine „genossenschaftlich bestrittene Balance-Nummer (…) erbaulicher“ ist, als wenn einer allein in höchsten Höhen herumturnt. Ausdrücklich versichert Rühmkorf heute, daß er sich als „Teil des Ensembles“ fühlte.
Trotzdem gab es für dieses Veranstaltungsmodell dann zunächst eine Pause von rund zehn Jahren, über deren Gründe hier nicht spekuliert werden soll. Sie ist längst vorbei, und mittlerweile hat die Zusammenarbeit zwischen Rühmkorf und Michael Nauras band nahezu symbiotische Züge angenommen. Die „medialen Schwingungen“, die die Poesie nach der Überzeugung des Dichters eh schon verbreitet, werden durch die Musik noch befördert. Denn sie ist nicht, und war es nie, Begleit- oder Untermalungsmelodie, sondern eigenständige Stimme. So gewinnt das Zusammenspiel seine Autonomie, die Peter Rühmkorf in einem Rundfunk-Gespräch mit Michael Naura mit den Worten erläutert: „Ich vertraue mich euch an wie ein Segelflieger sich den jeweils herrschenden Auf- oder Abwinden, ihr sorgt für die nötigen thermischen Bedingungen, und ich laß dann meine kleinen Papierdrachen steigen.“ Diesen Vorgang umschreibt der Autor mit einer eigenen Wortschöpfung, die „Levitation“ heißt, das Gegenstück zur Gravitation. Die Fliehkraft freilich soll nur eine Spanne hoch tragen, nur so weit, daß das Publikum noch teilnehmen kann. Denn Kunst ist, „und sie hat auch gar nichts anderes im Sinn als: Kommunion und Kommunikation. Desgleichen dient die Wortkunst keinem edleren Zweck und keinem höheren Ziel als Gemeinschaft zu stiften, vorzugsweise eine Gemeinschaft der Ungläubigen, Abseitigen, Ausscherenden.“ Und das soll, wenn es hoch kommt, über den Tag, über die Veranstaltungsstunden hinausreichen. Sich bestärkt fühlen, zu wissen, daß man nicht allein ist mit seinem Protest, mit seiner Wut über die herrschenden Verhältnisse, das kann diese zwar nicht verändern, aber doch die eigene Energie beflügeln und vielleicht zu klitzekleinen Widerstandshandlungen stimulieren. Wer davor schon die Flügel streicht, wer glaubt, daß solche „Levitations“anstöße nur von zwölf bis hoch Mittag reichen, der hat die listige Dialektik von Rühmkorfs „renitentem Weder-Noch nicht begriffen, die da heißt:

Zeitig zu Bett,
um unter neuen Gestirnen,
morgen mit frischem Mut zu verzweifeln.

Vom Keller über den Marktplatz aufs Hochseil: Das ist der Weg des literarischen Wanderarbeiters, dessen Initialen haargenau die gleichen sind wie die von public relations. Er wollte von Anfang an sein eigener PR-Mann sein. Angefangen hat das zu Beginn der fünfziger Jahre, als er in dem Hamburger Literatur- und Jazz-Keller Anarche auftrat, wo der „lyrische Einzelgänger (…) von anderen Einzelgängern als ihr Sprachrohr und ihre Stimme“ empfunden wurde, sich aber doch deutlich im Abseits fühlte. Und dann, in den sechziger Jahren, immerhin ein rundes Lustrum vor „achtundsechzig“, heftige Proteste gegen das „Ideologem der Stillhaltegesellschaft“, z.B. – unter anderem – formuliert in dem Aufsatz „Einige Aussichten für Lyrik“ von 1963:

Es gibt die reine Löseformel nicht, die das Gedicht entbindet und seinen Autor, jenseits von Zorn und Anteilnahme, in Freiheit setzt.

Das setzte sich fort, kippt aber in den siebziger Jahren um in neue Tonlagen, etwa in dem Gedicht „Druse“, das einen Hauch von „Friedhofsluft“ vermittelt, die den politischen Niederlagen und zerstobenen Hoffnungen“ am Ende dieses Jahrzehnts zuzuschreiben ist.
Und trotzdem zog es Rühmkorf und seine Jazz-Genossen immer wieder auf den Markt. Sie traten bei verschiedenen Festivals und politischen Veranstaltungen auf, „um die schwankenden Reihen wieder aufzulichten und den richtigen Kommunikationsgeist zu verbreiten.“ Immer eingedenk des oft und oft angefochtenen Glaubenssatzes, daß die „Himmelsmacht (…) der Poesie, verstärkt durch den Resonanzboden der Musik, doch als „ansteckendes Beispiel“ wirken kann.
Und dabei ist es, trotz mancher Desillusionierung, geblieben. Rühmkorfs Haß auf alles, was nach Resignation riecht, ist geradezu existenziell. Er will aufrütteln, und das nicht mit Reden und Aufrufen, nicht mit polemischen Sonntagspredigten, sondern mit Hilfe der Poesie. Eben der traut er zu, daß sie mehr erreicht als bestätigendes Kopfnicken. Er glaubt an ihre magische Kraft. Und zwar deshalb, weil sie für ihn kein Gebrauchsartikel ist, den man gegen billigen Konformismus eintauschen kann. So leicht macht sie’s einem nicht. Übrigens auch nicht dem Publikum. Das muß schon eine kleine Anstrengung vollbringen, muß sich dem „Levitations“sog selbst-bewußt überlassen. Dabei weiß es, daß das Hochseil mit seinen Halterungen am Boden befestigt ist, dem Boden, auf dem es selber steht.
Wenn nun zum Schluß auch hier das unvermeidliche „delectare et prodesse“ aufs Tapet kommt, so sei nur darauf verwiesen, daß das „et“ bei Rühmkorf einen extradicken Akzent hat. Den Wirkungsgrad der Musik, ihre dramaturgische Funktion, konnte ich dabei allenfalls streifen: Sie ist besser überprüfbar durch das Ohr. Jedoch, zur erwünschten „Levitation“ trägt sie ganz entscheidend bei. Da vom „prodesse“ schon gebührend die Rede war, zum Schluß ein Votum fürs „delectare“:

Kunst als Artistik will die Erdenschwere mit allen, wirklich allen (…) Mitteln überwinden und das scheinbar Unerträgliche wenigstens mit schönem Schein erträglich machen.

Elsbeth Wolffheim, aus: TEXT + KRITIK – Peter Rühmkorf Heft 97, edition text + kritik, Januar 1988

Der unverkennbare Rühmkorf-Sound

Von allen Schmerzensmännern der Poesie war er der luftigste. Virtuos wie kein anderer hat Peter Rühmkorf die Schwermut zum Tanzen gebracht. Seitdem Robert Gernhardt das Zeitliche gesegnet hat, konnte kein Vers- und Reimkünstler ihm mehr das Wasser reichen.

Von allen Schmerzensmännern der Poesie war er der luftigste. Virtuos wie kein anderer hat er die Schwermut zum Tanzen gebracht. So konnte auch der Tod ihn nicht überraschen; denn schon mit seinen frühesten Versen hat er ihm über die Schulter geschaut. Andere Dichter mögen es darauf anlegen, ihre Leser mit ihrer Weheklage zu deprimieren. Das ist eine Kunst, von der Peter Rühmkorf wenig hielt. Er zog es vor, uns mit einer Heiterkeit zu unterhalten, die, wie das Leben selber, nie ganz geheuer war.
Jedenfalls seitdem Robert Gernhardt das Zeitliche gesegnet hat, konnte kein Vers- und Reimkünstler ihm mehr das Wasser reichen. Allen politischen Anwandlungen zum Trotz hielt Rühmkorf sich an die Tradition. Nicht um Nachfolge ging es ihm dabei, sondern um hemmungslose Anverwandlung. Bei Gryphius und Harsdörffer hat er sich ebenso bedient wie bei den wildesten Expressionisten. (Nicht einmal vor Klopstock ist er zurückgeschreckt.)

So bleibt er eben unser
Besonders liebevoll hat er sich um Walter von der Vogelweide gekümmert, den außer ihm nur noch die Germanisten kennen. Das ist natürlich kein Zufall; denn ganz so, als hätten Gutenberg und Marconi nicht flächendeckend gesiegt, machte er sich, wie sein Vorbild aus dem dreizehnten Jahrhundert, als vazierender Dichter unermüdlich auf die Reise, um das zahlende Publikum live zu entzücken.
Den unverkennbaren Rühmkorf-Sound wird kaum einer vergessen, der dabei war. Von Castrop-Rauxel bis Solothurn und von Jever bis Sankt Pölten gibt es wohl keinen Ort deutscher Zunge, an dem man seine Stimme nicht vernommen hätte. So innig hing er freilich an den Brüsten unserer Sprache, daß nur wenige Verwegene es wagten, seine Verse in die Idiome von Paris, New York und Beijing zu übersetzen. Wir, seine Hinterbliebenen, aber können ihm und uns zum Trost sagen: Um so schlimmer für alle, die kein Deutsch verstehen! So ist und bleibt er eben unser.

Hans Magnus Enzensberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.6.2008

 

Rühmkorfs Kleine Fleckenkunde –

eine Kontrafaktur von Justinus Kerners Kleksographien 

1.
Im Haffmans Verlag erschien im Jahr 1982 ein kleines Bändchen im Oktavformat mit 111 Buchseiten und 65 Grafiken – die Kleine Fleckenkunde von Peter Rühmkorf. Es handelt sich um ein sorgfältig hergestelltes, nach Regeln der klassischen Buchkunst gestaltetes Büchlein mit graphisch bedrucktem Vor- und Nachsatz, Widmung auf der Rückseite des Titelblatts und einem illustrierten Motto auf der gegenüberliegenden Seite. Dominierend sind in dem Büchlein die monochromen (schwarz-weißen) Grafiken – Insekten, Gesichter, Paare, Pflanzen, Flügelwesen vom Engel bis zum Schmetterling –, die meist über die ganze Seite reichen, manchmal auch über eine Doppelseite, sodass die Buchfalz die Mittelachse eines symmetrischen Bildes darstellt. Unter, über oder neben den Abbildungen stehen jeweils kurze aphoristische Gedichte von Rühmkorf, die sich auf die jeweilige Abbildung beziehen, diese erläutern oder kommentieren.
Die Kritiker konnten mit dem Büchlein nicht viel anfangen. ,Ganz hübsch‘, war der Tenor. Jürgen P. Wallmann schreibt im April 1983 in der Rheinischen Post:

Der kleine, hübsch gedruckte Band […] braucht auch keine lange Rezension, verdient aber doch, als intelligentes Spiel, einen empfehlenden Hinweis.1

Elf Jahre nach dem Erscheinen der Kleinen Fleckenkunde, als die Stadt Weinsberg Peter Rühmkorf im Jahr 1993 den Justinus-Kerner-Preis verleiht, kommt Rühmkorf in seiner Dankesrede auf die Entstehungsgeschichte des Büchleins zu sprechen.2 Er erzählt, wie 1980 aus seiner zurückliegenden Beschäftigung mit dem Reim endlich ein Buch entstanden war: agar agar – zaurzaurim, Rühmkorfs Frankfurter Poetikvorlesungen, die im Jahr 1981 sowohl bei Suhrkamp wie bei Rowohlt mit dem Untertitel „Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven“ veröffentlicht wurden. Für die Rowohlt-Ausgabe hatte Rühmkorf lange nach einem geeigneten Cover gesucht, mit dem sich das Thema des Buches, der Reim, optisch umsetzen ließe. „So hatte ich mich gegen Ende der siebziger Jahre einmal ausführlich mit dem Reim befaßt –“, so Rühmkorf in seiner Weinsberger Dankesrede, 

dem Reim als Anruf und Echo, Schall und Widerhall, aber auch als Gleichgewichtsorgan des Verses und einer probaten Balancierstange – als ich mich nach Fertigstellung der Arbeit der schier unlöslichen Aufgabe gegenübersah, die beschriebenen Echoeffekte in ein optisches Signal für den Buchumschlag umzusetzen. […] Nachdem mich wirklich alle mir bekannten Maler, Grafiker, Lichtbildner, Zeichner und Umschlaggestalter im Stich gelassen hatten und eigene Versuche mit Collagen und Frottagen kläglich fehlgeschlagen waren, erinnerte ich mich – nein, nicht zunächst an meine eigene Kinder- und Klecksmacherzeit, sondern – an eine alte „Deutsche Literaturgeschichte“ von Robert König, Abteilung „Der schwäbische Dichterkreis“, und da lag er auch schon ausgebreitet vor mir, der mit der inneren Sympathiesonde ahnungsvoll heranzitierte Musterfalter/Paradeklecks: ein wunderbar fein geädertes und bis an die äußersten Fittichränder gleichmäßig geschupptes Flügelwesen, symmetrisch wie ein Doppelmoppel und zart verbandelt wie ein Techtelmechtel, und ich wußte sofort, das ist er, der seit vielen Wochen ohnmächtig herangesehnte Augenreim.3

Was Rühmkorf da in der alten Literaturgeschichte vor sich sieht,4 ist eine sogenannte ,Klecksographie‘, eine Grafik, die entsteht, wenn Flecken von Tinte, Druckerschwärze oder Kaffee auf ein Blatt getropft und dann gefaltet und bearbeitet werden – ein Zufallsbild, ein ,Klappdruck‘ im kunstwissenschaftlichen Jargon. Zur Kunstform entwickelte sich die Klecksographie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, doch bereits in der Renaissance hatten Künstler wie Leonardo da Vinci und Giorgio Vasari mit Flecken experimentiert, um Problemen der Inspiration und Imagination näher zu kommen. Rousseau und Kant knüpften hier an, wenn sie in der Auseinandersetzung mit Flecken die Voraussetzungen künstlerischer Einbildungskraft zu ergründen suchten. Kleckse und Flecken spielen epochenübergreifend bei der Beschäftigung mit Problemen der Kreativität, Phantasie und Einbildungskraft eine Rolle, doch erst mit der Industrialisierung, als jene Kräfte unter dem Eindruck technisch-maschineller Denk- und Herstellungsformen neu zu bestimmen sind, rücken der Klecks – und mit ihm die Klecksographie – in eine höhere kunsttheoretische Position, geht es doch bei der Klecksographie darum, die natürliche Fähigkeit des Kleckses, selbst Formen und Gestalten hervorzubringen, mit der gestaltenden Lenkung dieses Prozesses durch den Künstler zusammenzustimmen.
Zu den namhaften Klecksographen gehörten Victor Hugo, George Sand, Wilhelm Kaulbach, Franz von Pocci und Justinus Kerner (1786–1862). Von ihm soll der Begriff Klecksographie angeblich stammen. Er ist heute in der kunstwissenschaftlichen Terminologie etabliert und bezeichnet eine im 19. Jahrhundert entstandene halbautomatische künstlerische Technik, die später von den Surrealisten, von Max Ernst und Joseph Beuys wiederaufgenommen wurde.5 Dabei war Justinus Kerner kein bildender Künstler – er war Arzt und Dichter, schrieb literarische Texte unterschiedlichster Gattungen (einige davon sind von höchster Qualität) und veröffentlichte spiritistische Schriften. Er war einer der bekanntesten deutschen Spiritisten; sein Buch Die Seherin von Prevorst. Enthüllungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unserige (1829), in dem er über seine Patientin Friederike Hauffe, ein Medium, berichtet, wurde zum internationalen Bestseller und machte Kerner berühmt6 In der Folge publizierte er eine Fülle von wissenschaftlichen Schriften zu spiritistischen Phänomenen. Der Spiritismus, der Glaube an die Existenz von Geistern, wuchs im 19. Jahrhundert zu einer Massenbewegung an; in der zweiten Jahrhunderthälfte ging er jedoch unter, weil zunehmende Betrügereien bei den Geistererscheinungen ihn in Misskredit brachten. Bis dahin galt der Spiritismus als exakte Naturwissenschaft, und so gab es für den Arzt Kerner keinen Widerspruch zwischen seinen spiritistisch-okkulten und seinen medizinischen Forschungen. Geister, gemeint waren in der Regel die sich über ein Medium mitteilenden Geister Verstorbener, waren für Spiritisten Naturerscheinungen; wie Christen glaubten sie an ein Leben nach dem Tod, grenzten sich aber in vielem anderen vom traditionellen Christentum ab. Im Fall von Justinus Kerner galt vielen sein Spiritismus als sein Handicap, das ihn als begabten Literaten wie als talentierten Wissenschaftler an noch größeren Leistungen gehindert habe; heute erkennt man umgekehrt die Modernität seiner Schriften gerade in ihrer Verbindung von naturphilosophischer Spekulation, theoretischer Reflexion und künstlerischer Phantasie.

2.
Eines seiner originellsten und interessantesten Werke sind die Kleksographien, ein Buch, an dem er in den 1820er Jahren zu arbeiten begann, das in den 1840ern bereits zu großen Teilen fertiggestellt war,7 und das er, der Datierung des Vorworts entsprechend, 1857 fertiggestellt hatte. Kerner hat immer wieder gezögert, die illustrierte Handschrift zu Lebzeiten in den Druck zu geben. Er pflegte sie seinen Briefen an Freunde zur Ansicht beizulegen, verbunden mit der Bitte um baldige Rücksendung.8 Erst posthum, knapp 30 Jahre nach Kerners Tod, übergab sein Sohn Theobald das Kleksographien-Buch der Deutschen Verlagsanstalt zum Druck und machte es so einem breiten Publikum zugänglich.9 Ein Faksimile der 21,1×33 cm großen Handschrift, die im Deutschen Literaturarchiv liegt,10 hat der Justinus-Kerner- und Frauenverein Weinsberg 1998 als Buch veröffentlicht, nun mit dem der Handschrift entsprechenden vollständigen Titel: Kleksographien. Hadesbilder kleksographisch entstanden und in Versen erläutert von Justinus Kerner.11 Das Buch enthält 49 Klecksographien12 – düstere, phantastische Figuren; jeder ist ein erläuterndes Gedicht zugeordnet. Das Vorwort (datiert auf 1857) widmet Kerner der Entstehungsweise seiner Bilder, es ist ein Dokument seiner spiritistischen Grundhaltung: 

Die Kleksographie.
Es wird wohl Manchem by Lesung und Betrachtung dieser Blätter vielleicht zu Sinne kommen: wie er schon in frühester Jugend durch Zerdrükung von kleinen färbenden Beeren, ja gar Fliegenköpfen usw. auf zusammengelegtem Papier, ohne Kunst, ohne Hülfe von Blystift u. Pinsel, Zeichnungen hervorgehen sah. Dessen erinnere ich mich auch noch aus meiner Jugend. Die Zunahme einer halben Erblindung war die Ursache, daß ich es in diesem jugendlichen Spiel weiterbrachte: denn dadurch fielen mir, wenn ich schrieb, sehr oft Dintentropfen auf’s Papier. Manchmal bemerkte ich diese nicht und legte das Papier ohne sie zu troknen zusammen. Zog ich es nun wieder von einander, so sah ich, besonders wenn diese Tropfen nahe an einen Fals des Papiers gekommen waren, wie sich manchmal simetrische Zeichnungen gebildet hatten, namentlich Arabesken, Thier- u. Menschenbilder u.s.w. Diß brachte mich auf den Gedanken: diese Erscheinung durch Übung zu etwas größerer Ausbildung zu bringen
. […] Dintenklekse (schwäbisch Dintensäue) die auf der Seite des Falses, (auf dessen rechter oder linker Seite, aber nie auf byden,) eines zusammengelegten Papiers gemacht werden, geben, (nachdem man das Papier über dieselben legte u. sie dann mit dem Ballen, oder dem Finger der Hand, bestreicht,) Kraft ihrer Doppelbildung, die sie durch ihr Zerfließen und Abdruk auf dem drinnen Raume der andern Seite der Linie erhalten, der Phantasie Spielraum lassende Gebilde der verschiedensten Art. Bemerkenswerth ist, daß solche sehr oft den Typus längst vergangner Zeiten aus der Kindheit alter Völker tragen wie z.B. Götzenbilder, Urnen, Mumien u.s.w. Das Menschenbild wie das Thierbild, tritt da in den verschiedensten Gestalten aus diesen Kleksen hervor, besonders sehr häufig das Gerippe des Menschen. Wo die Phantasie nicht ausreicht, kann manchmal mit ein paar Federzügen nachgeholfen werden, da der Haupttypus meistens gegeben ist. So kann z.B. ein Menschenbild in seiner fast ganzen Gestalt u. Bekleidung herauskommen, jedoch vielleicht ohne Kopf, Hand u.s.w. wo, was auch in nachstehendem geschehen, hie u. da das Fehlende leicht zu ersetzen ist. Bemerkt muß werden, daß man nie das was man gerne möchte, hervorbringen kann u. oft das Gegentheil von dem entsteht, was man erwartete.13

Es ist die besondere Entstehungsweise seiner Klecksographien, die Kerner im Vorwort seines Buches hervorhebt. Mit dem Kinderspiel, Beeren zwischen Papier zu zerdrücken, habe sein Verfahren, die Bilder entstehen zu lassen, nichts zu tun. Es geht vielmehr um jenen dämmerigen Zwischenzustand, der – wie Trance, Somnambulismus oder Hypnose – die Voraussetzung dafür darstellt, ein spirituelles Medium zu sein. In Kerners Fall ist es seine zunehmende Halbblindheit, die es ihm ermöglicht, dass die Geister ihn als ihr Medium auswählen. Wenn er in diesem Zustand absichtslos Tintenkleckse zwischen Papierblätter presst, bringt er „Arabesken, Thier- u. Menschenbilder“ zum Erscheinen – Bilder von Geistern und Dämonen. Indem er das Papier „mit dem Ballen, oder dem Finger der Hand, bestreicht“, hilft er diesen bis dahin unsichtbaren Geisterwesen, durch die Klecksographien sichtbar zu werden. Dennoch ist dies nur als eine Art Unterstützung dieser Wesen zu denken, denn immer wieder betont Kerner in den Gedichten zu den Klecksographien seine grundsätzliche – eben mediale – Passivität bei diesem Prozess: „Diese Bilder aus dem Hades, | Alle schwarz u. schauerlich, | (Geister sinds, sehr niedern Grades.) | Haben selbst gebildet sich | Ohn’ mein Zuthun, mir zum Schrecken, | Einzig nur – aus Dintenfleken“;14 „Menschenhand hat nicht diß Bild gemacht, | Gleich den Andern kam’s durch eigne Macht | Ongeahnet aus der Dinte Nacht.“15 Auch in den sich anschließenden Gedichten hebt er häufig hervor, dass die Bilder von selbst entstehen, dass sie nicht Geister zeigen, sondern Geister sind. Es handelt sich bei Kerners Klecksographien also um keine mimetische Kunstform, denn die Bilder existieren bereits vor ihrer Materialisation in Tinte.16 Als ihr Medium muss Kerner sie nicht nur durch sich hindurch lassen, er muss sie auch erspüren und die Ausbildung ihrer Gestalt unterstützen – durch die Ausrichtung des Bildes, durch Bearbeitung des Kleckses mit Pinsel und Feder, durch Verreiben der Tinte mit den Händen. Dennoch: Kerner betont in seinem Vorwort, dass die Bilder keinesfalls von seiner Hand entstehen, dass man „nie das was man gerne möchte, hervorbringen kann u. oft das Gegentheil von dem entsteht, was man erwartete.“
Kerners Klecksographie-Buch liegt die elementare Praxis des Spiritismus zugrunde, den Geistern eine Möglichkeit zu geben zu erscheinen. Dies wird einmal mehr im ersten, sich an das Vorwort anschließenden Gedicht mit dem Titel Memento mori! deutlich, das im Buch den Status eines Mottos einnimmt. Darin fordert der Sprecher des Gedichts den mit „du“ angesprochenen Leser auf, den Geist in seinem Inneren heraustreten zu lassen:

Ruf auf! ruf auf! den Geist, der tief
Als wie in eines Kerkers Nacht
Schon längst in deinem Innern schlief
Auf daß er dir zum Heil erwacht.

[…]

Drum ringe, schaffe, biß der Geist,
Thut’s auch dem Fleische weh, gesiegt,
Sich aus der Nacht zum Lichte reist
Und unter ihm die Schlacke liegt
.17 

Die Geister, die Kerner im Folgenden vorstellt, entstammen einem „Mittelreiche“18 zwischen Himmel und Hölle, das er „Hades“ nennt; es sind die Geister derjenigen Toten, die ihre irdischen Laster und Verbrechen noch nicht gesühnt haben. Sie gehören so lange zu dieser Sphäre, bis sie bereuen und Buße getan haben. Von Zeit zu Zeit erscheinen die unerlösten Wiedergänger in der irdischen Welt, um die Menschen zu erschrecken und ihre Existenz zu bekunden:

An Orte, wo sie Schlimmes einst vollbracht
Hinschweben sie als Schatten durch die Nacht.
19

Kerner identifiziert sie auf der Grundlage des jeweiligen Klecks-Bildes und nennt ihre Verbrechen und Laster – es geht um Fälscher, Vergnügungssüchtige, Spieler, Verräter, Mörder, Trinker, Eitle, Eingebildete, Verschwender.
Sie alle müssen im Hades einen Prozess durchmachen; sie müssen sich ihrer Fehler bewusst werden und ihre Sünden bereuen; erst dann können sie in den Himmel aufsteigen wie der Schmetterling, der sich aus der Verpuppung befreit hat – dem Zentralsymbol von Kerners Buch. Was dort auf sie wartet, ist eine Erlösung im christlichen Sinn; dies legen die letzten Verse des Buches dar:

Doch nicht ewig währt die Nacht!
Eine Liebe, eine Liebe
Selbst noch ob der Hölle wacht.
Strahlen schikt in alle Ringe
Seines Alls, Gott noch so weit,
Seine Wahrheit, seine Klarheit,
Liebe u. Barmherzigkeit
Und durch sie,
Bringt zu
einer Harmonie
Er zurük einst alle Dinge
.20

Der Ton von Kerners Gedichten in den Kleksographien ist volkstümlich und balladenhaft-schaurig; die recht kunstlosen Texte handeln von verschiedenen Zuständen des Tot-Seins, von Laster, Verbrechen und der Aussicht auf Vergebung; nicht selten enden sie in einem christlich-moralischen Apell. 

3.
Als Peter Rühmkorf in Koenigs Literaturgeschichte den von Justinus Kerner klecksographierten Schmetterling sah, hatte er das lange gesuchte Coverbild für agar agar – zaurzaurim, sein Buch über den Reim, endlich gefunden. So erzählt er es in seiner Weinsberger Rede anlässlich der Verleihung des Justinus-Kerner-Preises:

[I]ch wußte sofort, das ist er, der seit vielen Wochen ohnmächtig herangesehnte Augenreim.

In den Klecksographien erkennt Rühmkorf die optische Umsetzung des Lautphänomens Reim – symmetrische Naturgebilde, bei denen keine Hälfte ohne die andere denkbar ist. Dabei fasziniert ihn nicht nur die offenkundige Analogie zweier Kunstformen; es geht ihm auch und vor allem um die wechselseitige Anziehung zwischen den klanglichen und bildlichen Symmetrien:

Wie nämlich der Reim die Klexos an- und nach sich gezogen hatte – als ein Echo des Auges gewissermaßen und sein optisches Widerspiel – haben die unter meinen Händen so zahlreich entstandenen Klecksbilder ihrerseits nach einer synästhetischen Ergänzung gerufen, nennen wir es der Einfachheit halber eine sie bedeutende Lautgestalt.21

Reimverse schreien nach ihrer Illustration durch Klecksographien und Klecksographien – so sieht es Rühmkorf – rufen nach gereimten Versen. Dass diese allerdings gar nicht so einfach herzustellen sind, musste der Preisträger erst leidvoll erfahren: 

Umgehend kaufte ich mir Tintenfässer, Pinsel und Pipetten und ließ freiweg abtropfen, ohne allerdings auch nur halb so schöne Resultate zu erzielen. Ganz im Gegenteil sahen mich meine mit unendlich viel trial and error erplätteten Faltgestalten geradezu erbärmlich flau und stumpfsinnig an. Egal, wie mitfühlsam ich mit dem Handrücken über die zusammengelegten Seiten strich, es entfaltete, enthüllte, entwickelte sich mir nichts außer diesen larvenhaften Flachmaninows: nicht die Spur von beseelten Imagines und meilen- wenn nicht sternenweit entfernt von dem kernerschen „Königs“-Klexo. Wer nicht die genügenden Kenntnisse hat, der muß sich durchfragen, das ist eine alte Goldmacherregel; also klopfte ich praktischerweise zuerst bei dem Graphiker Albert Schindelhütte an (Oevelgönne 51, das heißt rechterhand unter mir), der mich dann auf den fundamentalen Unterschied von Auszieh- und Lithographentusche hinwies. Er hatte sogar eine kaum erst angebrochene Dose mit Encre Litographique im Hause, ein französisches Fabrikat, noch aus der guten alten Toulouse-Lautrec oder Steinlen-Zeit, und schon machten wir uns gemeinsam ans Klecksen und Drucken, daß es nur so eine Art hatte. Es hatte auch wirklich Art, denn wie zielstrebig oder nachlässig wir die Tropfen immer fallen ließen, und wie umsichtig oder absichtslos wir die Blätter hinterher falteten und preßten, es kam eigentlich jedes Mal ein grafisches Wunder dabei heraus. Ein zur Abwechslung einmal von oben rechts nach unten links durchgezogener Pinselstrich entpuppte sich nach dem Auseinanderziehen des Blattes als spreizbeinig flächenfüllende Flügelfigur, halb Batman, halb Viktoria. Eine kunstlos am Kniff entlang geführte Wellenlinie nebst einem ärgerlichen Zufallstropfen im Oberteil entfaltete sich gar als ein buddhistischer Beter im Lotussitz. Und so ging es weiter und fort, ein regressives Spaßvergnügen, das sich mit den Wochen und den sichtlich sich mehrenden Glücks- und Zufallstreffern zu einer wahrhaftigen Sucht auszuwachsen begann, die Sucht zur Seuche, die dann alle möglichen Leute ansteckte, am Ende sogar kleine Kinder; […].22

Schließlich, so Rühmkorf in seiner Dankesrede weiter, habe er, unmittelbar nachdem das Buchcover für agar agar – zaurzaurim gefunden war, die Kleine Fleckenkunde gekleckst und geschrieben. Er widmet das Büchlein Justinus Kerner. Wie dieser in seinen Kleksographien arbeitet Rühmkorf in der Fleckenkunde mit Bild-Text-Arrangements; an axialsymmetrische Klecksbilder fügt er kurze Verstexte mit Kreuz- oder Paarreimen an, sinnspruchartige Mehrzeiler, die sich auf die jeweiligen Bilder beziehen. Es ist diese auffällige formale Parallelität von Bild und Text, bei der die wenigen vorliegenden Forschungsbeiträge zur Kleinen Fleckenkunde ansetzen.23 Sie orientieren sich an Rühmkorfs eigenen Äußerungen vom „Echo des Auges“ auf den Reim bzw. der „synästhetischen Ergänzung“ der Klecksographien, wie er sie in der Weinsberger Rede formuliert hat. Man deutet Rühmkorfs Buch poetologisch, als Dokument seiner Artistik, indem man die Doppelstrukturen in Bild und Text hervorhebt – Symmetrien, Spiegeleffekte, Anagramme, Palindrome, Alliterationen, Sprachspiele. Mehr noch: Man erkennt das „Fleck-Verwandlungsverfahren als Modell der Kunstpraxis schlechthin“.24 Rühmkorf eifere mit der Kleinen Fleckenkunde Kerners Kleksographien nach, sein Büchlein stelle eine Hommage an den schwäbischen Arzt und Dichter dar.25
Bereits ein flüchtiger Blick auf die Abbildungen in beiden Büchern legt etwas anderes nah. Während sich bei Kerner dem Betrachter unheimliche Geisterwesen präsentieren, Gerippe, Vampire, Untote, Mumien, Teufelchen, Monster und Leichen, so zeigen sich in Rühmkorfs Büchlein tanzende, spielende Menschen, womöglich Liebespaare, Tiere, die sich lieben und küssen, überhaupt schöne, anmutige Pflanzen und Tiere, menschliche Gesichter, zur Liebe bereite Frauen mit großen Brüsten und geöffneten Schenkeln, auch weibliche und männliche Geschlechtsorgane. Anders als Kerners Bilder haben die von Peter Rühmkorf keine unheimliche Wirkung (vielleicht abgesehen vom „Schweißtuch der Veronika“),26 stattdessen prägt ein heiterer, spielerisch-ästhetischer Ausdruck seine Klecksbilder. Im Vergleich zu Kerners Buch nehmen die Bilder bei Rühmkorf einen deutlich größeren Raum ein, auch in Relation zum Text.27 Vor- und Nachsatz sind mit einer großen, schönen Klecksographie bedruckt, deren Symmetrieachse in der Buchfalz liegt: vorne ein Schmetterling, hinten ein tanzendes Paar. Gerahmt werden die beiden Klecksbilder jeweils an der rechten und an der linken Seite von denselben vertikal angeordneten handschriftlichen Versen:

Was einer in Etappen kleckst
braucht weiter keinen Klappentext.

Der metrisierte Spruch mit der anagrammatischen Wortgruppe „Etappen kleckst“ – „Klappentext“, die darüber hinaus auch noch ein Reimpaar bildet, ist formal raffiniert, wenngleich in Ton und Aussage flapsig daherkommend. Der Spruch, der das Buch sozusagen umrahmt, sagt aus, dass die Bilder in ihm wichtig sind – womöglich wichtiger als der Text, jedenfalls nicht unwichtiger. Die bereits hier geübte respektlose Geste bestimmt auch das Motto der Kleinen Fleckenkunde auf der dem Titelblatt folgenden Seite:

Motto

Die Methode Justinus Kerner
ist der beste Fleckentferner
.
28

Kerners berühmt-berüchtigtes Werk wird hier mit einem Reinigungsmittel in Verbindung gebracht; gleichzeitig wird ein Bezug zur Kleinen Fleckenkunde hergestellt, einem Buchtitel, der eigentlich in die Ratgeberliteratur gehört. Der Titel von Rühmkorfs Buch und sein etwas rätselhaftes Motto – wie auch immer es gemeint sein mag – weisen nicht gerade in Richtung einer Hommage – ganz im Gegenteil; sie klingen frech-provokativ und ein bisschen abschätzig.
Die zum Motto gehörende Klecksographie zeigt ein Figurenpaar, das mit einer symmetrisch gespiegelten Geste gegen einen über ihm schwebenden Flecken angeht. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich dabei um einen kleinen Schmetterling; die Figuren halten ein Gerät in der Hand (eine Fliegenklatsche?), mit dem sie dem Falter wohl den Garaus machen wollen. Der Schmetterling ist nicht nur das Leitsymbol von Kerners Kleksographien, sondern auch das der Kleinen Fleckenkunde; dort erscheint er nach dem Vorsatz noch einige Male im Innern des Buches; die erste Klecksographie nach dem Inhaltsverzeichnis zeigt einen Schmetterling. Unter ihm steht folgender Text:

Am Anfang war der Klecks,
da gibt es nix!
Die Kunst ist auch nur ein Naturgewächs
– – – mit Tricks
.29

Der Schmetterling, der sich nicht direkt aus der Raupe entwickelt, sondern erst nach einem Stadium der Verpuppung aus seinem Kokon herausschlüpft, gilt in der abendländischen Ikonographie als Sinnbild der unsterblichen Seele, die sich durch den Tod von ihrer Hülle erlösen und dann frei in die Höhe erheben kann. Im antiken Griechenland bezeichnete man sowohl den Schmetterling wie auch die Seele als Psyche. In der christlichen Kunst ist der Schmetterling das Symbol der Auferstehung; Puppe und Falter finden sich häufig auf christlichen Gräbern. Für Justinus Kerner, in dessen eklektizistischem Denken und Weltbild die Vorstellung eines Zwischenreichs zwischen Diesseits und Jenseits fest verankert war, hat der Schmetterling besondere Bedeutung. Für ihn halten sich die Gestorbenen, die aufgrund ihrer irdischen Verfehlungen noch nicht direkt zu Gott gelangen können, eine Zeit lang zur Auseinandersetzung mit ihren Fehlern in diesem dem Hades ähnlichen Zwischenreich auf.30 In Kerners Denken hat dieser Ort große Bedeutung; aus ihm stammen die Geister, die die Irdischen heimsuchen, „die Schatten des Mittelreiches“, wie er sie in einem Brief nennt.31 Als ihr Symbol betrachtet er den Schmetterling; dabei steht die Raupe für das Erdendasein, die Puppe für das Mittelreich und der Schmetterling für die anima christiana. In einem Brief. an Ottilie Wildermuth schreibt er:

Ich habe nie einen Geist gesehen, aber ich habe mit vielen Menschen gelebt und gelitten, die in meiner ärztlichen Obhut waren und die mit den Geistern im Verkehr standen. Sie bewegten sich bereits in einem verpuppten Dazwischen, nicht mehr irdische Larve und noch nicht himmlischer Schmetterling.32

In Kerners Kleksographien erscheinen etliche Bilder von Faltern und Schmetterlingen; die letzte Abbildung seines Buches zeigt 10 düstere Falter, die, ursprünglich einzelne Klecksographien, ausgeschnitten und zu einem Schwarm collagiert wurden.
Das Zentralmotiv seiner Kleinen Fleckenkunde hat Rühmkorf demnach – wie so vieles – aus Kerners Kleksographien übernommen. Allerdings haben seine Schmetterlings-Grafiken einen deutlich anderen Ausdruck; sie sind ästhetisch und prächtig und unterscheiden sich dadurch deutlich von den geflügelten, fratzenhaften Teufelchen und kleinen Vampiren Kerners. Dessen Schmetterlinge sind semantisch mit Sünde und Tod verbunden – so trägt etwa das Exemplar in Koenigs Deutscher Literaturgeschichte Teufelshörner und kleine Totenköpfe auf seinen Flügeln. Die Verse, die jene Klecksographie umrahmen, betonen die zerknirschte, unterwürfige Haltung ihres Schreibers; dabei spielen sie mit der metaphorischen Bedeutung von Fleck als Befleckung im Sinn von Versündigung:

Aus Dintenfleken ganz gering
Entstand der schöne Schmetterling
Zu solcher Wandlung ich empfehle
Gott meine flekenvolle Seele
.33

Für Kerners Denken war die Wandlung der einzelnen Seele nach ihrem irdischen Leben zentral – immer wieder ruft er diese Vorstellung im Bild der tief in sich eingesponnenen Puppe auf. So heißt es in einem der Gedichte zu Beginn der Kleksographien: 

Sieh die Raup’ in ihrer Puppe
Stillem, dunklem Schattenreich,
Nun getrennt von den Genossen,
Einzig in sich selbst verschlossen
,
Todt nicht, ob begraben gleich

Schaut nicht mehr den Thau der Triften,
Ist der Blüth’ u. Kräuter haar,
Gänzlich nur sich selbst gegeben,
Trägt sie das vergang’ne Leben
In sich als ein Pünktchen klar.
Und in solcher stillen Klause
Streift sich ab ihr Erdgewand,
Reifen ihr die bunten Schwingen,
Die sie einst als Psyche bringen
Himmelwärts aus düstrem Land.

Sieh die Raup in ihrer Puppe!
Glaube: daß auch dich der Todt
Einst nicht trägt mit Blitzes Schnelle,
Ist dein Innres noch so helle,
In ein ew’ges Morgenroth
.34

Rühmkorf übernimmt zwar Kerners Leitmotiv, deutet es aber um und entfernt sich dabei denkbar weit von Kerners christlich-okkultem, sündenträchtigem Weltbild. Die folgenden vier kurzen Gedichte setzt Rühmkorf zu den Abbildungen von Schmetterlingen: 

Am Anfang war der Klecks,
da gibt es nix!
Die Kunst ist auch nur ein Naturgewächs
– – – mit Tricks
.35

 

Ein Klecks ist zu gar nichts zu gebrauchen,
du mußt ihn zärtlich zusammenstauchen.
Dann siehst du, wie das, was dich erschreckt,
auf einmal zwei Flügel zur Seite streckt.
36

 

Es sprach der Kniff
Ich habe keinen Fokus.
Es sprach der Klecks:
Mir fehlt die Symmetrie.
Es sprach der Künstler:
Hokuspokus fidibus mijokus!
Aus zwei mach eins,
aus eins mach bi
37

 

Faust spricht das Schlußwort:

Nicht über jeden Biß gemurrt
und jeden blauen Flecken!
Es kann in einer Mißgeburt
sehr wohl ein Falter stecken.

Hast du den rechten Fleck am Herz,
dann gib ihm noch die Drehung!
Ein jeder Klecks will himmelwärts
und lechzt nach Auferstehung
.38

Wie Kerner in den Kleksographien macht auch Rühmkorf in der Kleinen Fleckenkunde Aussagen zum Ursprung und zur Organisation der Welt, darüber, wer sie lenkt und wie. An die Stelle der göttlichen Autorität, der bei Kerner alles unterworfen ist (auch die Geisterwelt), setzt er die Schöpfungsgabe des Künstlers.
Deshalb heißt es – unter dem Symbol des Schmetterlings – zu Beginn der Kleinen Fleckenkunde in Analogie zum Buch Genesis:

Am Anfang war der Klecks,
da gibt es nix!

Immer wieder rückt Rühmkorf sich selbst in die Position eines säkularisierten Schöpfer-Künstlers ein, der seine Geschöpfe – die Klecksographien – im Buch präsentiert. Dabei kreiert er, der auch ein Zauberer ist („Hokuspokus fidibus mijokus!“), seine schönen Wesen aus scheinbar Unbrauchbarem und Missgestaltetem:

Es kann in einer Mißgeburt
sehr wohl ein Falter stecken.

Dass das Ich der Gedichte und Bilder Rühmkorf selbst ist, bzw. eine künstlerische Rolle seines empirischen Autor-Ichs, zeigt die letzte Klecksographie seines Buchs, mit der er es quasi unterzeichnet – ein leicht groteskes Doppel-Selbstporträt mit Brille, langer Nase und fliehendem Kinn.39 Dennoch: Immer wieder betont er in den Versen der Kleinen Fleckenkunde, dass seine Schöpfungsgabe im Grunde jedermann besitzen könne:

Hast du den rechten Fleck am Herz,
dann gib ihm noch die Drehung!

Der Glaube an Kunst, Phantasie und Kreativität tritt hier an die Stelle des Glaubens an einen göttlichen Schöpfer, wie ihn Kerner tief verinnerlicht hatte. Rühmkorf spielt beide Schöpferrollen immer wieder gegeneinander aus, wobei der Christengott höhnische Seitenhiebe abbekommt. So heißt es am Ende des mit üppigen Frauenkörpern illustrierten Gedichts „Mathematik und Mutterrecht“:

Tief Luft geholt, in die Hände gespuckt
und zum Gebet gefaltet:
So hat der Herr die Welt gedruckt,
daß Ihr sie ausgestaltet.

Greift nur hinein ins Tintenfaß
und sagt, wie Ihr’s gern hättet!
Nichts Schönres als: in statu naß –
und: täglich neu geplättet
.40

Gott ist laut diesen Versen nichts als ein Drucker, ein Werktätiger, der in die Hände spuckt, bevor er sich an die Arbeit macht. Schöpfer und Ausgestalter der Welt sind demnach alle Menschen durch ihr tägliches Tun; sie sollten selbst entscheiden, wie ihre Welt aussieht, sollten sie selbst kreieren. Einmal mehr feiert Rühmkorf hier seine im Buch versammelten Klecksbilder als Abbild der Schöpfung in nuce und fordert die Leser und Betrachter auf, es ihm nachzutun.41 Höhnisch und verächtlich gegen christliches Denken gerichtet ist auch das Gedicht zur Klecksographie des Schweißtuchs der Veronika:

Ganz ohne Psychotonika
und fromme Augentrübung:
Das Schweißtuch der Veronika
ist eine Anfängerübung
.42

Ein Heiligtum der Christen wird hier als lächerliche Fälschung verulkt, die Reliquie selbst herzustellen als klecksographische „Anfängerübung“ bezeichnet. Die „fromme Augentrübung“ trifft freilich nicht zuletzt Kerner und seinen Geisterglauben; die morbide Klecksographie zu diesem Gedicht ist die einzige in Rühmkorfs Buch, die den Kerner’schen Bildern im Ausdruck ähnelt. Frömmigkeit und Gottesglauben werden auch in der Bilderfolge „Gottvertrauen eines Kleckses“ verspottet.43 Hier spielt Rühmkorf die traditionellen Machtverhältnisse in der Welt noch einmal aus der Froschperspektive durch. Ein schwarzer Tintenklecks – eben jener, der auch den Schutzumschlag der Kleinen Fleckenkunde ziert – ist der Sprecher folgender Verse; er äußert sie in tiefem Vertrauen und in unbeirrbarer Zustimmung zu seinem Erzeuger: 

Hab ich mich in ein Buch verirrt,
beweg es in den Angeln!
Mein Herr Erzeuger ist mein Hirt;
er wird mich mangeln.

Er züchtigt mich an Kindesstatt,
und das ist recht gehandelt –
Wenn sich das Blatt gewendet hat
44

Auf der nächsten Doppelseite ist dann ein dickleibiger Käfer mit dünnen Ärmchen und Beinchen zu sehen, darunter der Text:

… dann bin ich glatt verwandelt.

Die Verwandlung, die ja in Kerners Kleksographien eine zentrale Rolle spielt, schließlich ist sie die Raison d’Être sämtlicher (Geister-)Figuren im Buch, wird hier gerade nicht als Höherentwicklung, Erlösung, Entfaltung, als Voraussetzung zum Eingang ins Elysium oder Paradies gedeutet – ganz im Gegenteil. Gottvertrauen führt bei Rühmkorf zur Verwandlung in einen Käfer – Kafka steht Pate. Von Höherentwicklung kann keine Rede sein: Was dem Gott Vertrauenden blüht, ist die allumfassende Deprivation eines Gregor Samsa. Ihre besondere Schärfe erhalten die Verse durch das provokative Sprachspiel mit Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Die Botschaft: Wer sich derart der Repression unterwirft, hat es nicht anders verdient.
Dennoch: Es geht Peter Rühmkorf nicht darum, Kerners Glaubensinhalte und Überzeugungen, seine Vorstellungswelt lächerlich zu machen – das haben schon andere getan, zuerst Kerners eigene Zeitgenossen. Rühmkorf nutzt vielmehr Kerners spiritistisch-verschrobenes Weltbild, um ihm ein eigenes Programm entgegenzuhalten, ein Programm, das sich schon beim ersten Durchblättern der Kleinen Fleckenkunde vermittelt. Man sieht Bilder von Spiel und Tanz, es geht um Schönheit und Gemeinschaft – z.B. in der Bildfolge „Zooloo“:
Das künstlerische Spiel (der Klecksographien als ,Augenreime‘ der Verse) steht hier im Dienst der Darstellung des sozialen Spiels (des Tanzes). Es ist genau dieser – bisher überlesene – Gedanke, den Peter Rühmkorf an den Schluss seiner Weinsberger Rede gesetzt hatte:

Im Zusammenhang mit den sie begleitenden Versen stellen sie sprechende Bilder dar, die uns beweisen möchten, daß im Zauberkreis der Kunst die Vereinzelung aufgehoben werden kann und im Zweifelsfall auch ein verkleckstes Ich zu seinem Echo findet.45

Kerners spiritistische Vorstellung vom in sich verpuppten Einzelnen und seiner möglichen innerlichen Wandlung46 stellt Rühmkorf die Macht des Miteinanders entgegen, die für ihn nicht zuletzt im künstlerischen Spiel entsteht.47 Im kreativen Spiel, in der Phantasieleistung, liegt für Rühmkorf ein Mittel gegen die Angst, von der Kerners Buch ganz und gar bestimmt ist.
Es ist ein ausgesprochen persönliches Buch, das Peter Rühmkorf 1982 mit der Kleinen Fleckenkunde vorlegt, obwohl es – paradoxerweise – einem viel älteren Buch, Kerners Kleksographien, stark nachempfunden ist. Rühmkorf bleibt ihm nicht nur formal in vielerlei Weise verpflichtet, sondern er folgt Kerner auch in seiner generellen Absicht. Wie diesem geht es Rühmkorf um ein persönliches Weltbild, um das, woran der Autor im Leben glaubt, sein Bekenntnis sozusagen. Beide Klecksographen gehen mit ihren Bekenntnissen ähnlich um, indem sie diese nur ihrem engeren Kreis von Gleichgesinnten zueignen: Kerner gibt sein Buch, in dem er sich als Medium offenbart, zu seinen Lebzeiten nicht in Druck und verleiht es stattdessen immer wieder kurzzeitig an Freunde – 125 Jahre später stellt Rühmkorf der Kleinen Fleckenkunde ein ähnlich exklusives Motto voran:

Den letzten Resten der Besten.48

Rühmkorf nutzt Kerners spiritistisch-christliche Vorstellungswelt, um in radikaler Abgrenzung von ihr auszudrücken, woran er glaubt – eklektizistisch, unsystematisch, künstlerisch-spielerisch: 

Vertraue nie der reinen Lehre!
Die Achse gebe dem Stoff die Ehre.
Der Inhalt soll sich auch nicht zieren;
er hat für sich kein Gesicht zu verlieren.
Erst wenn sich ein Kniff am Kleckser besäuft,
erahnt man, wie das Leben so läuft.
49

Die Kleine Fleckenkunde stellt keine Hommage an Kerners Kleksographien dar, sondern ihre Kontrafaktur.50 Rühmkorf kennt dessen Buch und Gedankenwelt sehr genau; er überbietet Kerner mit seinen eigenen Mitteln, diese spielerisch-souverän zur Brillanz treibend und den schwäbischen Dichter dabei weit hinter sich lassend. Kerners Geisterbeschwörung und Memento mori! beantwortet er mit einem materialistischen Bekenntnis zu Angstfreiheit, Gemeinschaft und irdischen Freuden an Schönheit und Liebe – nicht zuletzt auch sexueller Liebe. Die klecksographierten männlichen und weiblichen Genitalien (mit Anklängen an christliche Symboliken – Monstranz? Tabernakel?) sind – als ,Naturreime‘ von größter wechselseitiger Anziehung – womöglich die radikalsten bildlichen Gegenentwürfe der Kleinen Fleckenkunde. 

Barbara Potthast, aus Susanne Fischer, Hans-Edwin Friedrich und Stephan Opitz (Hrsg.): „Wo ich gelernt habe“. Peter Rühmkorf und die Tradition, Wallstein Verlag, 2021

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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