Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann

Rühmkorf-Wenn – aber dann

NIETZSCHE ZUR LEHRE

Niemals sage, das hätten wir.
Niemals, das wäre es.
Morgen morgen, na wetten wir,
möchtest du schon wieder mehreres.

Weil ja, das Nichts ist nicht neu.
Nicht einmal neu zu besingen.
Auch Nietzsches Schnauzer nur zwei
hangende Steinadlerschwingen.

Besser, bei derart geschichts-
trächtigen Supermannssachen
aus einem Fast an Nichts
nochmal was Schwebendes machen.

Gegen den Vierkantverstand
von etwa Friehofspförtnern
über den Grabesrand
locker hinauszugärtnern.

Sagen zu der, die dir liegt,
bleib noch ein wenig so sitzen.
In deiner Nähe kriegt
das Gras gleich grünere Spitzen.

Gar, wenn im Herbst unterm Schuh
sterblich die Blätter zerknistern,
sich was Gemeinsames zu-,
auch etwas Mut zuzuflüstern.

Daß es verfliegt, ist nicht neu.
So bleibt auch dieses im Rennen.
Sternenstaub oder Spreu:
aber das soll uns nicht trennen.

 

 

 

Kurze und direkte Wahrsprüche

mit geselligem Witz: Verwandlung und Vereinfachung heißen in diesem Gedichtband die Zauberwörter. Im Besitz aller technischen Fertigkeiten, hat der Autor die vertrauten Strophenformen aufgelockert und mit scheinbar kinderleichten Bagatellen einen neuen Spielraum erobert. Satirisch und sinnlich erfrischend.

Rowohlt Verlag, Klappentext, 1999

 

Wer etwa meint,

daß die zeitgenössische Poesie keine direkt zu Ohren gehenden Wahrsprüche mehr in die Welt entließe, kann sich hörbar eines anderen belehren lassen. Peter Rühmkorfs neuer Lyrikband führt sich nicht gerade als unfrohe Botschaft ein. Die bühnen- bis büchmannreifen Schmetterbälle hallen nach wie vor, und seinem geselligen Witz wie seiner sinnlichen Frische ist nichts anzuhaben. Am erstaunlichsten bei Rühmkorfs sogenannten „Vorletzten“ scheint dabei, daß ein erklärter Wortvirtuose es offenbar gar nicht so sehr auf die weitere Verfeinerung seiner Ausdrucksmittel angelegt hat – Verwandlung und Vereinfachung heißen die Zauberwörter. „Könnt ihr, ohne nachzuäffen, / auf den Punkt den Lichtblick treffen“, heißt es mit einem satirischen Seitenhieb auf die Anything-goes-Moderne, „der wo alles fließt und treibt, / als Verheißung haften bleibt?!“

Rowohlt Verlag, Ankündigung

 

Ein Lichtblick, der vorüberzieht

Zuletzt hat der Dichter Tagebuch geführt. In Tabu I (1995) bilanzierte er, nicht ohne Selbstironie, ein „bis auf den Grund verfehltes Schriftstellerleben“: trotz eiserner Schreibdisziplin nur „kleene Bändchen“ vorgelegt statt Großromane wie Freund Grass
im Feuilleton, bei den „hochprivilegierten Zeitgeistwendern“, nur als Zweitligist geschätzt
dazu das Gefühl, ein „intellektuell Entwurzelter“ zu sein, dessen „Veteranenbegriff von Sozialismus“ nicht mehr „geschichtssynchron“ läuft.
Auch an der Heimatfront wenig Erbauliches: Ausflüge „bis zur Autobahnbrücke“ und „Frühstückstitten“ vorm Fenster am Elbufer, gelegentlich auch „ultraglatte Pobacken“ auf RTL
doch den „mehr und mehr auf seine wahre Bescheidenheitsform zurückgeschrumpften Pimperling“ trifft nur die Nadel des Urologen, während im Hintergrund „paar Reihen büschelweis ergrauter Freundinnen/Freunde“ gelangweilt Edel-Grappa trinken. Und dann die ultimative Backpfeife: wieder nicht in die Weihnachtsempfehlungen der ZEIT aufgenommen.
Der Gipfel!
Nun setzt Peter Rühmkorf sein Diarium der neunziger Jahre fort – in Versform.
„Dichterleben“ heißt gleich das erste Gedicht in dem neuen Band, und dann folgen Titel wie „Altern als Problem für Künstler“, „Gesegneter Abgang“, „Schwache Aussicht auf Sonne“, „Ungemütlicher Tag“, „Immer rein in die Klamotten“, „Noch einmal Einmal noch“, „Irgendwie auf die alten Tage und Abschiede, leicht gemacht“. Es herbstet also wieder sehr. Aber blüht die Trauer noch, oder welkt sie schon?
Hören wir einfach mal rein:

Paar verräterisch gelbe Blätter schon wieder
hoch oben im Baum,
ach, die Welt.

Und dann kommt auch allmählich die Zeit
dieser äh-John-Partridge-Jacken.

(…) Dann sein Lebenswerk praktisch hinter sich haben,
und wenn die Pointe schlüpft,
bist du persönlich leider gar nicht mehr mit von der Partie

(„Ungemütlicher Tag“).

Dies einerseits. Andererseits das:

So alte Dichter, Gotterbarm,
auch alternde Composer,
die einen werden täglich harm-,
die andern umstandsloser.

Die einen seh ich inhaltsleer
sich selbst den Rücken kehren.
In denen mag man nicht mal mehr
die grauen Haare ehren.

(…) Ich selbst geb mich so elitär
wie ich halt reduziert bin
und tanz auf keiner Hochzeit mehr,
wo ich nicht amüsiert bin.

Trage mein Irrlicht durch die Welt
in einer Stallaterne
und sag, je älter, um so selt-
samer erglühn die Sterne
(„Altern als Problem für Künstler“).

Rühmkorf, der alternde Dichter-Composer, beherrscht, wie man sieht, nach wie vor beides: das Reimen und das Rumoren, das Hüpfen in Strophen und das Meckern in freien Rhythmen. In dem einen Genre hat er seine größten Hits („Bleib erschütterbar und widersteh“), in dem anderen seine stärksten Sprüche („Herr Charon, zwei Lethe!“) geschrieben. Jetzt schmecken ihm beide ein wenig schal. Darum kommt er uns philosophisch:

Ach, der Dichter, ja, was kann er fassen?
Eigentlich nur eine Regung, eine Rührung,
was ihn selbst wie Donnerkeile trifft

(„Dichterleben“).

Eine Rührung wäre manchmal schon viel, denn da sind

diese absoluten Hageltage,
Hanf, Tabletten, Schnaps unabgeschlafen,
und der Stift rutscht nur noch aus,
steuerlos und ungeneigt
und erzeugt
diese krummgeschißnen Irrenautographen −
Aber, wie ich so herummanövre,
plötzlich – heh! – Applaus! −
öffnet sich ein völlig neues Œuvre
(„Drei Arten“).

Das ist nun wiederum richtig stark. Wer hätte gedacht, dass vor dem Millennium noch jemand ein deutsches Reimwort auf „Œuvre“ finden würde?
Rühmkorf hat’s! Mit dem gleichen sicheren Gehör reimt er „Kettlein“ auf „Deadline“, „tänzelt“ auf „gecancelt“ und gestattet sich, unter dem Titel „Mit halber Kraft voraus“, dann dies:

Frage, wie kommst du davon,
flügellahmes Triptychon,
das du diesen Erdball längst
nur noch virtuell umfängst?
Marsch, ad rem!
Zum Grand Slam:
P
WC
2000 m

Wo andere sich mit halber Kraft mühen, ein Krümelchen Empfindung zu erhaschen, da dampft Rühmkorf mit vollen Kesseln in die nächstgelegene Pointe. Das hat seine Beschränkungen, doch es ist immer lustig zu lesen.
Siebzig Gedichte versammelt der Band Wenn – aber dann, und eben so viele Jahre ist der Dichter nun alt. Für diese Lebensstufe empfiehlt sich, als Wort wie als Sache, eine warme Kopfbedeckung. Sie begegnet uns in „Unter Stoff ins Off“, einem „Hamburg-Triptyk, windschief“, wie im Untertitel versprochen wird:

Noch ein Ruck und den Hut auf die Haare,
eine Primel schräg an den Hut,
es sind auch die späteren Jahre
manchmal für ein paar Stunden gut.

Der Dichter macht sich ausgehfertig, um rund um den Hansaplatz in Sankt Georg – „wo Böcke nachts um ihre Bräute forkeln“ – sein Ich für ein paar Stunden zu vergessen. Fünfzig Verse später ist er wieder zu Hause:

Noch einmal den Dämon bezwungen,
den Geist in die Flasche gebannt.
So aus sind die Lieder gesungen,
ab ab sind die Kerzen gebrannt.
Ars longa – vita brevis,
fragt sich nur auf versausender Welt,
ob sie länger als eine Levis
oder kurz wie ein Tangaslip hält.

Da hört man doch sehr den Dr. Benn, welcher sich übrigens jüngst in einer jener Umfragen, die zur Informationsgesellschaft gehören wie die Pest zum Mittelalter, als „Dichter des Jahrhunderts“ vor Rainer Maria Rilke platzieren konnte. Gleichviel – „in diesem fluidalen Berufe“, wo „ohnehin jeder jeden und jede beerbt“, gibt es nur grobe und feinere Räuber, und Rühmkorf hat von jeher allerliebst geklaut: bei Benn und Ringelnatz, bei Brecht und Morgenstern.
Und wenn es dann zu Rührung oder Regung noch nicht reichte, mussten sogar „Bellman, Firdusi, Bakchylides“ donnern helfen. Aus ihren Tönen hat Rühmkorf sozusagen einen Sound gemacht. Deshalb klingt er gerade da, wo er gut klingt, nicht immer nach sich selbst.
Aber man soll die Epigonen nicht verachten. Sie sind unser Teil der Literaturgeschichte, diese Reimeschleuderer und Wortakrobaten, diese Plänkler der Poesie, denn die schweren Hopliten, denen sie einmal den Weg gebahnt haben, kommen nicht mehr. Die Schlacht ist vorbei, ein Heldentum nicht mehr vonnöten. „Regeln brechen wie zu Olims Zeiten? / Na, wer’s gar nicht lassen kann, der tu’s.“ Rühmkorf kann es lassen. „Ich bin ein Lichtblick, / der vorüberschweift“ – das könnten auch andere von sich sagen, die Grünbein, Stadler, Kling und Schrott, die derzeit den Rückenwind haben, den in den siebziger Jahren Rühmkorf hatte.
Damals galt er als frecher Panegyriker der Sozialdemokratie. Die Rolle ist dahin, die Haltung geblieben. Für den „Gedankenfreund“ Grass hat Rühmkorf eine „Kleine Weltwirtschaftslehre“ verfasst, die man sich gerne nach Tisch in Behlendorf gesungen vorstellt:

Wirtschaft, Banken, Automat
haben sich den Staat privat
schon so weit gekrallt,

daß bei freiem Weltverkehr,
Steuerflucht, Betriebstransfer
absolut kein Halt.

(…) Renten und Versicherungen,
Krankenkassen ausgewrungen,
Schulung, Bildung leergesungen,
Himmel, nein!

Ein andermal möchte der Sänger

nochmal nachräuspern
durchladen
Ziel nehmen
und dann gegen die ganze
quotensammelnde
Shareholdergesellschaft
abrotzen – – –
DAS SCHAFFT LUFT!

Da klafft Muff, der aber beim nächsten Ausflug zum Hansaplatz rasch wegzulüften ist.
Am schönsten schreibt Rühmkorf, wenn er aus dem Geschirr seiner Meinungen in die Welt der Erscheinungen hinaustritt. Da pflückt er, ganz nebenbei, ein zartes Stimmungsbild:

Laub löst sich leis, wie still die Lärche nadelt,
von Osten her nimmt Abend überhand −
Da, schau, ein blondes Blatt kommt angeradelt,
gefährlich auf dem Rand.

Und noch eines:

Abend zieht sich die unaufhörliche Küste entlang,
still, rot, gelb, grau, mild, stumm.
Ein Blutbuchenpärchen am Hang.
Viel leises Zeugs drumherum.
Spinneweben, Gezweig.

Der Jubilar wird es womöglich ungern hören, aber vielleicht hängt sein Nachruhm eher daran, dass er das Nadeln der Lärche einfängt, als am Geflatter flotter Thesen und Reime.
Was wünscht er sich selbst „für die Tage nach Ladenschluß“? „Nein, keinen Ordensstern, keine Ehrenschleppe, / aber daß ihr vielleicht in die unterste Stufe / der Ringelnatztreppe / meinen Namen einkerbt.“ Ist versprochen! Und mit jedem Gedicht, das so gut ist wie „Ästhetik des Schreckens“, rutscht die Inschrift eine Stufe rauf:

Regentropfen an der Wäscheleine:
H o c h s e i l a k t  −
Mit dem Fingernagel
ohne Sinn fürs Ungemeine
lieblos abgezackt.

Spinnennetz,
radial geädert,
ein beziehungsweises Weltsystem −
Unwirsch mit dem Wischtuch weggeledert
so der Mensch – als Mitgeschöpf, nicht gerade angenehm.

Wie der Mensch?
Zu was? – Wem zu entsprechen?
Einem freigelassnen Zwangssubjekt?
Dies herauszubringen, brauchst du nur
mit dem Bajonett in es hineinzustechen,
und du siehst, was von Natur an Scheiße in ihm steckt.

Bleibt als Highlight so beschaffner Mängel
allenfalls noch seine Himmelssignatur:
D e r  A t o m p i l z ,
ein Gehirn am Stengel,
dem Millennium eingebrannt als Kultfigur.

Nun aber rasch hinein damit in die Weihnachtsempfehlungen! Wenigstens diesmal soll der Dichter triumphieren. Das schafft Luft!

Andreas Kilb, Die Zeit, 21.10.1999

Verfänglichste Dinge

„Altern als Problem für Künstler“ so hieß ein später Rundfunk-Vortrag Gottfried Benns, so überschreibt Peter Rühmkorf ein Gedicht aus seinem neuen, nicht mal so schmalen Lyrikband, und so hätte er auch diesen Band selbst betiteln können: Hier haben wir es mit einem Alterswerk zu tun. „Schade, die Kastanien schon dahin, / auch die Tulpenbäume, / auch der Flieder, / alle drei kommen wieder, / fragt sich nur, ob ich zugegen bin.“ Herbst, Abendröte, die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages, die verwelkende Blume, hier werden die bekannten Vanitas-Chiffren des Barock aufgerufen und eben durchaus nicht immer, wie gerade noch, ironisch-satirisch angeschrägt.
Zuweilen geht er mit einem Ernst zu Werke, den man religiös nennen könnte, mit einer melancholischen, sentimentalischen Sanftheit auch, die nun freilich nicht unbedingt mit altersweiser Abgeklärtheit zu tun hat. Rühmkorf lässt sich immer noch inkommodieren von der Realität, sogar ein paar stramme Agitprop-Songs mit strammem Black-und-Decker-Metrum hat er aufgenommen. Aber er macht sich auch schon mal Gedanken darüber, was nun ist, wenn er nicht mehr ist. Und da kommt er, je nach Verfassung, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Während er im Gedicht „Nietzsche zur Lehre“ dessen Diktum von der Kunst als der letzten Metaphysik ernst zu nehmen scheint und sich durch sie wenigstens einige Unsterblichkeit verspricht: „Gegen den Vierkantverstand / von etwa Friedhofspförtnern / über den Grabesrand / locker hinauszugärtnern“, sieht er das zwanzig Seiten vorher noch durchaus skeptischer:

In zehn Jahren hat sich s ohnehin
auf der Erde ausgelesen,
mit und ohne Schreibreform.
Und es fressen Büchermilben
erst den Sinn und dann die Silben.

Spätwerk hin oder her Rühmkorfs Stil ist weiterhin völlig frei von Altersflecken und Falten. Immer noch wütet da ein wahrer Reimteufel auf dem Papier, der auch an den Wörtergrenzen nicht Halt macht, der die Silben auseinander reißt und zum gewagten Enjambement nötigt, um neue originelle Klangverwandtschaften zu stiften:

Ach, wär ein Ich,
und Ihr, Madame, mit mir zusammen im Gesträuch:
ich  e i n m a l  rich-
tig in und Ihr gesammelt außer Euch.

Auch von Larmoyanz nur selten eine Spur, da sind nicht zuletzt der Kalauer und die moderate Zote vor, die den Metaphysiker zurück in die Welt pfeifen und an seine Pflichten als Hordenclown erinnern. Und diesen widmet sich Rühmkorf auch mit voller Aufmerksamkeit. Er buhlt um den Leser, will gefallen, und so weicht die fein ziselierte, sehr expressive Sprache mitunter einer entspannteren Diktion, die man bei ihm so noch nicht kannte. Auf einmal laufen sogar fünf, sechs Verse scheinbar einfach geradeaus und das eben nicht nur in den ans Ende gesetzten Capriccios und Bagatellen, leichten, witzigen Gelegenheitsarbeiten, die er sich schon längst hätte leisten sollen. Vielleicht steht dahinter die späte, in dem Tabu-Nachklapp Betrachtungen einer abgeräumten Schachfigur (1996) geäußerte Einsicht, sich den Weg zu den Herzen der Menschen oft mit Brillanten verklunkert zu haben. „Schnell hinwerfen etwas nochmal, / was unter Umständen schließlich doch sogar auf Anhieb gefällt“, heißt es nun. Das wäre dann gleichsam die wirkungspoetische Motivation dieser neuen Anmut und Stilentspannung, es gibt aber auch noch eine ausdruckspoetische, die Rühmkorf ebenfalls reflektiert:

Schlenkrige Lebensspur,
frisch auf den Putz getuscht,
wo man durch Arbeit nur
alles verpfuscht.

Die verfänglichsten Dinge
grad halten nicht still, so ein Hagelgespringe
plötzlich Mitte April.

Die Verse sollen sich schlank machen, um der flüchtigen Realität hinterherzukommen. Mit solchen Wegweisern beginnt der Band. Einige dieser poetologischen Gedichte sind ganz wunderbar eingängig und somit durchaus geeignet, das als dichtungstheoretischer Kronzeuge längst niederzitierte Hochseil abzulösen.

Schließlich diese absoluten Hageltage,
Hanf, Tabletten, Schnaps unabgeschlafen,
und der Stift rutscht nur noch aus,
steuerlos und ungeneigt
und erzeugt
diese krummgeschißnen Irrenautographen
A b e r, wie ich so herummanövre,
plötzlich – heh! Applaus!
öffnet sich ein völlig neues Œuvre.

Frank Schäfer, Berliner Zeitung, 30.10.1999

Nachmittagstigall auf Liebestour

− Feste feiern die Fünffingerverse: Peter Rühmkorfs vorletzte Lyrik. –

Der bald siebzigjährige Peter Rühmkorf hat seine Niederlagen niemals verschwiegen, aber wer spricht von Siegen, und wer weiß, welche Folgen eine Niederlage nach sich zu ziehen vermag? In den heroischen Marschzeiten der fünfziger Jahre tummelte er sich schon, als anakreontischer Freigeist, bei vielen östlichen und fernöstlichen Jugendfestspielen und Friedenskonferenzen, und auch später, in den Jahren der Studentenbewegung, tanzte er gerne auf den Marktplatzhochzeiten der Mikrophone und der Massen. Das ist lange her, die Lyriker lesen wieder in den Buchhandlungen, und die jüngste Verlagsfotografie zeigt den hanseatischen Jewtuschenko mutterseelenallein, vor Gebüsch und Hafengewässer. In der neuen Sammlung seiner Gedichte Wenn – aber dann, die Rühmkorf fast kokett seine „vorletzten“ nennt, ist er deutlich darauf bedacht, sein Leben als Poet zwischen Öffentlichkeit und Intimität ohne Vorurteile zu prüfen und seine sprachlichen Kontinuitäten zu bewahren (selbst die experimentellen Einschübe optisch oder akustisch organisierter Strophen gehen nicht über die Grenzen hinaus, die er sich in den „haltbaren Gedichten“ von 1979 setzte). Er war dem Herkommen der Sprache, auch als munterer Revoluzzer, immer noch treuer als der listige Ernst Jandl, sein kakanischer Mit- und Gegenspieler, und so ist es geblieben, denn er pflegt heute gerade jene Gedichtformen, die sich ihm besonders bewährt haben – das freie, lange, rhythmisch feingegliederte Poem, oder Hymnen mit scharfen Widerhaken, und seine intelligenten Spiele mit den vielfältig gereimten Vierzeilen des Volksliedes. Er, der einer jüngeren Germanistik des revidierten Kanons mit einer Anthologie des dichterischen „Volksvermögens“ (1967) lange voraus war, hat gar keinen Grund, die Formen des Volksliedes selbstherrlich zu ignorieren.
Die widerhallende Öffentlichkeit mag ihm zuzeiten fehlen, aber er schafft sich eine persönlichere. Das Gedicht wird zum Gespräch mit den vielen Figuren seines Bewusstseins, und, in An- und Gegenrede, zur Konversation mit seinen Lesern und Leserinnen, die ja immer Mitbürger sind. Die reiche Interpunktion, die vielen Ruf- und Fragezeichen („ach, der Dichter, ja, was kann er fassen?“), das gesperrt Gedruckte sorgen dafür, dass seine Monologe nicht einstimmig bleiben (eher schon telefonische Konferenzgespräche, mit vielen Teilnehmern). Rühmkorf war ja immer ein Dichter der Stimme(n), die sich an Hörer richtete(n), und jetzt werden ihm auch die tieferen Gründe klar, warum.
Der Sprecher hat nicht die Möglichkeiten des Malers, denn „die Damen, / die Bäume und der Wind“ sind, leider, auch mit den schönsten Worten „nicht nachzuahmen“. Maler könnten „die Weiden, kühn verschroben / das Haar halb in der Drift“ im farbigen Scheine nachahmen, aber „der Dichter“ kann „nur meinen, auch hoffen, dass es klingt“ – „In Nass in Nass, schnelle Sache“, einem poetologischen Gedicht der heitersten und wahrhaften Art, kehrt er zur Frage zurück, wie sich der Dichter den flüchtigen Lebensmomenten nähern könnte, und die Antwort ist nicht tröstlich, „die verfänglichsten Dinge / grad halten nicht still, / so ein Hagelgespringe / plötzlich mitten April“.
Wie sich die Tonart ändert! Rühmkorf war einst, als die deutsche Lyrik als staubiger Phönix aus den Ruinen des Krieges emportauchte, ein strenger Kritiker der (so genannten) „Naturpoesie“ der unhistorischen Gräser und des Löwenzahns – immerhin: in einem federleichten Gedicht wie „Frühlingsverfeelings“ gerät er, jenseits aller Vokalspiele, in die freundliche Nähe Wilhelm Lehmanns, dessen Ironie er so sträflich unterschätzte,

Tschuk Tschuk – crescendo – Intervall,
: erst 16 Uhr?
das ist die Nachmittagstigall
auf Liebestour.

Natur ist nicht mehr negativ, und im elegischen Rückblick erschient auch die APO, sanft und grün, als affirmative Bewegung, die der „Erde“ ihren ungeteilten Segen „erteilen wollte,“ so „ein Hoch auf die Luft, die man riecht, und ein Prost auf das Licht, das man sieht“. Rühmkorf wollte immer beides haben, Engagement und Ironie, Hitze und Kälte, Teilnahme und Distanz, und das will er immer noch, selbst wenn er sich deutlicher dagegen sträubt, jetzt ins Meditative, Landschaftliche und Elegische staunend hinzugleiten, „es war schon schön / eine frischbegrünte / Hasel gegen das altgediente / Grün des Efeus zu sehen.“ Solche Rückblicke sind ihm aber gar nicht geheuer, da haut er lieber auf die Pauke, als ungealterter Politik-Schreck und Weiber-Kraftlackel. Jedenfalls signalisiert er auch, wo das starke Stück kommt, durch Großbuchstaben und Sperrungen, und die Lyrikfreunde wissen wenigstens, dass sie zu einer jener Stanzen gelangen, wo Goethes Hatem, der alte Herr, nobel vom Rasen seines Ätna gesprochen hätte.
Rühmkorf möchte eben nicht „irgendwie auf die alten Tage / nochmal etwas machen / was nicht sofort auf Anhieb gefällt“, und das sind die gewissen Momente, wo er „raus aus der Nato“ zu rufen beginnt, und den Damen ziemlich mitleidlos anheimlegt, ihm ihre rundlichen Hinterseiten zuzukehren, während er schon am Hosenbund zu nesteln beginnt, und mehr. Das alles ist so nostalgisch, dass einem die Tränen kämen, wüsste man nicht, dass es dem Poeten gerade darauf ankommt, sich noch einmal so recht in Platitüden und im Vulgären zu wälzen.
Rühmkorf hat sein eigenes Verhältnis zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, aus welcher er seit jeher vieles und auf die findigste Art gebraucht hat. Die falsche Frage, ob der gute Dichter auch wirklich unabhängig sei, hat ihn mit Recht nicht berührt. Er nennt die Situation des Dichters „fluvial“ (weil so viele Ströme und Flüsse zusammenkommen), und seine besten Gedichte, hier die „Fünffingerverse“, „Liebe Dich, Liebe“, „Abschiede, leicht gemacht“, oder „Art artis amatoriae“, kommen aus einer griffsicheren Intertextualität (das modische Wort ist hier am legitimen Ort), und wenn er zitiert, parodiert oder imitiert, steigert er die willkommene Zivilisationsqualität seiner Poesie. Seine Neigung zu Benn hat seinen Generationsgenossen und ihm selbst zu schaffen gemacht, und im „Lied der Benn-Epigonen“, „… Träume und Flieder-Möven“, rühmt und richtet er sie (sich selbst einbegriffen) zugleich. In den „vorletzten“ Gedichten ist Benn wieder da, ein süßes Pharmakon, das der Blutkreislauf nicht missen will, „O dunkle Urmenschenurne, / aus welchen Tiefen erträumt“, oder cleverer, „just step by step, Systole-Diastole, / ein Hüftschwung als Verheißung hingesterzt!“. Das sind Beispiele einer poetischen Rückkehr der Toten, wie es der amerikanische Kritiker Harold Bloom nennt – nach vielen Konflikten und Verdrängungsprozessen sind sie wieder quicklebendige Gegenwart, nicht Einfluss, eher Sehschärfe, Atem, Training. Ein Gedicht wie „In Erwartung Bethsebas“, ein alternder Mann dem Kommen eines jungen Mädchens entgegenharrend, das wunderbarste der Sammlung, hat jene rare Eleganz, die in der deutschen Lyrik so selten geworden ist wie ein Schmetterling am Nordpol.

Peter Demenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1999

Heiße Gedichte, fromme Wünsche, alte Tage

− 70 Jahre und noch immer Aufklärer: Am Montag feiert der Dichter und Spötter Peter Rühmkorf Geburtstag. −

Die Schiebermütze hat er mit dem Filzhut vertauscht, und das ist auch schon (wenn man etwas blinzelt wenigstens) der einzige Unterschied zwischen den alten Fotos in der Neuausgabe von Peter Rühmkorfs Autobiografie und dem jüngsten Porträt am Beginn der Vorletzten Gedichte, die pünktlich zu seinem 70. Geburtstag unter dem Titel Wenn – aber dann erschienen sind.
Rühmkorf wirklich 70? Nicht zu glauben, auch wenn man ihm jedes Alter zutraut, so doch kein Altern im landläufigen Sinne. „Denn ich lobe den Greis, in dem sich etwas von einem Jünglinge findet“, rühmte Cicero dem älteren Cato nach, aber man muss das Motiv noch etwas weiter treiben, soll es auf Rühmkorf passen. In das Alter hat er sich verkleidet, doch schlottert ihm das Kostüm um den Leib wie ein immer noch zu groß geratener Mantel. Er ist der Gassenjunge unter unseren modernen Poeten geblieben, ein Lyriker mit Schnauze, der dem Volk aufs Maul geschaut hat und weiß, wie es reimt, redet und spuckt. Dabei aber kein Volksdichter in jenem naiven Verständnis, dem sich darin unmittelbare Empfindung und Einfachheit, gar Kunstlosigkeit verkörperte.
Er kennt die Grenzen des von ihm so schön zweideutig benannten „Volksvermögens“ ebensogut wie die Weite der literarischen Tradition bis zurück nach Ithaka. Ja, der Rühmkorf-Ton entsteht gerade durch die Melange der Sphären, durch den Verschnitt der Alltagsrede mit kunstvoller Verssprache, von Likör und scharfem Fusel. Das Stichwort lieferte schon der Titel des ersten, noch zusammen mit Werner Riegel publizierten Gedichtbandes: Heiße Lyrik von 1956.
Rühmkorf ist ein gelehrter Dichter trotz aller Schnoddrigkeit und erfrischenden Vulgarität, der sein Handwerk nicht als Inspiration tarnt, seine Mittel dauernd bedenkt, seine Arbeit sehr genau auf die kulturellen Strömungen seiner Zeit bezieht, ohne sie etwa bloß mitzumachen, und der als Kritiker seiner selbst und seiner Zunft auch keine Auseinandersetzung scheut: „von allen Seiten / Zeiten her sprudelt es / dir zu aus anderer Leuts Schläuchen“, wie es in einem neuen „Kringel für Ringel“, den verehrten Joachim Ringelnatz, heißt. In der Abteilung „Capriccios-Bagatellen“ des neuen Gedichtbandes findet sich denn auch der „Fromme Wunsch“, der charakteristischer nicht sein könnte:

Wünsch mir im Himmel einen Platz
(auch wenn die Balken brächen)
bei Bellmann, Benn und Ringelnatz
und wünschte, dass sie einen Satz
in einem Atem sprächen:
nimm Platz!

Diese Treue zu seiner poetischen Herkunft, zu sich selbst, irritierbar, auch zu erschüttern, aber nicht zu zerstören, macht Rühmkorfs Wirkung in unserer Literatur so unverwechselbar. Hier habt ihr einen, auf den ihr euch verlassen könnt, gerade weil seine Sicherheiten nie endgültig und immer fraglich geblieben sind. Es ist das Ferment eines unzerstörbaren Zweifelsinns, das ihn allen gängigen Übereinkünften gegenüber vorsichtig macht, und diese Skepsis verbindet sich mit der närrischen Überzeugung von der Torheit der Welt:

Deine Hoffnung steht gegen den Wind.
Deine Tränen nicht brennbar.
Unlautere Absichten sind
an einem Lächeln erkennbar.

Der parodistische Grundzug seiner Lyrik ist zwar undeutlicher geworden, aber immer noch für einen übermütigen Versschlenker gut, denn das zu verspotten, was einem zuwider ist, aber nicht zu verändern, ist immer noch eine gute Überlebensmethode. Sprachkritik und Satire, die Methode der entlarvenden Montage des Unvereinbaren und die schnoddrige Karikatur der großen Themen sind geblieben, geblieben sind auch die Figuren des lyrischen Rollen-Ichs: der polemische Grobianus und schlagfertige Schalk, der gute Kumpel und versierte Unruhestifter:

Weil schon bei halbierten Löhnen
lassen Arbeit sich und Kapital versöhnen
und den monetären Urgewalten
gegenüber sich ein Standort halten: „Abgemacht! Viel Glück!“

Doch verstärkt hat sich die Melancholie über den Lauf der Welt, der doch nicht aufzuhalten ist, und wenn einmal wieder kämpferische Töne aufkommen („Himmel doch! Es sei, ihr rührtet / euch noch einmal und marschiertet / massenhaft und intoniertet / gegens asozial Globale / eure Internationale / nochmal neu!“), folgt der Absturz sogleich nach: „Alles leeres Stroh und nasses Heu.“
Rühmkorf weiß, dass seine Welt alt geworden ist und ihm nichts anderes übrigbleibt, als ihr zu folgen. Das ist eine bewusste Kurzsichtigkeit, die nichts mit den Lebensjahren zu tun hat, ja sogar einen frischen Wind in die verstaubte Zeit bringt: „eine Regung, eine Rührung“ bindet jetzt alle Aufmerksamkeit, die „Dinge in Erscheinungsnähe“ übertreffen jeden großen Entwurf der „Wichtigkeitswelt“ und reizen den Wunsch „Irgendwie auf die alten Tage / nochmal etwas machen / was nicht sofort auf Anhieb gefällt“.
Paul Celan hatte einst das Gedicht mit einer Flaschenpost verglichen, um den dialogischen Sinn der Lyrik auch an der Grenze ihres Verstummens dennoch nicht preiszugeben. Rühmkorf braucht solchen Notbehelf nicht, seine Gedichte sind immer aufs Sprechen, aufs Mitreden aus, werden in die Welt geschickt wie seine Postkarten, die ein schöner Faksimile-Band als Geburtstagsgeschenk Von mir zu Euch für UNS präsentiert. Es sind Ansichtskarten, Postkarten aus aller Welt und an Gott und die Welt, übermalt, überschrieben, von schnellen Gedichten beflügelt (von denen das ein oder andere – wie der „Fromme Wunsch“ – auch eine poetische Etage höher, nämlich im Gedichtband, Platz gefunden hat).
Sie zeigen das Abenteuer auf dem Papier, von dem der Gedichtband zweideutig spricht („Ein unbeschriebenes Blatt Papier, / bleich wie die Hoffnung: / DIN A 4.“), von seiner unbeschwerten, alltäglichen, seiner poetisch-werktätigen Seite. Wie die berühmten übermalten Karten Horst Janssens, dem hier auch einige Postwürfe Rühmkorfs gelten, lenken sie den Blick in die Vorratskammer des Künstlers, dorthin also, wo der Rohstoff lagert, aus dem auch noch die luftigsten Verse gebaut sind.
Überblickt man Rühmkorfs weitverzweigtes Werk, das nun in einer Gesamtausgabe erschlossen werden soll (seine „Anfälle und Erinnerungen“, die unter dem Titel Die Jahre, die Ihr kennt 1972 erstmals erschienen sind, machen den Anfang) und das neben den Gedichten und der Autobiographie auch Kurzprosa, Essays, poetologische und historische Schriften sowie die Dramen und die Fülle von Reden, Literaturkritiken und Anthologien umfasst, so wird die Invariante der Richtung darin ebenso deutlich wie der Wechsel und die Abweichung.
Aufklärer ist dieser Schriftsteller in einem immer noch ganz unbanalen Sinne des Wortes geblieben: dass er ein Licht bringen will in die Dunkelheiten um uns herum. Aber die färben mehr und mehr ab, bringen eine Eintrübung der Verse, des Tons hervor, nicht weil der Autor „der Welt den Bücherrücken“ zukehrte, sondern weil die Welt zum „Scherbenhügel“ geworden ist, auf dem jeder nichts anderes mehr will, als sich möglichst gut zu amüsieren. In solcher Situation verändert sich die Perspektive, aus dem puer senex tritt wieder der Junge hervor, dem die Sterne seltsam erglühen und der sich in die Liebe verliebt, nur intensiver als ehemals, als die Zeit noch keine Rolle spielte.
Der Kreis beginnt sich zu schließen, doch Rühmkorfs Verse runden sich deswegen nicht zur Altersreife. Zu spottlustig ist er geblieben, als dass er sich seine Attitüden einfach so durchgehen ließe.

Denn der Rhythmus ist immer derselbe,
und die Reime hat jedermann satt.
Doch da sitz ich nun mal an der Elbe
und warte wie wild auf das gelbe
Briefträgerrad…

Gert Ueding, Die Welt, 23.10.1999

Ein Chopin der Typoskripte

Ein spätes Gedicht von Gottfried Keller (völlig andre Gegend, völlig andre Zeit: 1819 in Zürich geboren, dort auch gestorben; links und unfromm in den früheren Jahren zwar, dann aber doch Staatsschreiber, Freund Jacob Burckhardts, Böcklins, zweier grosser Männer; Rühmkorf fast genau 110 Jahre später geboren, in Dortmund, in Niedersachsen gross geworden, dann immer Hamburg; links und unfromm von früh an und geblieben, mit Grass befreundet und Janssen, dem Zeichner; nicht viel Vergleichbares zunächst einmal), ein spätes Gedicht also von Gottfried Keller, das „Abendlied“, man beachte vor allem bitte die letzte Strophe:

Augen, meine lieben Fensterlein,
gebt mir schon so lange holden Schein,
lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
tastend streift sie ab die Wanderschuh,
legt sich auch in ihre dunkle Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
bis sie schwanken und dann auch vergehn,
wie vor eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,
nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
von dem goldnen Überfluss der Welt!

Ein wunderbares Gedicht, eines seiner besten ganz sicher (neben dem kleinen Schneckhäuselied: „Du milchjunger Knabe…“), kühn auch, selbst wenn wir das heute kaum noch merken, kühn diese lässige Formulierung „dann hat die Seele Ruh“; dann diese herrlich alterstrotzige Wendung: „doch noch wandl ich…“, endlich dieser schöne Aufruf, und wieder so lässig: „was die Wimper hält“.

Bezaubernd hypochondrisch
Nun Rühmkorf, aus seinem allerletzten eben erschienenen Gedichtband, Wenn – aber dann, mit dem irgendwie so hübschen Untertitel, für den ganzen Band: „Vorletzte Gedichte“ (ich weiss nicht, wie das mit ihm in seinen ganz jungen Jahren war, aber seit dreissig Jahren ungefähr geriert Rühmkorf sich am liebsten, jedenfalls beim Dichten, als ein alternder, am liebsten schon gealterter, ein alter Mann. Natürlich ist das auch ein Spiel, Koketterie; ich weiss nicht, ob Sie ihn mal gesehn haben in den letzten dreissig Jahren: klasse Erscheinung, dieses leicht feminin Ätherische, das so betäubend auf manche, aber was sag ich: auf hundert Frauentypen wirkt, Seidenschal immer um den schlanken Hals, schlank überhaupt, durchgeistigt, bezaubernd hypochondrisch, und immer schöne Frauen wirklich auch um ihn, oder jedenfalls er auf dem Weg zu ihnen, immer in geschmeidiger Eile, ein Chopin der Typoskripte); dort also, aus diesen „Vorletzten Gedichten“, aus der titelgebenden, der vierten Abteilung Wenn – aber dann, nun das letzte Gedicht, es hat einen völlig hinreissenden Anfang, hier ist er:

Früher, als wir die grossen Ströme noch mit eigenen
Armen teilten
Ob,  L e n a,  Je n e s s e i,  M i s s o u r i,
M i s s i s s i p p i,  E l b e,  O s t e …

– die Ströme, von Ob bis Oste, sind gesperrt gedruckt, und ich glaube, ich sollte in der Schweiz erklären, dass die Oste ein kleiner, am Ende aber immerhin schiffbarer Nebenfluss der Elbe ist, sehr oft weit über einen Meter tief, in der Nähe der berühmten Ortschaft Worpswede. Apropos Worpswede: es ist eigenartig, dass Rilke offenbar für Rühmkorf so gut wie gar keine Rolle gespielt hat. Einmal, in den Tagebüchern um 1990 herum, leidigen Angedenkens, ich komme noch darauf, scheint Rühmkorf Rilke mit einem Male zu entdecken. Aber was er entdeckt, sind bloss, an der Hand Unselds, der ein kleines Büchelchen drüber gemacht hat und sich bei diesen Versen ergötzt zeigt, ein paar erotische Gedichte Rilkes, die Rühmkorf dann prompt „kraftvoll“ nennt, die Erotik, glaube ich, weniger die Verse, wahrscheinlich hatte er bis zur Bekanntschaft mit diesen Gedichten immer geglaubt, Rilke hätte nur Gräfinnen für Männer gehalten – soviel also zur Oste und diesen Flüssen und so weiter.
Nach der Oste, attacca (übrigens ist Rühmkorfs musikalischer Geschmack, also sagen wir einmal: bestreitbar – jedenfalls soweit da seine Tagebücher etwas hergeben, leidigen Angedenkens, wie gesagt, doppelt leidigen jetzt schon) dann das Folgende, und hier nun, wie in einem Selbstzitat, steigen vor dem erfreuten Auge des mit Rühmkorf gealterten Lesers noch einmal seine früher herrlichen Parodien empor:


und mit Gesang den Hang raufzogen
und mit Gesang auch wieder herab,
immer den Augen hinterher und Hyperions leuchtenden Töchtern,
des Tages Anbruchs Röte
und des Mondes Aufzugs Beginn –
H e u t e : drei Telefongespräche und der Tag ist gelaufen…

– das Wort „Heute“ ist jetzt gesperrt gedruckt. Nebenher, jene Parodien angehend, und die Schweiz noch einmal, die sich hier zwanglos mit Hamburg verbindet, nämlich Klopstock und der Zürichsee:

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindungen Pracht,
mit entspanntem Munde gepriesen…

– und dann, die sechste Strophe:

… nur dies Herz, und ein instabiles,
grobes Gefühl in der Brust, der hochgemöbelte Ursprung;
und wir sangen hinter dem Segel
und empfanden wie Schmidt…

– bei Schmidt macht Rühmkorf eine Fussnote, darin verweist er, Kennern ist die Sache natürlich schon klar, auf Arno Schmidt, nach Heine unter den Toten und Benn unter den älteren Dichtern und neben Döblin und Hans Henny Jahnn einer der grossen Sterne am poetischen Himmel Rühmkorfs damals. Sein früher Freund und literarischer Kampfgefährte Riegel lebte mit denselben Göttern.
Schmidt hatte vor seinen Roman Das steinerne Herz, 54, eine Widmung gesetzt, worin Brecht, Benn und Riegel in einem Atem genannt werden; von Rühmkorf ist bei Haffmans 1988 ein ganz wunderbares Buch erschienen, ausser den Gedichtbüchern das schönste, finde ich, Werner Riegel… beladen mit Sendung / Dichter und armes Schwein. Es besteht erstens aus einem seiner, Rühmkorfs, besten Essays, eben über seinen Freund Riegel, der, gerade erst einunddreissigjährig, 1956 gestorben war, und zweitens aus Gedichten und andern Arbeiten Riegels. Kein anderes Buch zeigt so rein und unverfälscht, und sozusagen unwiderlegt durch ein fortgeführtes Leben, jene Aufbruchsstimmung genialer junger Leute in den frühen fünfziger Jahren.
Hier ist noch nichts, noch gar nichts da von der Ranzigkeit, in die die Gedanken von damals bei denen geraten sind, die sich allzu lange daran festgehalten haben, bei Grass etwa, oft eben auch bei Rühmkorf – es sei denn, er schreibt Gedichte, das heisst bei ihm: er reisst sich heraus aus dem Schlamm (Scheisse sagt Flaubert dazu, ich bitte um Vergebung, aber so sagt er), es sei denn also, er, Rühmkorf, reisst sich schreibend heraus aus dem Schlamm, der jenen Elfenbeinturm umbrandet (so Flaubert), auf dem er nicht sein zu dürfen glaubt als ein zeitgenössischer Dichter und auf den er eben doch geht, gehn muss, wenn er schreibt.
Apropos Grass noch und diese denn doch grossartige Anhänglichkeit an die guten alten Ideen, und es hat sich ja nun auch gelohnt, das kann man schon sagen – so lautet nun die dritte Strophe dieses Rühmkorf-Gedichts von den grossen Strömen so (und nicht eben, als ob Rühmkorf jene Anhänglichkeit nicht teilte, nein nein, aber, schreibt er nun doch):

Wenn man bedenkt, wie vielen trotzigen kleinen
Tante-Emma-Läden
du bis zum letzten Hirsekorn die Treue gehalten hast,
und sind ausnahmslos untergegangen… (sic, R. V.)
Und dann kommt ja auch bald der Moment,
dass du selbst die Regale räumen musst,
nur weil von hinten unentwegt die neue Ware nachdrückt:
Vom Dreck ergriffen steht die Menge da.
Nicht zur Hilfe eilen die Mitmenschen,
sondern zu niederen Schauzwecken.
Du aber sitzest angestrengt auf deinem Scherbenhügel,
einen abgerissnen Fluch im Hals –

– das war’s ja, was ich gern nahebringen wollte: vom Dreck, vom Schlamm ergriffen die Menge also, und was vorhin der Elfenbeinturm war und Flauberts Geschimpfe (Turgenjew gegenüber übrigens, brieflich) über die anbrandende Scheisse (noch einmal bitte ich um Vergebung), das ist hier der abgerissene Fluch geworden und statt des Elfenbeinturms der Scherbenhügel – nicht?

Bei dieser Gelegenheit, nämlich diese Mitmenschen angehend, und ehe ich auf Keller zurückkomme, einen Blick jetzt auf die nächste Abteilung dieser neuesten Gedichte, gleich nach diesen Wenn – aber dann-Sachen. Sie heisst „Schreiber, was siehst du?“ – eine grosse Zeile, finde ich, und nebenbei auch noch einmal jetzt: von wo aus sieht man eigentlich am meisten, am aufschreibenswertesten viel? Gab es da nicht auch einmal einen Lynceus, bei Goethe, «zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen…“ – ja, Faust II, fünfter Akt, „Tiefe Nacht“? Und auch hier diese Augen, an die Keller gedacht haben muss, auch wenn Keller nicht mehr ganz so gedacht haben wird wie Goethe, nein, gar nicht mehr so wie Goethe, wenn auch nicht so ganz und gar nicht mehr, wie Rühmkorf gleich an Goethe noch denken wird, aber diese Augen eben auch hier schon:


Ihr glücklichen Augen,
was je ihr gesehn,
es sei wie es wolle,
es war doch so schön!

– Schreiber, was siehst du? und hier das dritte, das titelgebende Gedicht, mit einem fulminanten Anfang:

Schreiber, was hast du gesehn?
Ich sehe, sah:
zwei für unumstösslich gehaltene Reiche
sah ich zu Grunde gehn,
eins steht noch da…

– und dann die beiden Schlussstrophen, alles des Turms wegen, des Schlammes, Sie erinnern sich:

Das Gelobte Land? Ein erleuchtetes Abflussloch.
Viel Grund, sich drin zu verlaufen.
Fruchtbar sein und euch mehren,
das wolltet ihr doch,
nun seid ihr zuviel auf dem Haufen.

Ja, und immer hübsch ran an den Rand.
Und ruhig mal rauf auf die Zehen?
Schreiber, was siehst du?
Ich sehe, ihr nehmt überhand.
Und man hat sich euch übergesehen.

Ist das noch der gute alte Sozialismus? Nur nebenbei diese Frage; denn in den Tagebüchern steht er noch, der Gute, wie von alters, es ist beinahe nicht zu fassen. Übrigens, dann aber nichts mehr davon, die unheimlichste Stelle in den Tagebüchern ist doch da, wo Rühmkorf erzählt, wie er sich aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wohin er sie, eines möglichen Todes wegen, der aber jetzt vorbei scheint, vorsorglich hingegeben hatte, mehrere (!) metallene Kisten (!) voll seiner alten Tagebücher schicken läßt…
Und nun, gerade wie vorhin aus dem Turm der Scherbenhügel geworden war bei Rühmkorf und wie eben aus der Menge der Menschen, die wir lieben sollten, dieser Haufen jener geworden ist, an denen man sich übergesehn hat („schon eure Zahl ist Frevel“, hatte George geschrieben) – so nun zurück zu Keller wieder, und was bei Rühmkorf daraus wird, oder davon bleibt, wie immer man das sagen will.

Du aber sitzest angestrengt auf deinem Scherbenhügel,
einen abgerissnen Fluch im Hals –

und dann, der Gedankenstrich gehört zum Gedicht, die letzte Strophe:

Alles Quack, wer der Welt zu tief ins Auge gesehn
hat,
um noch an ihr leiden zu wollen,
wird den Mangel an Service hier nicht so persönlich
nehmen.
Lieber als dass ich einiger abgesoffener Salatblätter
wegen
gleich nach dem Chef des Hauses verlang,
lass ich mir doch das restliche Abendlicht auf der
Netzhaut zergehn.
Ein paar dampfende Dachpfannen nach dem Regen.
Eine nasse Hecke, hingestreckt über tausend Meter,
eine viertel Stunde lang.
Ja, und am Ende sehnst du dich dann nach den
Tagen,
die du jetzt so lieblos verabschiedest.

– Nicht wahr, das war die entscheidende Zeile, Sie haben sie sich herausgelesen aus dem andern, diese Zeile: „… lass ich mir doch das restliche Abendlicht auf der Netzhaut zergehn…“. Lässig fast wie dieses Kellersche „hat die Seele Ruh“ oder sein „was die Wimper hält“ hier bei Rühmkorf dieses Abendlicht, das er sich, fast wie etwas auf der Zunge, nun „auf der Netzhaut“ „zergehn“ lässt; und zergehn fast auf die Kellersche dritte Strophe gereimt, mit ihrem „glimmend stehn“ und „innerlich zu sehn“ und „auch vergehn“ von jenes „Falters Flügelwehn“, bis hin zur Elision des e, die bei Rühmkorf nicht verwundert, wohl aber bei Keller fast verwundern kann.
Das ist nicht die überwältigende Schönheit dessen, was bei Goethe Lynceus sieht; das ist auch nicht mehr die beinahe Gott oder der Welt abgetrotzte Versöhnung Kellers; fast, fast hat der alternde Dichter, der da spricht, was irgendwie ganz leicht Schmachtendes sogar an sich, ich meine, nein, nichts Schmachtendes, das ist zu grob; eher etwas irgendwie doch immer wieder Einverstandnes, wenn er nur ein bisschen auch noch abkriegt, auch er, von der wirklich vorhandenen, wenn auch halb schon nur noch vorhanden gewesenen Schönheit; etwas mehr als eine Dachpfanne könnte es dann natürlich schon sein…

Ausser der Liebe nichts
„Ausser der Liebe nichts“ heisst ein berühmtes Gedicht Rühmkorfs, ein hübsches Taschenbüchlein voller Liebesgedichte hat dann auch so geheissen, und die zweite Abteilung dieser neuesten Gedichte jetzt ist überschrieben: „Liebe Dich, Liebe“, und das erste Gedicht darin fängt an, ganz im alten Ton bei ihm, diesem Ton, den vor ihm noch keiner im Ohr, keiner auf der Zunge hatte, als wenn Heine und Benn sich zusammengetan hätten, um Bellmann was vorzusingen („wünsch mir im Himmel einen Platz“, schreibt Rühmkorf im vorvorletzten Gedicht des Bandes, „bei Bellmann, Benn und Ringelnatz“):

Ich liebe Dich, Liebe, ich liebe,
und stündest Du jetzt in der Tür,
ich schwöre Dir, ich verschriebe
dem Satan die Seele dafür…

und dann, am Schluss:

Denn der Rhythmus ist immer derselbe,
und die Reime hat jedermann satt.
Doch da sitz ich nun mal an der Elbe
und warte wie wild auf das gelbe
Briefträgerrad…

 

 

Wie ich ihn da sitzen sehe, komme ich, am Ende, auf die allerletzte Abschweifung, die ich machen will, nämlich, wie er da sitzt. Ich habe noch die ersten Gedichte nach dem Irdischen Vergnügen in g (den scheint mir jemand entwendet zu haben), ich habe sie vor mir liegen, nämlich die Kunststücke, Hamburg 1962, als Rowohlt-Paperback, völlig so aufgemacht wie seinerzeit, mancher wird das noch besitzen, Schmidts Nobodaddys Kinder. Und da, gleich hinterm Vorsatzblatt, ganzseitig links, sitzt, schwarzweiss, mit einem Blumenstrauss der fünfziger Jahre hinter sich in einem Café der fünfziger Jahre, Rühmkorf, stark gestreiftes Hemd, offener Kragen, volles jugendliches Gesicht noch, in der Rechten hochgehalten eine Zigarette, mit langer Asche, der Photograph scheint nicht sehr flink gewesen zu sein, in der Linken die Bildzeitung, die an diesem Tage titelt: „Ich war 106 Minuten im All!“
Und jetzt, im neuesten Band, siebenunddreissig Jahre später, wieder gleich nach dem Vorsatz, links, nicht mehr so aufdringlich glänzend schwarzweiss, sondern matt, wunderbar matt, ähnlich wie ja auch die kleinen Schriftstellercomputer (hat er eigentlich einen? grässlich, wie im dicken Selbst-Buch die verrutschten Grossbuchstaben aussehn, fürchte ich nein – schenkt ihm doch einen um Himmels willen!), ähnlich also wie ja auch die Computer heute sehr viel leiser sind als damals die Schreibmaschinen, diese Photo nun: jetzt, siebenunddreissig Jahre später, sitzt Rühmkorf wieder da in seinem Buch, an der Elbe diesmal, auf gemauerten Stufen am Wasser, offener Kragen wieder, aber ein eher grossgemustert buntes Hemd, Mantel, Hut, die Hände halb gefaltet; hinten, überm Wasser, Schiffe, rechts vorn ein bisschen Baum; und vor sich hinblickend, älter geworden, natürlich, aber bei weitem nicht siebenunddreissig Jahre, nein, mehr ins Alterslose einfach gegangen, der Dichter; der geliebte, liebende, der Liebe hier an der Elbe wie nachsinnende Dichter.
Und jetzt das zweite Gedicht aus dieser Liebesabteilung, hier der Anfang wenigstens:

Wollte nur mal fragen, wie’s so ist.
Wollte nur mal sehn, ob meine Sterne
noch am Leuchten sind
und man mich in der Ferne
etwa gar vermißt…

Wollte eigentlich,
wollte, weil mein Sinn für das Postume
wie bekannt in engen Grenzen bleibt
und der Geist auf seiner schmalen Krume
ungenetzt nur parfümierte Blumen treibt,
also, wollte fragen, ob man sich…

Ob man, wenn es deine Zeit erlaubt…

 

 

– nur die letzten Pünktchen sind von mir, die andern alle von Rühmkorf. Noch einmal (Benn, glaube ich), noch einmal also dieses Parlando, Reime, dieser leichte Rhythmus, vor allem, und das nun, immer vollkommener, zu unserm Glück solange wir lesen können schon, diese Melodie, die man nicht für möglich gehalten hätte, wie… nun, eben wie alles dies, Liebe, Schönheit; lustvolle Schönheit wohl vor allem; auch dieses restliche Abendlicht, von dem alten goldenen Überfluss, um noch einmal in der alten Sprache zu reden.

Rolf Vollmann, Neue Zürcher Zeitung

Peter Rühmkorf: wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte

Wenn Einer mal eine Ehrennadel zu vergeben hätt’ für den lustigsten Zeilensprung, hier ist ein Kandidat:

Es ist ja dem Blühn nicht mehr recht zu trauen.
Nach dem kilometerlangen Abendrot
und den jäh verfilzten Wolkenfellen
neigt der Mensch. Sich vorzustellen,
kleine Katzen hören zu miauen
auf und kleine Hunde auf zu bellen
und sind tot.

Wenn einer mal eine Medaille stiften wollte für den unvordenklichen Reim, hier hinge sie gut:

Hab meine Hosen gebügelt, Stiefel gebürstet,
alle meine Goethe-et-cetera-Jubiläumstermine
abgeblasen, Komteß.
Komm, kleine Chateau-Dekantiermaschine,

(…)

Und gäbe es einen Pokal für das tollste Enjambement, kontrahiert mit dem „Abenteuerreim“, hier könnte er eine Weile stehen:

So alte Dichter, Gotterbarm,
auch alternde Composer,
die einen werden täglich harm-,
die andern umstandsloser.

Oder auch hier:


lieber ein Lied-
chen, das mich außer Landes trüge,
am liebsten Liebe, die
– wie kurz sie sei –
statt hier bei Brunch mit Lie-
und Bi-Bedienerei,
Mundwinkelküssen,
achtlos appliziert, auf Stehimbissen, wie?
Von wem? ich weiß nicht, eingeführt –

Oder einen Ehrendoktor des ironischen Neologismus:


selbst die Bodystockings momentan derart regenbogengeil
im Kommen,
daß…

Wer noch immer glaubt, St. Pauli sei für alle Zeit von Leo Kirchs Klatschbasen flach getreten, der wird von einem dritten Vers eines Besseren belehrt:

Um 8 Uhr morgens auf die Szene torkeln
– zu früh ist auch zu spät –
Wo Böcke nachts um ihre Bräute forkeln,
die Lichtung leergemäht.

Einen parodistischen Dichterkorb für die Mystik des Namens, der von Eichendorff bis Bobrowski so weidlich strapazierten?

Nur leider, daß die Damen,
die Bäume und der Wind
auch mit den schönsten Namen
nicht nachzunahmen sind.

Und wenn es einen Pokal gäbe für die ironische Wiederinthronisation der altgedienten Vorstellung von der Schrift der Natur, die Fortsetzung des eben zitierten Rühmkorf-Gedichtes wäre wohl ein Anwärter:

Die Weiden, kühn verschroben,
das Haar halb in der Drift,
kopfüber im Wasser kieloben,
ein Stück für Spiegelschrift.

Wenn Einer einen Kranz flechten möcht’ für den, der noch einmal beweist, daß das Naturding auch und immer noch und ganz lax ein probater Spiegel der Menschenseele ist, der halte sich an das:

Leider, es ist so, das Jahr verblüht sich,
nur der Efeu dreht sein Ding in Ruh,

doch du merkst, bei jeder Windung zieht sich
eine andere Schlinge
enger zu –

Oder im selben Genre, schnoddriger, aber raffinierter:

Spinnenetz,
radial geädert,
beziehungsweises Weltsystem –
Unwirsch mit dem Wischtuch weggeledert
so der Mensch – als Mitgeschöpf nicht gerade angenehm.

Wer etwas Programmatisches sucht vom alten jungen Rühmkorf, der wird fündig im Gedicht „Nietzsche zur Lehre“:

Besser, bei derart geschichts-
trächtigen Supermannssachen
aus einem Fast an Nichts
nochmal was Schwebendes machen.

(Gegen Nietzsche – den Philosophen des Vitalen, der das gewöhnliche Leben verachtete – wird übrigens im selben Gedicht das Leben verteidigt, das handfeste um uns herum. Das ganz Große wird im ganz Kleinen gesehen und Rühmkorfs Schalmeien blasen nun gar possierlich, lieblich, lakonisch und leise:

Sagen zu der, die dir liegt,
bleib noch ein wenig sitzen.
In deiner Nähe kriegt
das Gras gleich grünere Spitzen.)

Wer sich von einem programmatischen Rühmkorf-Vers mal schön hinters Licht führen lassen will:

Kunst als Experiment?
Freund, wenn das Leben als solches
dich direkt bestürmt, berennt,
kann das Wort sich nur mitreißen lassen.

Ein paar Seiten später nämlich erst erfahren wir, was denn die „Tatsachen“ des „Leben“ sind, von denen der Dichter sich fortreißen lassen mag:

Anders gesagt, ich bin von den Tatsachen verschlungen worden:
Bindfadenblonden, menningroten,
lakritzschwarz, grüngebüschelt, herbstblattbraun,
in Ausnahmefällen auch Dachpappengrau
noch eine ernstzunehmende Kategorie.

„Schwebendes“ – ein „Levitationskünstler“ wolle er sein, hat Rühmkorf einst in der „Einfallskunde“ gewünscht. Schweben lassen, etwas nur so mal eben sachte hintupfen, das beherrscht er noch immer wie kein zweiter, der große Schalk und Barde von der Unterelbe. Nicht in den Balladen, nicht in den lyrischen Zeitdiagnosen (Kapitel V: Schreiber, was siehst du?), die auch im neuen Band Nachbarn der auf gut Heine’sch ironisierten vanitas-Tönen stehen und auch nicht eigentlich in den Gelegenheitskrakeleien, dem nicht ganz nötigen sechsten Kapitel des neuen Gedichtbandes. Aber oft genug läuft auch der alte Rühmkorf noch zu Hochform auf in der Kunst, alles wie ein leichtes Spiel aussehen zu lassen – gerade dort, wo es rundherum gravitätisch und traditionslastig daherkommt:

Als hieße Abschied nochmal Neubeginnen
(Die Wendung geht mir nach und steht mir nah)
Dem Lebewohl paar letzte Farben abgewinnen,
die man noch nie so sah.

Laub löst sich leis, wie still die Lärche nadelt,
von Osten her nimmt Abend überhand –
Da, schau, ein blondes Blatt kommt angeradelt,
gefährlich auf dem Rand.

(Merke: „Bellman, Firdusi, Bakchylides, / nimm, wen du willst – / Nimm sie als Zeichen, /
daß du nicht nur allein aus dir selber quillst, / von allen Seiten /
Zeiten her sprudelt es /
dir zu aus andrer Leuts Schläuchen.)

Leicht wird es an solchen Stellen, deren Schlankheit ganz ohne die gewohnte Rühmkorf’sche Passion für Wortkombinatorik und Silbenspiel auskommt. Eine Leichtigkeit, die nur um den Preis des Fleißes zu haben ist, wie wir spätestens seit „Aus der Fassung“ wissen. (Ein Kompendium, das die siebenhundert [!] Entwurfsblätter abbildet, die es brauchte, bis das Gedicht „Selbst III/88“ seine Form gefunden hatte.) Nur einige „Quanten„ werden dem Dichter geschenkt, sagte er damals, von den Musen geschenkt, oder, neuerem Sprachgebrauch nach: Von der Inspiration. Wie „Lichtblicke“ oder „versprengte Lichteinfälle“ geraten sie ins Hirn des Dichters. Dann aber heißt es fleißig sein, kombinieren, vertauschen, die Quanten zu Versen verlängern, den Abenteuerreim – für den Rühmkorf berühmt ist – erwirtschaften, Biographisches und Allzuunmittelbares tilgen oder verfremden, Gegenbilder errichten, Kontraste schaffen.
(…)

Sebastian Kiefer, Deutsche Bücher, Heft 2-3, 2000

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Lutz Hagestedt: Kenner und Könner
literaturkritik.de, November 1999

 

Auf dem Hochseil

− Der Schriftsteller Peter Rühmkorf. −

1972 eröffnete der damals 43jährige Schriftsteller Peter Rühmkorf sein Buch Die Jahre die ihr kennt, in dem er die eigenen und die Anfänge der westdeutschen Nachkriegsrepublik kritisch erinnert, mit einer scheinbar lapidaren Aufzählung. Mit lakonisch linker Hand inszeniert Peter Rühmkorf da den ersten Fünfjahresplan seines Lebens und schreibt sich subtil eine Rolle, in die er hineinwachsen wollte und die er sein Leben lang erfüllt hat:

1 Geboren am 25.10.1929 als Sohn der Lehrerin Elisabeth R(ühmkorf) und des reisenden Puppenspielers H. W. (Name ist dem Verfasser bekannt) in Dortmund…

2 Aufgewachsen in Warstade-Hemmoor (Portland-Zement, Binnenschifferei, Landwirtschaft) im Kreis Land Hadeln, Reg. Bez. Stade, Land Niedersachsen. Frühe Eindrücke: Tausend Stecknadeln, Ohren Abschneiden, Bremer Gänse Sehen, Knüppelrieden, Schorse Schikorrs Hund und der nicht zu Hilfe eilende Liebegott. Seitdem keine Beziehung zu Vaterfiguren, Götternaturen, Hundekreaturen. Auch nicht vergessen: alle dürfen Kasper spielen, nur nicht ich. Seitdem: Kasper im Kasten gelassen – Knüppel aus dem Sack!

3 Einige Jahre lang Schlafwandler. Ich zünde die Kerze an und schreite gemessen wie das Darmolmännchen durch das ganze Haus. Einmal erwache ich vor brennenden Gardinen. Eine Geburtstagsgesellschaft wirbelt heran und löscht mit Kleidern und Waschwassergüssen. Nachhaltige Eindrücke von großer Festlichkeit.

4 1934: Lektüre Häschenschule plus Erlebnis Hasenbraten-mit-Grünkohl ergeben Lied „Es ging Meister Hase mal durch einen Wald“. Gutes Publikumsecho.

Die hier schon aufscheinenden Grundmarkierungen der Rühmkorfschen Biographie sind: eine farbige, unbürgerliche Herkunft, gemischt aus mütterlichem Aufklärungsgestus und väterlich hallodrihaftem Spiel, die frühe Skepsis gegenüber paternalistischer Autorität, eine schlafwandlerisch entflammbare Phantasie – und auch das ästhetische Prinzip der eigen- und mutwilligen Variation traditioneller literarischer Vorlagen wird schon praktiziert, da verwandelte der Fünfjährige einen traditionellen Text der Kinderliteratur in ein eigenes Stückchen, durchaus wirkungsbewußt und publikumsbezogen.
Eine so erinnerte, gleichsam rückwärts bis in die Haarspitzen präparierte Selbstbiographie zeugt von einer stolz und bewußt gelebten künstlerischen Existenz mit allen Risiken und Spannungen. Damals, in der Mitte seines Lebens, hat Peter Rühmkorf sich auch eines seiner schönsten Gedichte auf den Leib geschrieben: „Hochseil“, in dem er über die herausgehobene Existenz des Künstlers und explizit des Schriftstellers anschaulich nachdachte, der, wie ein Tänzer auf seinem Hochseil, auf die Welt herabblickt und dabei ständig in Gefahr ist, auf sie hinabzustürzen:

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Individuum
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt – warum? wozu? −
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
vierfüßig – vierzigzehig −
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Das ist ein eingängig tönender, leichtmündig singbarer Text. Doch er steckt voller Vertracktheiten und Spannungen: Ein ungebundenes lyrisches WIR träumt von einem Unteilbaren, einem (noch) unbekannten, unerforschten Individuum, das es mit Worten ergreifen, das es schaffen, ja das es werden möchte. Indem es dies mit handfesten poetischen Mitteln versucht und die Spannungen, von denen es spricht, auf dem Weg vom Vers zur Strophe mit Assonanzen und den unterschiedlichsten Reimen ausbalanciert, verwandelt sich das lyrische WIR tatsächlich in das erträumte Individuum, das aus nichts als aus Wörtern besteht und das wir Gedicht nennen.
Rühmkorf hat es ein „Vorführgedicht“ genannt, ein „poetisches Exerzitium, das sein eigenes Programm vorzuturnen versucht“. Es artikuliert aber mehr als diese hochartifizielle Selbstreferenz. Seine Spannung gewinnt es aus verschiedenen Gegensätzen und Ambivalenzen. Da ist das Gegenüber von literarischem Produzenten – „wer Lyrik schreibt“ und ihrem Rezipienten: Der eine, der Produzent, ist verrückt, der andere, der Leser, der sie wahr-, gar für wahr nimmt, wird verrückt. Oder da ist der gegensätzliche Blick auf die Wirklichkeit: Aus allzu großer Entfernung betrachtet, erscheint sie armselig und irrgängig; andersherum halten jene, die da unten in dieser armseligen Wirklichkeit herumirren, von denen, die sie aus so großer Ferne beschreiben, nichts, ja sie halten sie gar für unzurechnungsfähig. Da gibt es offenbar nichts mehr zu vermitteln zwischen Wirklichkeit und Kunst.
Der Dichter kann die Wirklichkeit nicht verändern. Aber er gibt nicht auf. Er beharrt dennoch darauf, mit und in seiner Sprache das Abbild, die Metapher zu versuchen, die der Wirklichkeit wenn schon nicht beikommen kann, so aber doch ihren Bewohnern zu einer aus der Norm gerückten Anschauung verhelfen möge. Dies ist das Metier, das der Künstler beherrscht: Das Ich spielt Klavier auf seinem Seelenleib, produziert also Kunst: „vierfüßig – vierzigzehig“, schafft nur bildhafte Vorstellungen von der Wirklichkeit. Für was stehen die? Für kreatürliche Lust, wild Animalisches? Oder für eine krankhaft mutierte Welt? Die Konfrontation von romantischer Anschauung und realistischer Einschätzung, also zwischen der lockenden Loreley oben und dem verseuchten Rhein unten signalisiert eine aus den Fugen geratene Welt, deren Abbild so eben mal noch im Gedicht, in Rhythmus und Reim, ordentlich verfugt wird. Credo quia absurdum. Zwar ist der Dichter bedroht, als Gattung und als Individuum, als Mensch und Künstler – doch dem Künstler erlaubt dieser Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Kunstcharakter, diese Leichtigkeit des gelungenen Gedichts, der Erdenschwere wenigstens für ein Weilchen zu entkommen. Es allein ist seine Legitimation: „aus einem Fast an Nichts nochmals was Schwebendes zu machen“, wie es in dem Gedicht „Nietzsche zur Lehre“ heißt; es ist seine Kunst – und sein Leben.
„Hochseil“ ist nicht nur ein poetologisches „Vorführgedicht“, sondern es artikuliert auch das literarische Glaubensbekenntnis Peter Rühmkorfs, aber, typisch für Rühmkorf, nicht als griffige Formulierung, sondern als poetische Formel. Die ist freilich nicht einfach und eindeutig zu haben. Die wird sich entfalten, wenn man das in 50 Jahren entstandene Werk Rühmkorfs aufblättert, das auf vielen Feldern gewachsen ist: auf Kinderspielplatz und Katheder, auf Kothurnen und in Kolumnen, auf dem Marktplatz und in der Akademie.

Die allerersten Anregungen zum Schreiben sind mir sicher durch den Kindervers zuteil geworden. Als ich ein kleines Kind war, vier, fünf, sechs Jahre alt, lebten wir auf einem Dorf, wo meine Mutter Lehrerin war, gleich neben unserem Haus war der Schulplatz. Und alle Kinder mit denen ich spielte, kannten Kinderverse. Ich habe später mal aus eigener Erinnerung Kinderverse zu sammeln versucht und einen Fundus von etwa achtzig Verschen, Sprüchchen, Liedlein, kleinen Gedichten, kleinen Ballädchen zusammengekriegt. Ich bin nicht im Umkreis von Ober- oder Mittelschicht aufgewachsen, sondern zunächst im Umgang mit Proletarierkindern, und es war für mich, rückblickend, eine wirkliche Entdeckung, daß auch sogenannter armer Leute Kinder genau den gleichen Schatz an Poesie von etwa achtzig his hundert Stücken zur Verfügung gehabt haben. Also insofern ist die Poesie gar nicht so etwas Weltfremdes, Aufgepfropftes und von Oben her, durch deutsche Klassik und Romantik Indoktriniertes, sondern sie zählt zu unserem menschlichen Hausvorrat.

Und in seiner Göttinger Poetikvorlesung hat Peter Rühmkorf Anfang 1999 dazu ausgeführt:

Es ist ja bemerkenswert, daß der Kindervers – nicht der altbackene Kinderstubenvers, für den ich nicht zuständig bin −, über all seine Gattungen und Unterarten hinweg ein anarchisches, antiautoritäres, despektierliches Wesen offenbart, das keine Obrigkeit ungeschoren und übermenschliche Helden gar nicht erst aufkommen läßt. So hieß es in einem Abzählvers – Zarah Leander war ja eine hochberühmte, sie war eine wirkliche Kultfigur, aber der Kindervers sagt: „Zarah Leander, Arsch auseinander, Arsch wieder zu, raus bist du.“ Warum tut er das? Warum betreibt der Kindervers diese Denkmalschändung? (…) „Caterina Valente hat ’n Kopf wie ’ne Ente, hat ’n Arsch wie ne Kuh, raus bist du.“ – „Drei Polizisten pißten in die Kisten, einer pißt vorbei, und du bist frei.“ Solche Ordnungshüter werden natürlich in den Dreck gezogen, aber warum dieser Unfug? „Hinter einer Lokusmauer saß der Doktor Adenauer, hatte kein Papier, raus mit dir.“ Ein bundesrepublikanischer Vers, aber absoluter Kindermund, das kann sich kein Erwachsener ausgedacht haben. Und dann: Warum heißt es im Kindervers: „Uwe Seeler schießt ’n Fehler, schießt vorbei, und du bist frei“? Es hätte ja auch heißen können: „schießt ’n Tor, und du komm vor“; nein, Uwe Seeler muß einen Fehler schießen. (…) Nicht unbedingt, so möchte ich meinen, handelt es sich hier immer schon um Rufmord und Denkmalschändung. Zwar mit solchen ausgestopften Helden war das kindliche Dasein in jenen Frühzeiten, die heute wohl nicht mehr herrschen, umstellt. Und sie werben meist für irgendwelche unerreichbaren Ideale. Sie figurieren häufig auch als verlängerte Zeigefinger der Erwachsenenwelt. Und wenn sich der Kindervers seinen eigenen Reim auf solche Magnifizenzen macht, dann hat das schon was zu bedeuten. Der Kindervers verfährt aber gar nicht so eindeutig. Und was sich zunächst wie eine Abwertung der Autorität ausnimmt, erscheint alsbald als Umwertung.

Da ist das Zauberwort: Umwertung. Der Kindervers ist nach Rühmkorf, als urliterarische Form der Umwertung, die Urzelle gesellschaftlicher Demokratisierung. Er holt die Großen, Mächtigen, Berühmten vom hohen Podest herunter und zeigt sie in verfänglichen Situationen, sie werden gleichsam zu Kindern gemacht, die genau das tun, was man den Kindern vorwirft und verbietet. Deutlich wird daran, daß Rühmkorf schon früh ein, wenn man so will: materialistisches Dichtungsverfahren entworfen hat, dem jedenfalls ein antiautoritäres und antiideologisches Immunsystem gleichsam eingeschrieben ist.
Doch das kam nicht von ungefähr. Derlei durchaus politische Imprägnierungen sind fast so alt wie Rühmkorfs Vorstellungen vom Kinderreim und vom Willen zur Kunst und entspringen demselben antiautoritären Impuls:

Meine politische Sozialisation datiert bereits seit der Nazizeit. Mein Patenonkel war der von den Nazis verjagte Theologe Karl Barth, das sprach sich herum in unserem Haus. Dann erblickte ich im Stürmer-Kasten, also in dieser Nazi-Zeitung Der Stürmer, einmal eine Titel-Zeile: „Karl Barth der Kriegshetzer“, und da fragte ich meine Mutter ganz entsetzt: „Karl Barth, ist das der Onkel Barth, ist das mein Patenonkel?“ Das war so ein richtiges Aha-, ein Erweckungs-Erlebnis für mich.
Dann sammelte ich englische und amerikanische Flugblätter, und da war dann eines Tages zu lesen: „Wie Martin Niemöller gesagt hat…“ Da sagte ich zu meiner Mutter: „Mensch, von Martin Niemöller ist doch ein Buch bei uns im Hause,
Vom U-Boot zur Kanzel“. Und auf einmal zerspaltete sich für mich die Welt in zwei politische Fraktionen: Die eine war die öffentliche Welt, das öffentliche Wir, und die andere war das kleine private Wir der Familie und auch einiger Anti-Freunde – ich will das jetzt nicht groß „Antifa“ nennen, aber wir standen dem System kritisch gegenüber. Durch das zunehmende Hören dieser wunderbaren Indoktrinationsmittel – des Britischen Rundfunks BBC, später auch der „Stimme Amerikas“ – und die ständige Lektüre dieser Flugblätter, die phantastisch aufgemacht waren und im Vergleich zu den Nazi-Zeitungen richtig anreißend gemacht wurden, habe ich eines gelernt: daß die eigenen Leute nicht immer die besten sein müssen. Sehr im Gegensatz zu anderen Leuten, die aus welchen Gründen auch immer meinen, daß die Reinerhaltung der eigenen Gruppe und insofern auch ethnische Säuberungen das politische und moralische Großziel sein müßten. Die eigenen Leute kritisch zu beobachten, das hat sich in der Adenauerzeit, die bei uns die Adenauer-Restauration hieß, fortgesetzt, schon weil wir sahen, daß soundsoviele alte Nazis noch dabei waren. Globke, der Erklärer der Judengesetze, war auf einmal eine entscheidende Einflüsterungsfigur an Adenauers Ohr, na ja und da gab es natürlich noch eine ganze Fülle hochbelasteter Beamter im Bonner Regierungsapparat. Das waren Figuren, die in der Nazizeit bedeutende Rollen gespielt hatten und nahtlos in diese neue deutsche Gesellschaft überführt worden waren – als Einflüsterer und Mitmacher und heimliche Ideologen. Da wurde ich kritisch gegenüber diesem Wiederaufbau Deutschlands.

Das Gemisch solcher Erfahrungen macht den Stoff, aus dem die besondere Rühmkorsche Existenz sich geformt hat. Ihrer durch autodidaktisches Interesse ausgebildeten und immunisierten Selbständigkeit verdankt sich ein literarisches Werk, das in der deutschen Literatur auffällig sperrig steht und das die Symbiose von Politischem und Artistischem wie bei keinem anderen lebenden Schriftsteller repräsentiert: Weder säuert die politische Meinung den ästhetischen Anspruch, noch sieht die künstlerische Wahrnehmung: die Ästhetik des Gedichts wie der Prosa von der existentiellen Erfahrung, von der Wirklichkeit ab.
Freilich führte der Weg dahin über Versuche, die sich an wechselnden Vorbildern orientierten, formal und inhaltlich-gedanklich. Rühmkorf imitierte Rilkes Verse und verstand, was er da hingeschrieben hatte, ein paar Wochen später nicht mehr. Literarisch ging er dann bei den Verfolgten in die Schule, las Alfred Döblin, lernte bei Bertolt Brecht, traf Hans Henny Jahnn, dessen monumentales Werk zugleich verwunderte und erschreckte. Kritische Genauigkeit und polemische Schärfe erfuhr er bei Kurt Hiller. Später wuchs die Begeisterung für die Expressionisten, für Jakob van Hoddis, Alfred Lichtenstein, Else Lasker-Schüler.
Ende 1947 entstanden die ersten Gedichte, die Rühmkorf selbst überliefert hat: ausdrücklich als Gegenproduktion zur traditionellen Lyrik, die ihm in die Hände fällt, kabarettähnlicher Sprechgesang eher als ausdrucksstarke Lyrik – darunter dieses: „Verzeihung, haben Sie den Menschen gesehn“.

Verzeihung
Haben Sie den Menschen gesehn?
Zwischen Bittesehr und Dankeschön
Ein wenig Mode ein wenig Müller
Als Lieblingsdichter Friedrich von Schiller
Von 18-20 revolutionär
Pubertät zu Ende Abitur Militär
Zu Befehl!
Das Gewehr
98
Hat einen brünierten Lauf
Einerseits schießt man andrerseits spießt man
Lehrer Friseure Arbeiter auf
Was gibt’s sonst neues?
Kinos und Kirschen zur Erbauung
Das Herz intakt, noch klappt die Verdauung,
Bis auf die Juden.
Sonst Keller, Storm und Meyer,
Die Füße im Feuer
Und wie man’s schreibt im Duden.
NSU HSV SRP,
DP NWDR,
Dr. hc BBC,
Fahn und Sä-
Bel und noch mehr.
Und dann grüßen Sie bitte recht schön!
Aber vorher Füße abtreten!
Stiiiiiiistannnnn!
Wir treten zum Beten −
Verzeihung
Haben Sie den Menschen gesehn?

Das paßte in die Zeit wie die Gedichte Wolfgang Borcherts, mit dem sich Rühmkorf früh – und später als Biograph – beschäftigt hat, und hat trotz aller Unzulänglichkeit schon einen eigenen Klang, aber außer dem entschiedenen Wunsch, sein „Ich zum Selbstkostenpreis in Kunst aufgehen zu lassen“, noch kein Ziel. Und wer noch kein Ziel gefunden hat, streift suchend und versuchend durchs Gelände. Rühmkorf studiert Kunst und Pädagogik, gründet mit Gleichgesinnten nacheinander eine Studentenbühne, ein Kleinkunsttheater, einen arbeitskreis progressive kunst und ein Kabarett mit Namen Die Pestbeule. Zu den Gleichgesinnten gehörten damals schon Peggy Parnaß und Klaus Rainer Röhl, der Mitte der fünfziger Jahre den Studentenkurier gründete. Im Oktober 1957 wurde er in konkret umbenannt und wurde zur erfolgreichsten linken Zeitschrift der damals oppositionellen jungen Generation. In konkret hat Peter Rühmkorf später viele seiner kulturpolitischen Polemiken und literarischen Kritiken publiziert.
Noch aber sucht Rühmkorf nach Orientierung zwischen Literatur und Politik, begründet zusammen mit dem früh verstorbenen Werner Riegel Finismus als „letzten aller Ismen“ und zur Erledigung jeglicher Ideologie; während Riegel als stilistisches Prinzip des Finismus die „Schizographie“ entwickelt:

Als wir, mein Freund Werner Riegel und ich, anfingen zu schreiben, da wußten wir in der Tat noch nicht, in welche Richtung unser Schreiben gehen sollte. Wir hatten eine Zeitschrift namens Zwischen den Kriegen gegründet und eine Literaturrichtung ausgerufen, die Finismus hieß. Eine Literaturrichtung kann man aber nicht durch zwei Leute bestreiten. Insofern spalteten wir uns auf in Teilexistenzen: Da gab es einen Leo Doletzki, der kriegte meine abgelegten Sachen mit auf den Weg, die ich als Student nicht mehr verantworten zu können glaubte. Als Leslie Meier schrieb ich meine Avantgarde-Gedichte, die noch sehr heikel waren und bei denen ich auch ein bißchen Angst hatte, meine akademische Laufbahn dafür aufs Spiel zu setzen. Und dann habe ich auch unter meinem bürgerlichen Namen publiziert: die Dinge, von denen ich glaubte, daß ich in ihnen gesammelt vorhanden sei.

Vor allem als jener Leslie Meyer wurde Rühmkorf früh bekannt, als der in konkret seinen „Lyrikschlachthof“ einrichtete und zum gefürchteten Kritiker der lyrischen Zunft wurde. Da musterte er die zeitgenössische ebenso wie die aus vergangenen Jahrzehnten herüberwirkende traditionelle Lyrik mit kritischem Scharfblick und befand sie meist als ihrer Zeit unangemessen und für untauglich.
Einer der wenigen älteren Lyriker, die ihm damals einleuchteten, war Gottfried Benn. Obgleich Benn als Mitläufer der Nationalsozialisten für Leute seiner Gesinnung keine empfehlenswerte Adresse war, fand. Rühmkorf in Benns Gedichten gleichsam die andere, die komplementäre Seite der eigenen Kunstvorstellung: Kunst nicht als Spiegelung oder kritische Korrektur der Wirklichkeit, sondern als autonome lyrische Form, als Selbstausdruck. Und danach suchte Rühmkorf. Was ihn faszinierte, freilich zugleich abschreckte, war die fast schlagerhafte Wirkung des Bennschen Sounds, der in den fünfziger Jahren eine Generation von Pubertierenden zu Lyrikern machte. Wovon Rühmkorf sich absetzte, indem er, im Stile Benns, sein „Lied der Benn-Epigonen“ schrieb:

Die schönsten Verse der Menschen
− nun finden Sie schon einen Reim! −
sind die Gottfried Bennschen:
Hirn, lernäischer Leim −
Selbst in der Sowjetzone
Rosen, Rinde und Stamm.
Gleite, Epigone,
ins süße Benn-Engramm.

Wenn es einst der Sänger
mit dem Cro-Magnon trieb,
heute ist er Verdränger
mittels Lustprinzip.
Wieder in Schattenreichen
den Moiren unter den Rock;
nicht mehr mit Rattenscheichen
zum völkischen Doppelblock.

Tränen und Flieder-Möven-
Die Muschel zu, das Tor!
Schwer aus dem Achtersteven
spielt sich die Tiefe vor.
Philosophia per anum,
in die Reseden zum Schluß −:
So gefällt dein Arcanum
Restauratoribus.

Klar schied Rühmkorf zwischen der politischen Anrüchigkeit des „Sängers“ Benn, der es einst zeitweise mit den Barbaren hielt und nun allen reaktionären Verdrängern der nationalen Schuld als Garant geistiger, weil geschichtsferner Dichtung galt, und seiner sowohl persönlichen als auch autonomen Ausdruckspoesie, für die er eine damals vielleicht noch nicht so deutlich benennbare verwandtschaftliche Zuneigung empfunden haben mag. Erst in seinem großen Aufsatz über das „Lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ von 1960 bezeichnet er Benn als einen wichtigen Lehrmeister der Nachkriegslyriker – die ihn freilich viel zu viel imitiert und viel zu wenig erreicht hätten. Und er zitiert ausdrücklich Benns Satz, wonach das Wort des Lyrikers keine Idee, keinen Gedanken und kein Ideal vertrete, sondern Existenz, Ausdruck, Miene und Hauch an sich sei.
Ein anderer Dichter, den Rühmkorf schon favorisierte, hatte damals noch keinen Ort im lyrischen Weltbild der Nachkriegswestdeutschen, der lebte in der DDR und war Kommunist: Bertolt Brecht – Meister der einfachen, zielgenauen Form, die immer von dem inspiriert war, was er „Wirklichkeit“ nannte, auch ein Autor von Kinderliedern. Und in allem das Gegenteil von Gottfried Benn.

Ich glaube, und das ist etwas wirklich Verwunderliches, was nicht nur mich betrifft, daß man emotional und vom Kopf her von zwei vollkommen unterschiedlichen Typen affiziert oder emotionalisiert werden kann. In diesem Fall haben wir also als national-literarisches Spezifikum zu bestaunen, daß zwei solche Polbilder wie Benn und Brecht in unserem modernen Traditionskatalog stehen. Gottfried Benn als sozusagen Repräsentant des einsamen Ich und Bertolt Brecht mit seiner Zuwendung an die Genossen, an die Freunde, die Gesellschaft, an die Masse der Unterpriviligierten. Beides hat sich für mich auf eine seltsame Art amalgamiert. Das kann man sogar an Gedichtzeilen und zumal auch an Buchtiteln überprüfen, daß meine Gedichte, selbst wenn es introvertierte Gedichte sind, doch den Appell an Brüder und Schwestern im Geiste einbeziehen und ihnen zuzurufen versuchen: „Bleib erschütterbar und widersteh“, „Komm raus“ und „Phönix voran!“.

Diese drei Gedichte, die alle erst in den späten siebziger Jahren entstanden sind, belegen, wie grundlegend diese literarische Symbiose aus Benn und Brecht war und wie sehr sie Peter Rühmkorfs Lyrik geprägt hat.
Politik und Gesellschaft auf der einen, Poesie und Selbstausdruck auf der anderen Seite – in diesem Spannungsfeld hat sich der Schriftsteller Peter Rühmkorf sein Leben lang bewegt, dieses Spannungsfeld hat, wie er einmal sagte, auch seine unterschiedlichen Interessen dirigiert. Oder, mit anderen Worten, auf die Figur Rühmkorf appliziert: hier der rationale Aufklärer und engagierte Intellektuelle – dort der vitalistische Lyriker und Hymniker; hier der solidarische – dort der einzelgängerische Rühmkorf; dies aber eben nicht als je unterschiedliche, je nach Stimmung gefärbte ambivalente, sondern als aufeinander bezogene, miteinander korrespondierende Haltungen, und in ihrer Widersprüchlichkeit stets erkennbare Pole:

Die wechselseitigen Bezüge empfinde ich seit langem nicht mehr als ambivalent, sondern als dialektisches Zusammenspiel. Keineswegs nur ein „einerseits so – andererseits so“, kein disparates Nebeneinander sich bekämpfender Schreibtriebe, sondern eine ziemlich klare Bewußtheit, an beiden teilzuhaben und beide vermitteln zu sollen.

Solch korrespondierendem Vermitteln gilt auch ein anderes wesentliches Phänomen im Spannungsfeld von Rühmkorfs unterschiedlichen Interessen: seine lebenslange Beschäftigung mit dem literarischen Erbe. Rühmkorf hat sich durch die literarischen Erbgüter gearbeitet, um darin Nähe und Verwandtschaft aufzuspüren und um sich von den alten Stoffen und Themen herauszufiltern, was ihm noch tauglich schien. Er hat die alten Texte dem kritischen Sondierungsverfahren der Parodie ausgesetzt und so Walther von der Vogelweide, Klopstock, Matthias Claudius, Hölderlin, Eichendorff und andere auf eigene Weise an unsere Zeit weitergereicht: nicht theoretisch, sondern als praktischer Anverwandler und Umwandler, anfangs als Parodist und schließlich als Meister der literarischen Variation.

Es tauchte bei mir schon sehr früh die Frage auf, ob alte Dichtung für uns eigentlich noch verbindlich ist. Natürlich haben wir auf der Schule sehr viele Gedichte auswendig gelernt. Aber irgend etwas war da in der Sangesart oder im Glaubensleben der Gedichte – nehmen Sie nur den protestantischen Kirchengesang −, was für mich kein Glaubensinhalt mehr war. Also tauchten in meinem Bewußtsein gleichzeitig wohlgefälliges Echo auf und knirschende Widersprüche. Und diesen Gesamtzusammenhalt zwischen dem alten Wohllaut auf der einen Seite und den neuen Verwerfungen habe ich in solchen Formen wie Variationen auf alte Stücke oder Parodien darzustellen oder auszudrücken versucht – wobei der Übergang zwischen Parodie und Variation für mich immer fließend gewesen ist.

Ein berühmtes Beispiel dieser Rühmkorfschen Verwandlungskunst ist seine Variation auf das „Abendlied“ von Matthias Claudius, die 1959 entstanden ist, nachdem die sowjetische Raumsonde „Lunik II“ auf dem Mond gelandet war. Dieses Ereignis hatte einige Lyriker der DDR zu pseudoprogressiven hymnischen Gedichten auf die sowjetische Raumfahrt hingerissen, worauf besorgte konservative Feuilletonisten mit dem Vorschlag antworteten, man solle sich doch zurückbesinnen auf des Matthias Claudius schönes „Abendlied“. Außerdem wurde in den Feuilletons besorgt die Frage debattiert, ob denn nun der Mond als lyrisches Objekt oder gar Subjekt ausgedient habe, weil seine bis dato unantastbare Würde durch den Eingriff des Menschen in die Natur verlorengegangen sei. Rühmkorf vernahm in dieser Kontroverse falsche Töne und ideologische Dissonanzen, „die Hymnen der Forschen und der Frommen, die Heilsbotschaften der Stürmer und Verdränger“, und antwortete darauf mit einer „Variation auf ,Abendlied‘ von Matthias CIaudius“, die zwar im alten Klang, aber in kritischer Aneignung der berühmten Vorlage die Wirklichkeit und das Bewußtsein des 20. Jahrhunderts zum Thema machte und damit auch noch den Text von Matthias Claudius gegen eine falsche Inanspruchnahme durch die neuen Dunkelmänner in Schutz nahm.
Während zum Beispiel Matthias Claudius in seinem „Abendlied“ den Blick seiner Leser aufs Jenseits und damit auf ein Leben nach dem Tode, auf ein Leben in Gott ausrichtet:

Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
aaaaaNicht Eitelkeit uns freun!
Laßt uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
aaaaaWie Kinder fromm und fröhlich sein.

scheut Rühmkorf als Sänger der „Variation auf ,Abendlied‘“ dessen in weite Ferne gerücktes Heil und zieht ihm das irdische „Luderbett“ vor.

Der Mond ist aufgegangen.
Ich, zwischen Hoff- und Hangen,
rühr an den Himmel nicht.
Was Jagen oder Yoga?
Ich zieh die Tintentoga
des Abends vor mein Angesicht.

Die Sterne rücken dichter,
nachtschaffendes Gelichter,
wie’s in die Wette äfft −
So will ich sing- und gleißen
und Narr vor allen heißen,
eh mir der Herr die Zunge refft.

Laßt mir den Mond dort stehen.
Was lüstet es Antäen
und regt das Flügelklein?
Ich habe gute Weile,
der Platz auf meinem Seile
wird immer uneinnehmbar sein.

Da wär ich und da stünd ich,
barnäsig, flammenmündig
auf Säkels Widerrist.
Bis daß ich niederstürze
in Gäas grüne Schürze
wie mir der Arsch gewachsen ist.

Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Wer salzt mir dort den Maien?
Wer sämt die Freuden an?
Wer rückt mein Luderbette
an vorgewärmte Stätte,
da ich in Frieden scheitern kann?

Oh Himmel, unberufen,
wenn Mond auf goldenem Hufe
über die Erde springt −
Was Hunde hochgetrieben?
So legt euch denn, ihr Lieben
und schürt, was euch ein Feuer dünkt.

Wollt endlich, sonder Sträuben,
still linkskant liegen bleiben,
wo euch kein Scherz mehr trifft.
Müde des oft Gesehnen,
gönnt euch ein reines Gähnen
und nehmt getrost vom Abendgift.

Wieder behauptet ein ICH, das als „Narr“ gescholten wird, seinen zwar gefährdeten, aber uneinnehmbaren Platz auf dem Seil hoch oben über denen, die in Matthias Claudius’ „Abendlied“ als WIR vor Gottes Angesicht gestellt werden. Rühmkorf zielt nicht platt parodierend auf den alten Text, um ihn oder seinen Autor Claudius bloßzustellen – sein parodierendes Verfahren stellt seine Form der Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem gegenwärtigen Umgang mit dieser Geschichte dar.
Rühmkorf hat eine neue, seine, unsere gegenwärtige Welt im Visier, und zwar so, wie sie ist, nicht wie sie im ursprünglichen und längst vergangenen Geiste der alten Lieder noch lebt und von manchen Interpreten – ahnungslos oder willentlich, je nach ideologischer Präferenz noch immer durch die Vergangenheit definiert wird. Rühmkorf nutzt den weithin bekannten Text als eingängiges Medium, durch das er ein verändertes Bewußtsein von der Welt transparent macht.
Der gänzlich diesseitige Materialismus der Rühmkorfschen Variation folgt dem Geiste seines 1959 erschienenen Gedichtbands Irdisches Vergnügen in g. Dessen Titel variiert Barthold Hinrich Brockes’ in neun Bänden zwischen 1721 und 1748 erschienene Dichtungen Irdisches Vergnügen in Gott und vollzog programmatisch jene Säkularisierung, die den „Gott“ der Dichtungen Brockes’ ins kleine „g“ für ,Gravitationskonstante‘ übersetzte – jene physikalische Konstante, die den Arsch des Dichters, wenn der denn endgültig von seinem Hochseil fällt, nicht gen Himmel schweben, sondern auf „Gäas grüne Schürze“ stürzen läßt.

Ja, ich bin in gewisser Hinsicht literarischer Traditionalist. Und die Formel, die ich für mich gefunden habe, diese Formel Parodie oder Variation heißt kritische Tradition. Ich habe alte Weisen nicht einfach nur nachgesungen, ich habe sie vielmehr umgesungen. Ich habe sie mir angeeignet, ja ich möchte sagen: ich habe sie mir einverleibt und auf eine besondere Art fermentiert und verdaut wieder von mir gegeben. Es sind ganz organische Prozesse der Aneignung und des Wieder-von-sich-Gebens.

Die parodierenden oder variierenden Verfahren sind Prozesse der kritischen oder, wie Rühmkorf selbst gern sagt: dialektischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe. In diesem Prozeß wird die Geschichte in ihrer literarischen Erscheinungsform positiv vermittelt – wie schon der musikalische Begriff der Variation besagt, die ein Thema beziehungsweise eine Melodie bewußt aufnimmt und verwandelt. Rühmkorfs Vermittlungsarbeit lädt nun ihrerseits die alten Formen mit neuen Bedeutungen auf. Dabei benutzt Rühmkorf den literarischen Fundus nicht, wie die Postmoderne, als Steinbruch, sondern er fühlt sich der Geschichte verpflichtet, nimmt ja auch nur solche Texte wieder auf, die selbst in wirkungsgeschichtlicher Tradition stehen, um ihre historischen Formen mit zeitgemäßem Ausdruck zu versehen und weiterzutragen gleichsam als poetische Beiträge zu literarischen Rezeptionsdebatten.
Dieses Verfahren literarischer Anverwandlung traditioneller Formen durchzieht Rühmkorfs gesamtes Werk, bis hin zu seinen kritischen Märchen aus den achtziger Jahren. Nicht immer wird es so offen vorgezeigt wie in dem Band Kunststücke von 1962, der die Vorlagen benennt und ebenjene Paradebeispiele enthält, die Rühmkorf selbst als „Variationen“ bezeichnet: „Variation auf ,Gesang des Deutschen‘ von Friedrich Hölderlin“, „Variation auf Klopstock ,Dem Erlöser’“, „Auf eine Weise des Joseph Freiherrn von Eichendorff“. Oder jene Gedichte, die sich als „Oden“ gebärden und die Rühmkorf spöttisch mit Titeln versieht wie „Anode“, „Methode“, „Kathode“ oder „Kommode“; denn Rühmkorf hält die Odenform zwar nicht mehr für glaubwürdig, möchte sie aber doch noch einmal singen und muß sie deshalb umsingen, wie er sagt: als „gebrochene Oden“. Schon einige große Gedichte im Irdischen Vergnügen in g gehören, ohne ausdrücklich so genannt zu sein, in jene Reihe der „Hymnen und Gesänge“, die in den Kunststücken zu finden sind. In ihren freien Rhythmen zitiert Rühmkorf das Pathos Klopstocks oder Hölderlins, distanziert sich aber nicht davon, sondern nutzt es bis heute für seine großen Gedichte, die der Welt- und Lebensfeier gewidmet sind – wie dieses frei schweifende Gedicht an die Liebe:

AUSSER DER LIEBE NICHTS

Flüchtig gelagert in dieses mein Gartengeviert,
wo mir der Abend noch nicht aus dem Auge will,
schön ist’s,
hier noch sagen zu können: schön,
wie sich der Himmel verzieht und die Liebe zu Kopf steigt,
all nach soviel Unsinn und Irrfahrt
an ein seßhaftes Herz zu schlagen, du spürst
einen Messerstich tief in der ledernen Brust
DIE FREUDE.

Wo nun dieser mein Witz das Land nicht verändert,
mein Mund auf der Stelle spricht,
− hebt sich die Hand und senkt sich für garnichts das Lid −
doch solang ich noch atmund-rauchund-besteh,

solang mich mein Kummer noch rührt
und mein Glück mich noch angeht,
will ich
was uns die Aura am Glimmen hält,
mit langer Zunge loben!

Unnütz in Anmut: Dich,
wo die Nacht schon ihr Tuch wirft
über dein ungebildetes Fleisch, es kehren
alle Dinge sich ihre endliche Seite zu,
und aus unergiebigem Dunkel rinnt
finstere Fröhlichkeit…
Ich aber nenne diesseits und jenseits der Stirn
außer der Liebe nichts,
was mich hält und mir beikommt.

Peter Rühmkorfs Gedichte, von denen einige ja ausdrücklich auch Lieder heißen, wurden nie vertont, obgleich sie sich, reimgebunden oder mit freien Rhythmen, gut dafür eigneten. Aber schon in den fünfziger Jahren hat Rühmkorf seine Gedichte mit musikalischer Begleitung vorgetragen – auch da beruft er sich, auch wenn seine Begleitmusik der Jazz ist, auf die Übernahme einer uralten Tradition:

Die Lyrik kommt von der Lyra her. Die Sappho ist immer mit der Lyra dargestellt, Walter von der Vogelweide zog mit einem Fiedler über die Lande, Carl Michael Bellman schlug selbst die Laute. Also: hier ist eine ganz alte Symbiose, wirklich eine uralte Symbiose noch einmal neu belebt worden eben durch den Kontakt mit der Jazzmusik.

1966 findet die erste Großveranstaltung Lyrik und Jazz auf dem Hamburger Adolphsplatz hinter dem Rathaus statt. Rühmkorf liest Gedichte, Michael Naura am Klavier und Wolfgang Schlüter am Vibraphon begleiten ihn. Sie haben über 3000 Zuhörer. Doch in der sich nun öffnenden ganz großen Arena ging es nicht nur um Jazz und Lyrik. Rühmkorf hielt auch eine Rede über „Lyrik auf dem Markt“, in der sich auch wieder der alte Traditionalist äußerte, aber mit einem durchaus aktuellen Thema:

Während (…) der Poet der Antike, immer schön mit seinesgleichen in Konkurrenz, auf Zuwendungen aus höchster Hand getrost vertrauen konnte; während der Sänger des hohen Mittelalters sich ebenfalls im Wettbewerb mit lieben Sangesbrüdern bewähren durfte und ihm auf der Höhe seines Ruhms oder am Ende seiner Tage immerhin eine Art von „lehen“, Sinekure oder handfesten Besitztums winkte, hat sich der zeitgenössische Versproduzent auf gänzlich andere Wettbewerbsbedingungen einzustellen. Das alte Monopol der Poesie als öffentlicher Alleinunterhalter ist längst nur noch eine literaturhistorische Erinnerung. (…) Die schöne Poetisierung des Daseins und die Versorgung breitester Verbraucherschichten mit Überhöhungsartikeln ist in Hände übergewechselt, die, wenn ich es einmal so metaphorisch sagen darf, den einen Finger am Puls des Volkes haben, den anderen am Drucker der Repro-Betriebe. So denn sieht sich der Dichtersmann unserer Tage auf die Turnierbedingungen verpflichtet, die ihn an der Seite von Abi Ofarim und Drafi Deutscher, (…) Schulter an Schulter mit den großen Unterhaltungskanonen der Saison zeigen – aber was heißt hier schon Schulter an Schulter, die gleichen Start-, die gleichen Markt-, die gleichen Publikationschancen stehen wohl doch nur auf dem Papier, und realiter darf sich jeder noch praktizierende Poet als lebender Leichnam einer aussterbenden Gattung fühlen.

Unverkennbar begann damals, Mitte der sechziger Jahre, eine neue Zeit. Und in die öffentliche Arena, die sich damals den Kritikern von Staat und Gesellschaft auftat, stürmten bald andere, die mit anderen als literarischen Mitteln die Welt verändern wollten.
Das Wohlstands- und Restaurationsmodell Bundesrepublik Deutschland geriet in die Krise, 1966 trat der Kanzler Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister den Wohlstand angeblich geschaffen hatte, zurück und machte einer großen Koalition aus CDU/CSU und Sozialdemokraten Platz. Gegen diese Große Koalition bildete sich eine außerparlamentarische Opposition, die Apo der dann 68er genannten Generation, die das ganze System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie nicht mehr wollte. Das war ein wichtiger historischer Einschnitt in der gesellschaftlichen Entwicklung der Westdeutschen, die im Erfolg die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt und später Helmut Schmidt an die Macht brachte, unter der die bundesrepublikanische Gesellschaft sich liberalisierte und demokratisierte.
Rühmkorf hatte eine durchaus positive Beziehung zur Apo, ja fühlte sich als einer, der ihr in den fünfziger Jahren politisch und literarisch vorgearbeitet hatte:

Die Beziehung war zunächst sehr positiv, weil der gesamte Fächer, das gesamte Spektrum, das die antiautoritäre Bewegung vorzuzeigen hatte, bei mir und unserer Gruppe um den Studentenkurier, später konkret, praktisch bereits voll entfaltet gewesen war: Antikolonialismus, Antiimperialismus, der Kampf gegen die Atombewaffnung, die Politik der Stärke, den Paragraphen 218, den Paragraphen 175 und so weiter. Auch gegen die Notstandsgesetze waren wir schon früh angetreten, und die ungenierte Pressefreiheit stand ganz oben auf unserem Panier. Die Feindbilder, die sich dann bei der Apo herausbildeten, waren bereits die unseren gewesen, und wir empfanden uns zunächst als Patenonkel der Bewegung. Bis die Geschichte dann überbordete und die „Bewegung“ in eine Fülle von kaum noch überschaubaren Alleinvertretungsansprüchen zerfiel. Diese Truppe wußte es besser als jene und dieses Clübchen besser als das andere. Es war eigenartigerweise das antiautoritäre Virus, das den Zusammenhalt dieser Opposition auseinandersprengte. Keine Gruppe wollte sich von der anderen etwas sagen lassen, und das große Ideal solidarischen Handelns wurde durch fast spleenige Selbstentfaltungstheorien zersetzt. Die ganze Bewegung war ja sehr kurzlebig, hatte ganz kurze Halbwertszeiten und zerplatzte dann wie eine schöne blaue bzw. rote Luftblase.

Rühmkorf kannte viele jener Intellektuellen und Studenten, die sich damals radikalisierten, aus der Mitarbeit an der Zeitschrift konkret, so auch deren Kolumnistin Ulrike Meinhof, aber seine Beziehung zur 68er Szene war eher die eines mahnenden Beobachters und kühlte mit ihrer Radikalisierung ab.

Der Bruch damals zwischen radikalen, fundamentalistischen Gesellschaftsgegnern und Reformleuten, Meilleuristen, Verbesserern, Verbessern-Wollenden, der ging krass bei uns durch die eigene Stube, durch die eigene Redaktion, durch konkret hindurch, und das Blatt wurde dadurch nachher auch auseinandergerissen. Das läßt sich ja heute alles noch nachlesen, daß ich immer versuchte, die radikalen Truppen, ich kann fast sagen: zur Ordnung zu rufen, sie an die Gesellschaft zu erinnern, ihnen das Gemeinwohl wieder vor Augen zu rücken, aber es hatte keinen Zweck mehr auf diese radikalisierten Truppen noch einzureden. Es war nicht nur Ulrike Meinhof allein, sondern es war eine breite Sympathisantengalerie, die da bis zu Wagenbach und Enzensberger reichte. Es war ein heimliches Sympathisantenspiel mit dem terroristischen Angriff auf die Gesellschaft, den ich nie gutgeheißen habe.

Rühmkorf hatte, wie er sagt, dem antiautoritären Gedanken, der sich mit der Apo verbreitete, schon selbst etwas vorgearbeitet, indem er nämlich zwischen 1964 und 1966 Kinderverse gesammelt hatte, die klassische Beispiele für antiautoritäre Erziehung waren: als Selbsterziehung des Kindes gegen Erziehungspersonen – vom Polizisten bis zum Schornsteinfeger, aber auch gegen die zwangserziehenden Eltern. Diese „Exkurse in den literarischen Untergrund“ erschienen 1967 unter dem Titel Über das Volksvermögen.
Eine andere Folge der kulturrevolutionären Bewegung kostete Rühmkorf mehr Zeit und war wenig erfolgreich: Er schrieb drei sozialkritische Theaterstücke, die antike Parabel Was heißt hier Volsinii und die beiden Zeitstücke Die Handwerker kommen und Lombard gibt den Letzten, um am öffentlichen Ort: auf der Bühne sein politisches Engagement auszuformulieren.

Dieser Trieb, politisch in die Ruhestandsarena hineinzufunken, machte sich bei mir derart stark bemerkbar, daß ich meinte, mit kleinen, hermetischen Gedichten überhaupt nichts mehr bewegen zu können; da hielt ich nach anderen Bühnen Ausschau. Das heißt daß ich die Theaterbühne als möglichen Austragungsort zu betrachten begann, man kann auch von einem Paukboden sprechen, von dem ich mir Wirkungen versprach, für die das Gedicht nicht geeignet ist. Deswegen habe ich mich so heftig aufs Theater gestürzt.

Doch keines der Stücke errang auch nur einen Achtungserfolg, ihre Aufführungen lassen sich an einer Hand abzählen. Unterm Strich bleiben fünf Jahre intensiver Lehr- und Arbeitszeit bei entsprechender Kapitalinvestition und eine unglückliche, noch immer nicht erloschene Liebe zu diesen drei zwittrigen Kindern.
Und ein Drittes muß der kulturrevolutionären Zeit angerechnet werden: daß Peter Rühmkorf in diesen Jahren kein Gedicht geschrieben hat. Bis dahin war ja der Begriff von der „engagierten Literatur“ ein Topos der deutschen Nachkriegsliteratur von Enzensberger über Walser und Grass bis zu Rühmkorf. Doch als aus jedem Gedicht eine Waffe gemacht werden sollte, hat Rühmkorf sich dieser kunstfeindlichen Zumutung verweigert: was ihm auf dem Theater oder in der Prosa möglich war, nämlich literarische Formen mit kämpferischen politischen Inhalten zu füllen, hat er dem Gedicht versagt.

Es war für mich sehr schwer, von Gedichten aus – die ja vergleichsweise esoterische Gebilde sind und nur ein paar empfindsame Leute erreichen −, politische Frontlinien auszuziehen. Was mir in der Prosa zweifellos gelungen ist, daß ich mit meinem Kehrbesen munter in der politischen Arena herumgefegt habe, das wollte mir im Gedicht einfach nicht gelingen. Ich habe so einen Duktus wie der Brecht im Lehrgedicht nie neu erfinden, nicht erzeugen können, dazu war bei mir alles viel zu bunt gemischt und zu subjektivistisch unterwandert. Es war manchmal so – und da wurde es wirklich kritisch −, daß ich in Gedichten etwas trieb, was der politische Prosamann in mir geradezu verabscheute, bzw. daß der Prosakritiker etwas vom Gedicht verlangte, was es gar nicht einzulösen gedachte – im Gegenteil: es brach aus, es war anarchisch, extrem individualistisch und ließ alle möglichen St. Elmsfeuer leuchten, trieb allerlei Allotria und kümmerte sich nicht im mindesten um die Gesetze des aufklärenden Besens.

Diesen aufklärenden Besen hat Rühmkorf nicht nur als Essayist und auf der Bühne bewegt, sondern auch in der Prosa. Erzählende Prosa war lange Zeit nicht Rühmkorfs Metier. Und wiederum geht der Impuls, Märchen zu schreiben, von einem Traditionsgedanken aus:

Ich weiß noch sehr genau, wie die Umstände waren, die mich zum Märchen hinleiteten. Ich sah nämlich, daß der ganze literarische Unterbau, auf dem wir gründeten, in Gefahr war zusammenzubrechen: Das Kirchenlied saß nicht mehr, Volkslieder wurden nicht mehr gesungen, auch die Bibel war nicht mehr vorauszusetzen, die Odyssee war abgesunkenes Kulturland und die letzten traditionellen Bildungsbastionen der deutschen Literatur wurden dann eben von der Apo geschleift. (…) Und da dachte ich: Märchen! Märchen hat jeder in seiner Kindheit einmal in sich hineingefuttert, und eine gewisse Grundschwingung des Märchentons kann in jeder empfindsamen Seele vorausgesetzt werden. Nun ging es mir mit den Märchen aber ähnlich wie mit den Oden und Hymnen in der Poesie, daß ich sie nicht als ungebrochene Märchen weiterschreiben konnte. Daher habe ich meine Märchen „aufgeklärte Märchen“ genannt, und als erstes habe ich das „Rotkäppchen“ neu gewendet, dann den Blaubart variiert – man kann auch sagen: parodiert – und glaube damit doch einen neuen Typ des Märchens entwickelt zu haben: das von mir so benannte aufgeklärte Märchen. Tatsächlich fanden diese Märchen dann auch Zuspruch in einer Breite, wie er für Lyrik nie zu gewinnen gewesen war.
Das normale Märchen verhüllt, allegorisiert, symbolisiert; das aufgeklärte Märchen versucht dagegen solche Allegorien und Symbole aufzubrechen. Im alten Rotkäppchen-Märchen ist die Heldin ein kleines Trottelchen, das schließlich vom Wolf gefressen wird – man zählt es gemeinhin zu den Warnmärchen. Ich habe das Rotkäppchen emanzipiert. Ich habe aus ihm eine freche junge Dame gemacht, die schließlich den doofen Wolf übertölpelt. Ich habe die Rolle der kleinen Frau also mächtig gestärkt und aus der Figur etwas Neues entwickelt.

Die Märchen erschienen 1983 und wurden ein großer Erfolg. Kontinuierlich hat Rühmkorf neue Gedichte; Essays, Lesebücher veröffentlicht; seine Auftritte mit dem Jazzpianisten Michael Naura und anderen Musikern wurden gefeiert. Und in den achtziger Jahren wurden ihm dann endlich auch jene großen Literaturpreise zugesprochen, die er schon längst verdient hatte. Und dennoch notierte er unter dem Datum des 9. September 1990:

Gefühl wiedermal von einem bis auf den Grund verfehlten Schriftstellerleben. Opus magnum ohne die mindeste öffentliche Resonanz; kein einziges Buch bislang in eine Fremdsprache übersetzt und bei Auslandsreisen als sozusagen Meisterbrief oder Diplom vorzuweisen; aufs Ganze gesehen nur 2 ½ Bücher in Hardcover erschienen und der Rest kleene Bändchen, Hefte. Broschüren, ein gelumbecktes Lebenswerk. – Ach, Theater ja auch noch, und der mehrfach unter mir eingebrochene Bühnenboden.

Das war zu lesen in seinem 1995 erschienenen umfangreichen Tagebuch TABU I. Dieses Tagebuch ist eine spannende Wahrnehmungsmaschine des Schriftstellers und Zeitgenossen Rühmkorf und vermittelt die bewegten Auflösungs- und Zersetzungs-Zeiten von DDR- und Mauerfall, von Zwischenzeit und Vereinigung samt absehbaren Folgen vom 21. Dezember 1988 bis zum 26. März 1991. Es sind, auf andere Weise und an andere Leser gerichtet, wieder einmal „die Jahre, die ihr kennt“; aber das „ihr kennt“ ist hier nicht einverständnisvoll an die alten Zeitgenossen gerichtet, sondern stets ironisierend bis zuweilen resignativ an die Zeitgenossen jenseits der verwehten sozialistischen Visionen.
Durchgehend spricht Rühmkorf in diesen Notaten von einem ZEITROMAN, den er schreiben will; und zu diesem Zweck ordert er die schon im Marbacher Archiv eingelagerten alten Tagebuch-Bestände zurück, waidet sie aus und schreibt sie ab, um Material eben für diesen ZEITROMAN zu gewinnen. Der freilich bleibt angekündigt, deutet sich in diesen Notaten nur an. Diese Notate verzeichnen Alltägliches – Essen, Saufen, Lieben, Tourneen mit Jazz & Lyrik, Freundschaftsbesuche, Zeitungslektüre, Schreibarbeit – und umschließen die Ergebnisse dieser Schreibarbeit: viele neue Gedichte, aber auch Essays und Rezensionen, die, da Rühmkorf sein Stöhnen über die massige Schreibarbeit oft mit Gründen versieht, das Anschauungs-Material seiner Mühsal als Autor sind. Niemand hat sich als Schriftsteller so in die Karten schauen lassen wie Rühmkorf in diesem Tagebuch.
Da Rühmkorfs Notate immer getragen sind von seinen momentanen Stimmungen, spürt man sein wahrnehmendes und weltzentrierendes Ego auf Schritt und Tritt. Wofür die Notiz vom 9. September 1990 über das Gefühl seines verfehlten Schriftstellerlebens ein freilich seltenes Beispiel ist. Aber auch der Gegenton gehört zum Grundelement Rühmkorfscher Welt-Anschauung und Ego-Zentrierung – nur zwei Monate nach den zitierten Selbstzweifeln notiert er am 5. November 1990:

Nach Jahren der Selbstskrupel und Auto-Autodafés wieder Gefallen an mir selbst gefunden – in effigie. Das geschwinde Wesen meines Daseins als die andere, positive Seite meiner quälenden Schlaflosigkeiten.

Diese Erkenntnis hängt ganz zweifellos zusammen mit der Lektüre der aus Marbach herbeizitierten alten Tagebücher. Denn nur zwei Tage zuvor liest man:

Tagebuch-Abschriften: Die Welt zu meinen Gunsten gesehen, natürlich. Oft langanhaltend und berufsmäßig geheult wie ein Coyote, aber manchmal auch richtig hübsche Szenen dabei. Was jemand unwissentlich Beobachtetes so mit Gesichtszuckungen morst.

Ebendies charakterisiert die besondere Rühmkorfsche Methode der Ego-Zentrierung via Tagebuch: Das trotz Hasch und Schnaps wache Wahrnehmen, lebendige Erfahren, von kindlicher Freude und wütendem Zorn begleitete Erleben der Welt – und deren spontane Entäußerungsmethode im Niederschreiben.
Was, um einen Schritt weiterzugehen, dann, durchaus wieder dialektisch, jene letzte gültige Selbstbeschreibung begründet, und eben auch zu ihr berechtigt, die der Selbstgefallens-Bekundung auf dem Fuße folgt, nämlich die Notiz:

Rückblickend: recht gehabt haben, ist nicht schwer. Aber immer gewußt, wer man war und was man wirklich wollte.

Dieser Satz ist der intellektuelle und moralische Fundus dieses Tagebuchs. Die Ego-Zentrierung des Autors hat ihre Glaubwürdigkeit, ihre historische Spiegel-Funktion und ihr Interesse in dieser Selbstklärung und -voraussetzung: Sich selbst treu geblieben zu sein; auch wenn die Brille, durch die er jeweils auf die Welt und die Menschen blickte, den unterschiedlichen Stimmungslagen entsprechend changierte. Und den unterschiedlichsten Interessen folgte.
Peter Rühmkorf ist Poet und Poetologe, Polemiker und subtiler Essayist, Sammler von Volks- und Kinderversen und expressionistischer Lyrik, Prosaschreiber und Erzähler kritischer Märchen, Erinnerungsarbeiter und Tagebuchschreiber und noch manches mehr. Sein Werk ist so vielgestaltig wie die Zahl der Felder, auf denen es gewachsen ist.

Ich habe mich mit vielen Gegenständen meines Interesses herumgetrieben mein Leben lang, und die Gegenstände haben oft gewechselt und neue Seiten gezeigt. Ich bin kein Romancier, der einen Backstein nach dem anderen in den Brennofen schiebt oder aus dem Brennofen herausholt, sondern habe mich versucht eher zyklisch zu erweitern und meinen Interessen zu folgen, die nicht immer gerade die vorigen waren.
Wenn man fragt nach dem Zentrum meines Schreibens, dann kann ich Ihnen keinen Punkt benennen, ich kann Ihnen nicht mal eine Kugel oder einen Stein benennen, sondern nur eine Spannung benennen. Diese Spannung ist mein Leben lang Politik, Gesellschaft, Poesie und Selbstausdruck gewesen. In diesem Spannungsfeld habe ich mich mein Leben lang bewegt und dieses Spannungsfeld hat auch meine unterschiedlichen Interessen dirigiert.

***

AUF WAS NUR EINMAL IST

Manchmal fragt man sich: ist das das Leben?
Manchmal weiß man nicht: ist dies das Wesen?
Wenn du aufwachst, ist die Klappe zu.
Nichts eratmet, alles angelesen,
siehe, das bist du.

Und du denkst vielleicht: ich gehe unter,
bodenlos und fürchterlich −:
Einer aus dem großen Graupelhaufen,
nur um einen kleinen Flicken bunter,
siehe, das bin ich.

Aber dann, aufeinmalso, beim Schlendern,
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale,
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du.

Heinz Ludwig Arnold, aus: Peter Rühmkorf: „Das Lied der Deutschen“, Wallstein Verlag, 2001

Im Pastorat am Himmelreich

– Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis am 24.7.2000 in Otterndorf/Niedersachsen. (Artikelüberschrift von der Sinn und Form-Redaktion) –

Als ich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts meinen 70. Geburtstag feierte, fand sich unter zahlreichen ausgesucht persönlichen Geschenken ein besonders merkwürdiges und beziehungsreiches. Es stammte von meiner Cousine Margret, die mir zum Anlaß Johann Heinrich Voß’ Idylle „Der siebzigste Geburtstag“ aus einer alten Werkausgabe herauskopiert hatte und mit eigener Hand gebunden und mit teils stattlichen, teils komischen Greisenporträts versehen, und natürlich begann ich sofort darin zu lesen. Alles noch ohne Hinblick oder Bezug auf den mir hier verliehenen Preis, denn davon konnte noch niemand nichts wissen, aber wohl im erinnerungsseligen Rückblick auf gewisse Bildungstraditionen im Hause Rühmkorf, die sich nicht ganz von ungefähr mit der Stadt Otterndorf verbinden. Zwar stand hier nicht gerade mein Vaterhaus. Ein solches im eigentlichen Sinne gab es für mich nicht, aber im Pastorat am Himmelreich residierte doch immerhin mein Großvater, der Herr Supperndent, wie er im Volksmund hieß, eine patriarchalische Gestalt, die ich in Ermanglung einer greifbaren Vaterfigur bis zu meinem 9. oder 10. Lebensjahr Vati nannte.
Das erscheint mir heute noch seltsam und setzt bei Ihnen ein gewisses biografisches Vorwissen voraus, das ich freilich nicht jedem Feiertagsgast in Ihren Reihen abverlangen kann. Mein wirklicher, heißt mein leiblicher Vater war nämlich ein reisender Puppenspieler gewesen, an dem meine Mutter ein etwas aus der Art geschlagenes Gefallen gefunden hatte, immerhin ein derart konkretes, daß aus der flüchtigen Verbindung ein sogenannter natürlicher Sohn hervorging, was schon insofern nicht verschwiegen werden kann, als er heute – selbst bereits in großväterlichem Alter – vor Ihnen steht. Ich habe über meine ein wenig aus der bürgerlichen Tugendnorm weichende Herkunft schon öfter berichtet, zunächst in dem Memobuch Die Jahre, die Ihr kennt und gerade kürzlich noch in einem gereimten Capriccio, das folgendermaßen beginnt:

Als meiner Mutter mein Vater
zu gefallen begann,
fing bereits das Affentheater
meiner eigenen Fleischwerdung an.

Nun haben Gedichte allerdings so ihren eigenen schillernden Aussagewert – „Die Kunst ist immer ein Gemisch / aus teils authent-, teils trügerisch“ –, ich Sie, der Verständlichkeit halber, lieber in unterrichtender Prosa mit dem Fall bekanntmachen möchte, der ja in Anbetracht der Verhältnisse auch als Sündenfall zu betrachten war, denn wo eine Pastorentochter und Religionslehrerin sich auf etwas so Zweifelhaftes wie einen (verheirateten) Poppenspeeler einläßt, ist mit häuslichen Glückwunschadressen zunächst nicht zu rechnen. In der Tat begann dann auch vor der unvermeidlichen Beichte zunächst ein etwas seltsames Vexierspiel, das nicht nur komische Züge verzeichnet. Da meine Mutter auch weiter ihr Vaterhaus besuchte, versuchte sie zunächst den Vorfall zu vertuschen, zu camouflieren, zu ummänteln, alles in der fürchterlichen Erwartung eines superintendentalen Mordsdonnerwetters mit anschließender Verstoßung aus dem Familienkreise. Bis die heilige Offenbarungsangst sie nach all den Kostümierungsversuchen schließlich auf spirituelle und insofern erbaulichere Mittel verfallen ließ, und die trage ich Ihnen nun richtig gerne vor. Als u.a. Religionslehrerin – ich sagte es schon – hatte sie sich schon seit längere mit den Schriften Karl Barths bekanntgemacht, also insofern der allermodernsten, heißt der dialektischen Theologie, und als sie sich aus ihrer Sündennot keinen Ausweg mehr wußte, wandte sie sich in einer Anwandlung von sozusagen naturwüchsiger Dialektik an den berühmten Theologen, ihn um die Patenschaft für das Unglücksbündel zu bitten. Um es kurz zu machen, denn wir wolle hier ja nicht auf eine Betrachtung von Barths revolutionären Interpretationen des Römerbriefes hinaus, sondern auf die Voßschen Idyllen: diese schützende Patenhand vermochte es dann tatsächlich, die Schatten des libertinären Makels, zu verscheuchen und meinen doch recht konservativ gesonnenen Großvater gnädig zu stimmen. Meine Großmutter Helene, eine geborene Hübbe, war ohnehin ein ständig fließender Brunnen der Mildsinnigkeit und Verzeihlichkeit, und so geschah es, daß aus dem befürchteten Familiendrama schließlich ein richtiges Idyll erwuchs, in dem mein Großvater selbst die Bezeichnung „Vati“ als ein einschmeichelndes Zauberwort empfand. Immerhin war ich sein einziger Enkel und durch den unliebsamen Zufall sogar ein potentieller Fortsetzer des Geschlechtes und Bewahrer des guten Familiennamens. Zwei Söhne waren im Studentenalter im ersten Weltkrieg gefallen. Die jüngste Tochter Emmi an der Schwindsucht gestorben. Meine Tante Klara – ihr Leben lang nur Lala genannt – hatte ebenfalls mit tuberkulösen Beschwerden zu tun gehabt und sich bereits mit dem Schicksal einer ewigen Haustochter abgefunden, eine betrübliche Aussicht, die erst sehr viel später eine glückliche Wendung nahm. Praktisch also, was blieb ihm, als sich gottesfürchtig mit den Umständen abzufinden und die ihm verbliebenen ungleichen Fünfe gerade sein zu lassen.
Von Statur und Gesichtsschnitt her, ja selbst vom Haarschnitt, war mein Großvater eine in jeder Hinsicht stattliche Erscheinung, sozusagen ein schöner Mann und ein Patriarch in seinem kleinen Kreise, obwohl seine Töchter schon gelegentlich äußerten:

Wenn unser Vater doch so interessant predigen würde wie er aussieht.

Immerhin war er ein milder Regent, etwas unpraktisch vielleicht, was ihn dann auch wieder gängelbar machte und einer Familienharmonie Vorschub leistete, die einer vossischen Idylle schon ziemlich nahe kam. Nun war Johann Heinrich Voß allerdings kein unbekannter Name in meinem Großvaterhaus und seine Homerübersetzungen gehörten ebenso zum allgemeinen Bildungsbesitz wie seine genrehaften Familienutopien. „Luise Voß und Dorothee Goete / schön beide wie die Morgenröte“, das war ein geflügeltes Wort des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, und die beiden Schwestern Klara und Elisabeth trugen es mir bereits in einem Alter zu, als ich noch gar nicht lesen konnte. Ich selbst fand die „Luise“ später sterbenslangweilig und der „Siebzigste Geburtstag“ schien mir eher ein unfreiwilliges Lachprodukt, eine Meinung, die ich heute nicht mehr so unbedingt teile, denn die liebevolle Ausmalung eines wohlgeordneten und überschaubaren Gesellschaftsausschnittes scheint mir doch einer wohlwollenden Betrachtung wert. Die Frage ist ja immer, was man wirklich will und was es sonst so auf der Welt gibt. Strindbergsche Ehe- und Familienkatastrophen mögen interessanter sein – auf das eigene Leben übertragen, legen sie dann doch gewisse Bedenklichkeiten nahe. Tschechows und Schnitzlers Dramen mögen uns näher liegen und uns tiefer an die Nerven gehen, von Beckett oder Hans Henny Jahnn ganz zu schweigen – aber als idealische Muster für ein glücklich absolviertes Curriculum sind sie doch kaum zu betrachten. Daß das fast schon spießerhafte, philiströse Gedanken sind, weiß ich selbst. Sie sind nichtsdestoweniger radikal und betreffen auch den Sinn von Literatur an einer besonders wunden Stelle: Soll sie nun wirklich ihre Leser, Zuschauer oder Hörer ausweglos der Verzweiflung überantworten oder ihnen nicht wenigstens einen erbaulichen Hoffnungsprospekt vor Augen malen, es muß ja nicht unbedingt eine im bloßen Restaurationsmief gefaßte Pfarrhausinnerlichkeit sein.
Den unterschiedlichsten Bewertungen sind die Voßschen Idyllen schon immer unterworfen gewesen. Einerseits sah man sehr wohl, daß neuerwachter Bürgerstolz und bürgerliches Tugendbewußtsein sich als eigene Ideale gegenüber unberechenbarer Fürstenwillkür zu behaupten suchten. Andererseits, na ja, hielten sich diese harmoniebetonten Genrebilder doch auch wieder recht selbstgenügsam im Rahmen und versuchten gar nicht erst, an den feudal verfügten Festen der Welt zu rütteln. Eine Bescheidungsideologie. Aus eingeborenem Harmoniebedürfnis und als gelernter Meliorist möchte ich allerdings meinen, daß wohl beides seine Richtigkeit hat. Vor allem aber, daß eine in wirkliche Lebenspraxis übersetzte Utopie nicht unbedingt zu verachten ist, und wer solche idealischen Zustände einmal mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Sinnen erlebt hat, denkt über ausgeglichene Weltverhältnisse im Kleinen nicht mehr ganz so kritisch.
Nun möchte ich Ihnen heute zuallerletzt mit ausgebufften Voß-Exegesen nahen. Schon als die frohe Botschaft der Preisverleihung mich erreichte, hatte ich als erstes gesagt, auf keinen Fall ein Voßporträt und schon gar keine Werkanalyse, das können andere Otterndorfer Dichtergelehrte viel besser. Zum Beispiel mein Freund Peter Schünemann, dessen letzte Veröffentlichung zwei hochinteressante Voß-Exegesen enthält, wenn auch nicht unbedingt schmeichelhafte oder blindlings lobende. Nein, was ich zu bieten hätte, wären allenfalls ein paar Notizen über flüchtige frühe Berührungen und ein paar Zeugnisse bleibender Anhänglichkeit, damit müsse es sein Bewenden haben. Ansonsten vielleicht ein paar Erinnerungsstenogramme über mein eigenes frühes Otterndorf, und das am liebsten aus der Kinderperspektive der Jahre 1935–1940. Das läßt sich, obwohl wir viele Wochenenden und vor allem die langen Sommerferien in Otterndorf verbrachten, aber gar nicht so einfach rekonstruieren. Im Gegenteil, wo man den Erinnerungsfilm noch einmal zurückzuspulen beginnt, zerfällt die Retrospektive in lauter kleine zusammenhanglose Einzelbilder, ein paar Namen und Adressen hier (das Papierhaus Ball, das Kaufhaus Dantzer, den Friseursalon Vohlandt, das Schuhhaus Kracke, das aus Gründen besonders, den Wappenmaler Bader, das Schwesternheim Bulk in der Schleusenstraße, die Gärtnerei Rühe am Osterende, ja und dann natürlich das geräumige Pastorat am Himmelreich, aber auch das weicht mir mit der Zeit so ein bißchen aus dem Winkel, und manchmal kann ich schon nicht mehr so ganz genau sagen, was dort links oder rechts oder oben oder unten war).
Nun will ich Ihnen gern gestehen, daß ich mir zum lokalbezogenen Zweck noch einmal die Lebenserinnerungen meiner Mutter hervorgekramt habe, und da hängt noch alles wunderbar organisch zusammen. So hübsch und lebendig geschildert, daß ich Ihnen statt meiner eigenen Erinnerungen lieber die meiner Mutter vortragen möchte, nur die betreffen dann doch eher eine heute kaum noch begreifliche Vorzeit, als das Brauch- und ich befürchte auch das Trinkwasser noch als Naturprodukt vom Himmel empfangen wurde und in einem großen Wasserkessel gesammelt werden mußte. Aber nein, einen kleinen Ausschnitt möchte ich Ihnen doch noch zum besten geben, weil er auf eigene Erinnerungen zuleitet und mir wieder so etwas wie Orientierung verschafft. Er knüpft direkt an die ständige Wassermisere an und berichtet aufs Anschaulichste von den kaum noch frugal zu nennenden Badeverhältnissen.

Am Badetag wurde der große Waschkessel geheizt und die große Badewanne in die Küche gestellt, eins der Kinder nach dem anderen wurde ins Wasser gesteckt, das sauberste kam zuerst dran, und am Schluß stieg unsere Mutter hinein, vielleicht fragte auch das Mädchen hinterher noch, ob es das Wasser benutzen dürfe. Es ging ländlich-sittlich bei uns zu, und zu große Ansprüche durften nicht gestellt werden.

Also Otterndorf als Badeort, Sie verstehen, und darauf möchte ich gleich noch einmal hinaus, obwohl es einer kleinen Vorgeschichte bedarf. Sie betrifft nicht nur mich allein, sondern meine Kinderfreundin Annelotte, die mal Annelotte Wolter, dann wieder Annelotte Kracke hieß, was sie aber gar nicht so gern hörte, weil die Kinder ihr öfter als genug eine „Anne Kracke / Hühnerkacke“ hinterherriefen. Womit wir fast schon beim Thema wären, wir müssen nur noch kurz die lehmgestampfte Tenne durchqueren, die hölzerne Schließe anheben und uns auf den Hinterhof begeben, der nach meinem etwas ins Phantastische schlagenden Gedächtnis eher eine Art Sturzacker oder Schweinesuhle darstellte. Man könnte vielleicht auch von einem extrakulturellen Niemandsland sprechen, denn obwohl sich dort ein Hühnerauslauf befand, wurde ein Viertel, ein Achtel, ein Sechzehntel – na übertreiben wir nicht –, aber doch ein beträchtlicher Teil von einem riesengewaltigen Misthaufen eingenommen, der wie eine Insel aus einem Binnensee aus Jauche hervorragte. Nun weiß ich zwar nicht mehr genau, wer hier eigentlich das Vieh hielt und ob das Gelände nicht gleichzeitig von den hinten angrenzenden Nachbarsleuten in Anspruch genommen wurde. Ich weiß zwar noch, wie sie hießen, denn Namen sind keineswegs immer nur Schall und Rauch, möchte sie in diesem Feiertagskreis nicht nennen, kann ja sein, daß ein später Nachkomme unter Ihnen sitzt und sich unliebsam an seine mißratenen Großeltern erinnert fühlt. Ich meine damit zwei böse Buben von damals etwa sieben, acht Jahren, die mit Annelotte und mir ins Gespräch und dann auch bald in einen Streit gerieten – vermutlich über die Hoheitsrechte dieses Schweinesumpfes –, und als mir ein besonders treffendes Schmähwort eingefallen war und dem Älteren der Burschen nicht gleich die rechte Antwort einfiel, griff er schneller als ich aufblicken konnte nach einem Zinkeimer, schleifte ihn einmal durch den Jaucheteich und goß mir den Inhalt über meinen neuen Matrosenanzug. Es war, ich kann es nicht anders nennen, so etwas wie ein Schlüsselerlebnis oder eine Urszene aus dem Bauernkrieg. Der Waffe des Wortes beraubt, hatte ein sozial niedriger Gestellter nach archaischen Mitteln der Selbstverteidigung gegriffen, was dann allerdings auch mir die Sprache verschlug und mich blindlings ins Haus rennen ließ, zuerst durch die Tenne, aber dann den (immer noch Kinderperspektive) hundert Meter langen Flur entlang, eine Sprenkelspur aus Jaucheklecksen über den gefliesten Estrich verbreitend.
Ja, und da stellen sich über den Fluchtweg doch die alten Fluchtlinien wieder her, und ich sehe die Waschküche mit dem großen eisernen Grapen vor mir, der gerade unter Feuer stand. Und ich sehe Mutter, Tante und Hausmädchen eine gewaltige Zinkbadewanne in die Küche schleifen, wo seit Urväter- und Urmüttertagen nicht nur gekocht, sondern auch gebadet wurde. Und dann höre ich nur noch die Stimme meiner Mutter – oder vielmehr, ich höre sie aus einer späteren Nacherzählung meiner Freundin Annelotte sprechen:

So, Annelotte, nun mußt du aber nach Hause gehen, denn wir müssen Peter sofort nackt ausziehen.

Das war nun nicht mehr ganz die Voßsche Idyllik, eher schon eine Wilhelm-Busch-Szene und insofern eine Komiknummer über das gestörte Idyll, aber wie es so ist, der Ernst des Lebens verliert sich oft leichter aus der Erinnerung als die Lächerlichkeiten, aber gelernt habe ich natürlich auch aus dieser Geschichte: zum Beispiel, daß man manchmal zu unvermuteten Mitteln greifen muß, um einen Gegner aus der Fassung zu bringen.
Wie sich mir das Gehäuse beim Erzählen langsam wieder zurechtrückt und sich auch das Längsschiff von der Diele bis zum anderen Ende auftut, bis zur großen Eingangstür zum Himmelreich hin, sehe ich noch etwas anderes, was mich sofort zum Weitererzählen verleitet. Dort befand sich nämlich rechter Hand eine großmächtige, mit Wappen bemalte Eichentruhe, in der die Winterplumeaus verstaut wurden, die aber auch noch anderen, und ich möchte schon sagen, karitativen Zwecken diente. Immer wenn z.B. ein Bettler an der Haustür klingelte, und es klingelte oft, wurde er ziemlich energisch auf einen nebenstehenden Flechtstuhl verwiesen, wo ihm statt der erbetenen föfftig Penn aber nur ein Teller Suppe und ein Butterbrot beschert wurden. Diese eisern eingehaltene Sitz- oder Setzordnung war natürlich eine Art von Nötigung. Wer Hunger hatte, sollte gespeist werden, wer Durst hatte, getränkt, aber eben nicht mit Köm, und gerade auf den zielte ja „das eigentliche Verlangen der Bittsteller, die die mit auf den Weg gegebenen Stullen oft einfach verächtlich in den Rinnstein warfen. Zu essen immer, aber bloß kein Geld auf die Hand, so hieß hier eine eiserne Hausregel, die ich selbst allerdings nicht verinnerlicht habe, im Gegenteil, wenn immer ich mich auf Lesereisen befinde, durchperlt ein zierlicher Silberstrom die von mir bewohnten Hotels, und es ist mir ziemlich egal, ob er sich am Ende in Nahrungsmittel verwandelt oder sich drogistisch verflüchtigt. Andererseits, auch die Kirche selber war ja dem Silber nicht abhold. Das bezeugte geradezu sinnbildlich ein ziemlich monströser Missionsneger aus Pappmache, der sich ebenfalls auf der geschilderten Truhe befand und der bei jeder in ein vorgestrecktes Kästchen gesteckten Münze artig nickte. Daß ich ihn selbst oft mit eingeworfenen Hosenknöpfen oder abgelaufenen Vorweltkriegsgroschen zu animieren suchte, erwähne ich mal nur nebenhin. Der Mechanismus schien mir so sonderbar, daß ich mich an der Wechselwirkung aus Input und Output gar nicht sattsehen konnte, egal, ob mein Großvater oft genug seufzte:

Da hat doch wieder mal ein Lümmel solche Dinge da reingesteckt.

Interessanter noch scheint mir im späten Rückblick die merkwürdige Doppelfiguration. Auf der einen Seite der nicht gerade zu seiner Zufriedenheit abgespeiste Bettelmann, maulig löffelnd oder mißmutig kauend, auf der anderen der exotisch gewandete Bettelmohr und wahrscheinlich einer der HL drei Könige aus dem Märchen von Christi Geburt, so jedenfalls mutete er mich an, und er veranlaßte mich zu meinem ersten Bildercomic „Die Erlebnisse von drei Deutschen in Afrika“.
„Wie fleißig der Junge doch ist“, äußerte mein Großvater dann gelegentlich, obwohl es der schiere Mumpitz war, den ich da zu Papier brachte, und nicht im entferntesten zu vergleichen mit den wirklichen Malkünsten meiner hochgeliebten Großmama, deren zarte Blumenaquarelle und geradezu schmissig realistische Galeriewaldszenen Sie heute noch an unserer Övelgönner Stubenwand besichtigen können. Da ich sie mir für ein künftiges Porträt aufgespart habe – mit ihr kam überhaupt erst die richtige Kunst in unser Haus und der Sinn für nicht nur religiös motivierte Bilder –, fahre ich in meinen afrikanischen Phantasmagorien fort, die sich eines guten oder auch heiklen Tages dann noch einmal neu entzünden sollten. Ein Missionar kam ins Haus, ein richtig welterfahrener und afrikaerprobter, der eine passende Frau für seine Missionsanstalt in Südafrika suchte und auch glaubte, sie in meiner Tante Klärchen (siehe auch unter Lala) gefunden zu haben, aber da gab es dann diese tuberkulösen Eintrübungen, scheinbar verschmerzte, aber immer noch bedrohliche, so daß er nach seinem zunächst verheißungsvollen Werbefeldzug schließlich doch noch brieflich von seiner Offerte Abstand nahm. Möglich, daß ich diese wirklich tragische Geschichte längst vergessen hätte, wenn sich nicht eine eher beiläufige Hinterlassenschaft unverlierbar in meinem Gedächtnis erhalten hätte. Es war ein afrikanisches Liedchen, möglicherweise in einem Zulu-Idiom, das mir eindringlich wie ein lautmalerischer Kindervers zu Ohren ging und das ich heute noch ohne groß zu überlegen hersingen kann:

quin quei quannimonni gennimonni nassari
quei quo – quin quei quo
quin quai quannimonni gennimonni nassari
quei quo – quin quei quo
moude moude
moude meode moeu umba aumba umba.

Die zweite Fremdsprache, mit der ich noch in frühem Vorschulalter bekanntgemacht wurde, wenn auch nur brockenweise, war dann auch gleich das Griechische. Obwohl mein Großvater ein gesetzter Mann war, den ich mir rückblickend kaum anders als in Gehrock, Talar oder grauem Sommertuch vorstellen kann, nahm er den Enkel doch schon mal gern auf den Schoß, um ihn im Takt des Kniereiters mit den Geheimnissen des griechischen Hexameters bekanntzumachen. Während er mich behutsam an meinen Schülterchen festhielt, wippte er geradezu ausgelassen mit den Beinen und zitierte mir rhythmisch-metrisch eindrücklich den Anfang der homerischen Odyssee, den ich Ihnen mangels eigener Griechischkenntnisse auch nur etwas papageienhaft rezitieren kann, also folgendermaßen:

Andramoiennepemusapolythroponhosmaslapolla
Planchthä epei’troiäs hierón ptoliétron eperse –

was auch Ihnen vermutlich nur noch auf gut Otterndorferisch geläufig ist, ich meine, in der nicht nur trefflichen, sondern bis heute unübertroffenen Übersetzung von Johann Heinrich Voß, die bekanntlich folgendermaßen lautet:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.

Von allen Homer-Übersetzungen, vor, neben und nach ihm (auch die Schadewaldtsche nicht ausgenommen), ist mir die wuchtige, klangvolle, kernige des Johann Heinrich Voß immer noch die liebste. Ich habe sie gerade vor kurzem noch einmal in der Sendung Am Morgen vorgelesen mitverfolgt, und ich muß schon sagen, daß mir der eherne Hammer so wohl zu Herzen, zu Ohren ging, wie ich die güldene Nadel bewunderte, mit der sich ihm die feineren Szenen zum Gewebe fügen, ein Wunderwerk des gesteigerten Ausdrucks und zugleich der rhythmischen Gelenkigkeit. Daß sie schon zu Vossens Lebzeiten kritische Blitze aus allen möglichen Richtungen auf sich zogen, kann mich gar nicht erschüttern. Wie mir an dem merkwürdig zerspaltenen Charakter des Mannes auch immer besonders gefiel, daß er einerseits den Alten neues Leben einblies, aber sich keineswegs auf bloß antiquarische Positionen zurückzog, sondern polemisch in den Streit der Geister eingriff und dem sogenannten Zeitgeist rücksichtslos die Leviten las. Dabei kann es einen im späten Nachhinein schon betrüben, wenn sich gleichermaßen geschätzte Gestalten wie Lichtenberg und Voß derart in die Wolle gerieten, daß der Bruch nicht mehr zu überbrücken war. Oder wenn der mir ebenfalls nahestehende Klopstock geradezu pfennigkrämerisch an gewissen Eigentümlichkeiten herummäkelte, die mir nach meinem persönlichen Sprachgefühl zu den besonders ausdrucksstarken Stellen zu zählen scheinen. Aus einem Schreiben Klopstocks vom 28. Juni 1799 an den Sprachgelehrten und Metrenkundler in Otterndorf:

Einige Veränderungen der Wortfolge dürfen gar nicht gemacht werden. Wir sagen: „Die Sonne geht auf“, und „wenn die Sonne aufgeht“ und dürfen nicht sagen: „Auf geht die Sonne“. Und nicht: „Aus nun stiegen sie selbst“ – und „Die Augen verdreht, anwütet er“.

Aber nein, aber nicht doch, Papa Klopstock, würde ich antworten, wirklich erst umgekehrt als Sie denken wird ein Schuh draus, ich meine, ein kühn auftrumpfender Versfuß, und wenn ich mich selbst oft als Ihren späten gelehrigen Schüler bezeichnet habe, möchte ich in diesem speziellen Fall doch lieber Ihrem Antipoden folgen wollen. Nein, ich bin ihm sogar gefolgt, verschiedentlich, was aber wohl noch nicht in Ihr hochverehrtes Grab in Hamburg-Ottensen durchgedrungen ist, weshalb ich es Ihnen heute in Ihr oft besungenes Elysium nachrufe:

An springt der Sommer –: mitten durch den Reifen,
– noch einmal trägt mein Glück –
Verweile doch und laß dich auch begreifen,
mein Pfauen-Augen-Blick –
Es ist das Stundenglas nicht umzukehren
Und was die Parze spinnt…
Das Leben, das wir beide so verehren,

es rast – es rinnt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren. Was, insgesamt genommen, wüßten wir heute noch von all den griechischen Göttern, Helden und Dämonen, wenn wir uns nicht bereits in aller Jugendfrühe den Homer zur Brust genommen hätten, und zwar ausnahmslos in der vossischen Übertragung, wo ja alles richtig erklärt wird und nicht, wie in Goethes Faust Zweiter Teil, bereits großzügig vorausgesetzt. Und wie wäre das alles auf mich gekommen ohne diese spezielle Sozialisation, in die allerdings dann auch noch die Bibellektüre und die Anregungen durch das protestantische Kirchenlied fallen, womit wir uns wieder unter dem behütenden Otterndorfer Pfarrhausdach befinden, dessen geistiger und geistlicher Überbau von diesen tragenden drei Säulen unterfangen wurde.
Ich habe diese Herkunft nie verleugnet, obwohl ich später oft genug daran Anstoß nahm, kritischen Anstoß versteht sich, denn was sich mehr und mehr zur Bedrohung auswuchs, der grauenhafte Nazispuk und der zweite Weltkrieg, auf den das alles hinauslief, war kaum noch geeignet, an diese harmonische Trias zu glauben. Was nach der ganzen Barbarei übrigblieb, war insofern nicht nur ein zerschlagenes und zerteiltes Reich, sondern auch ein geistiger Scherbenhaufen, aus dem man sich einen Lebens- und Weltensinn erst wieder brockenweise zusammenklauben mußte. Bruchlos anknüpfen ließ sich an überhaupt nichts mehr, weder an die christlichen Traditionen noch an die humanistischen, und es war charakteristischerweise die alte, die ewige Rechte, die sich noch einmal hinter diesen löcherigen Paravent zu flüchten suchte. Wir jungen Menschen wandten uns hingegen anderen Traditionen zu. Dazu gehörten zumal der deutsche Expressionismus und die sogenannte Neue Sachlichkeit mit ihren gesellschaftskritischen Tendenzen, daran orientierten wir uns und hier suchten wir unsere neuen Denk- und Schreibmuster. Nun ist hier nicht der Ort und schon gar nicht die Zeit, um meine geistige Weiterentwicklung in all ihren dialektischen Winkelzügen nachzuzeichnen. Nur soviel sei kurz vermerkt, daß sich auch die frühesten Prägungen nie ganz aus meinem Gedächtnis verloren haben und daß sie sich in meiner persönlichen Schreibweise auf besondere Art als aufgehoben betrachten können. Freilich war das geistige Erbe nicht einfach ungeprüft und ungebrochen zu übernehmen, so weit reichten die alte Anhänglichkeit und eine gründlich enttäuschte Liebe nun wirklich nicht. Aber es kritisch zu wenden, es energisch durchzurütteln und dann neu zusammenzusetzen, schien doch immerhin des Schweißes der Edlen wert – möglich, daß sich am Ende aus einer Vielzahl von Bröckeln, Splittern, Abschlägen und verworfenen Ecksteinen doch noch einmal so etwas wie ein zusammenhängendes Ganzes entwickeln ließe. Wie so etwas aussehen kann, möchte ich Ihnen gern an einem Gedicht demonstrieren. Es heißt „Um die Bestände zu überprüfen“, was einerseits eine Wendung von Gottfried Benn aufnimmt, aber inhaltlich und formal dann doch seine eigenen Wege nimmt, und daß es mit dem Anfang der Odyssee beginnt, hat schon seine besondere und Ihnen nun nicht mehr unverständliche Bewandtnis. Hören Sie es sich an. Es ist auch eine Art von Odyssee, allerdings eher eine Irrfahrt durch unser traditionelles Bildungs- und Ideengebäude, was sie dann dem Joyceschen Ulysses möglicherweise näher rückt als unsere klassisch-humanistische Bezugnahme auf die griechische Antike.

Andramoiennepemusapolytroponhosmalapolla…
Den Vielstrapazierten nenne mir Muse, den Mann:
Seine Bescheidenheit ist seine vorzügliche Größe;
Der schmökt seine Piep, der weiß, was er aussagen kann!

aaaaaAntithese: Die Behauptung, daß zwischen den Planeten Mars und Jupiter aus Gründen der Vernunft (?!) kein dritter Stern möglich wäre – heißa Kathreinerle, da doch zwei Jahre vor Hegels Habilitationsschrift die Ceres bereits entdeckt war!

Aber hoch mit dem Blick zum Unendlichkeitskino;
Solange das Metronom noch tickt unterm Nessushemd;
Schau, wie Westwind dem Monde, edlem Albino
Zirrushaar vor das Auge kämmt.

aaaaaKeine Transzendenz, keine Götter, kein doppelter Boden. Bei aufgebockter Seele und rechtschaffenem Verstande: „vertrauend auf das Principium individuationis oder die Weise, wie das Individuum die Dinge erkennt: als Erscheinung“.

Ich bin seit Hellas ziemlich heruntergekommen,
ich hänge mein Herz an alles, was mir durch die Finger rinnt –
Das Elend der Welt ist größer als angenommen,
und köstlicher der Wind.

aaaaaUm kurz die Bestände zu überprüfen: Schlüssel? Jawoll. Portemonnaie? Hm. Zigarettenstreichhölzer? Ijo. Munter und unternehmungslustig klickern die Bellergalpillen in meiner Tasche. Noch einen Zug von der unendlichen Luft: Ich entwickele keine höheren Gedankengänge.

Im Zorn des Sommers, ganz mit Gold bekotzt,
oder wo Finsternis über dein Herz verfügt –:
Sanft und gewaltig der Schlag des Sauerstoffflügels;
Nun deute den Hauch, der dich trägt oder unterpflügt.

aaaaaHut ab vor der Schöpfung! Hinein ins Unaussprechliche! Der sich beteiligt, will nicht erkennen.

Von Erde genommen, wer widerlegte mich?
Fröhlichen Mist von morgen, der singt und sich gütlich tut!?
Mensch sei helle. Werde unwesentlich
Auf der Woge von Affenblut.

Meine sehr geehrten Damen und Herren. Was Sie möglicherweise erschreckt hat, müssen nicht unbedingt der heftige Duktus und das grobe Schmirgelkorn sein. Es kann auch mit einem horror vacui zu tun haben, der dann eher auf gewisse inzwischen untergegangene Bildungsunterlagen verweist, aber wahrlich, ich sage Ihnen: Die Schriften der Alten lesen sich noch weit schwieriger, und was man nur vage erahnt, kann man jederzeit nachschlagen. Im Zweifelsfall in dem recht ausführlichen Appendix, der der Werkausgabe beigefügt ist und in dem auch die Bezugnahmen auf Hegel, Schopenhauer und Angelus Silesius ihre angemessene Erklärung finden. Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Wer sich das Gedicht ganz genau ansieht, nimmt vielleicht sogar wahr, daß es gar nicht so weltenweit von unserem Johann Heinrich Voß entfernt ist, ja, daß selbst der Idylliker Voß hier noch eine gewisse geistige Bezugsgröße darstellt. Auch hier fügt sich einer – in angemaßter Bescheidenheit – in einen überschaubaren Weltenumkreis. Auch hier vergewissert sich jemand seiner privaten Habe durch Aufzählung seiner Besitztümer: Pfeifen – Schlüssel – Portemonnaie – Zigaretten – Streichhölzer – Bellergalpillen, und das ist dann beinah schon wieder aus Vossens „Luise“ gegriffen:

Freundlich reichte Luise dem lieben Papa und dem Jüngling
Pfeifen dar, und Toback in der fleckigen Hülle des Seehunds.
Und sie lagerten sich im schattigen Gras: an des Vaters
Rechte der Knab’ und Mama, die den klaren Trank in die Tassen
Rühmend goß; und zur Linken die schöne Luis’ und der Jüngling.
Zwar sie kostete selten des Kaffees; aber gefällig
Trank sie heut ein wenig, und russischen Thee mit dem Kleinen.

Lassen wir es damit sein Bewenden haben, liebe Freundinnen und Freunde aus dem alten Landkreis Hadeln, aber auch aus Stade, Bremervörde, Cuxhaven, Hamburg und so fort, und was zunächst als Dichterlesung gedacht war und dann zu einem kleinen Bildungsausflug entglitt, wenigstens mit zwei, drei Gedichten ausklingen – kloing!

Peter Rühmkorf, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 2010

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag von Peter Rühmkorf:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

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