Peter Rühmkorf: Zu Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

 

Ein modernes Liebesgedicht

Nehmen wir einmal an, dies wäre ein Liebesgedicht. Die Disposition spricht schon einmal nicht dagegen: ein Mann vom Bau, Arzt, Kenner der Verhältnisse und Örtlichkeiten führt eine Zweiteperson-Einzahl, das heißt ein weibliches Du, in seinen Wirkungsbereich ein, scheinbar gelassen, scheinbar zynisch und von oben her: hier dies, hier das, eine stinkende Vorhölle, ein schwelendes Fegefeuer, eine bettengesäumte Friedhofsauffahrt: mein Spezialrevier!
Um an dieser frühen Stelle nur ja keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Natürlich leiht der Gestus von Chefvisite mit Falldemonstration hier nur das äußere Gewand, das Schutzkleid, nur den gefühlsundurchlässigen Klinikkittel her, um zu Demonstrationen völlig anderer und gewiß ernsterer Art hinzuleiten.
Zwischen dem hämmernden „Hier“ und dem drängenden „Komm“ der ersten vier Strophen wird ein Geheimnis gelüftet, das – „Komm, hebe ruhig diese Decke auf“ – von Zeile zu Zeile an Mysterium verliert und schließlich als erbarmenslose Grauenswahrheit auf dem Seziertisch liegt: Die Hinfälligkeit und Zersetzlichkeit allen Fleisches und mit ihm all seiner tieferen Empfindungen oder höheren Ideale. Was das Gedicht dabei als Liebesgedicht verdächtig macht – und sei es als schwefligste Kontrafaktur alles dessen, was einmal romantisches Liebeswerben hieß −, das ist die durchgehende Präsenz des Sexuellen oder Geschlechtlichen, das gerade dort so markant hervortritt, wo es verabschiedet wird.
Wenn wir den für die gesamte Expressionismusforschung überaus fruchtbaren Begriff Kontrafaktur noch einmal aufgreifen dürfen, dann sehen wir allerdings, daß ein Jahrtausendtopos des Liebeslockens und der Minnebalz („Komm heraus, komm heraus, du schöne Braut“ „Komm zu mir in den Garten, komm zu mir ins Gras“) methodisch als Stimmungsscheuche und Verschrecksignal eingesetzt wird („Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh dieser Klumpen Fett und faule Säfte“ – „Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust“): Appellationen weniger zum geneigten Nähertreten als zum entsetzten Zurückschaudern.
Trotzdem steht die Verkehrung des Lockmittels zum Schockmittel, wie gesagt, nicht für sich allein. Zerfallene Schöße und zerfallene Brüste lenken den Blick nicht bloß allgemein auf die geringe Beständigkeit des menschlichen Baumaterials – sie zeigen das Geschlecht als das bevorzugte Einfallstor und den Empfängnis- und Austragungsort der tödlichen Krankheit, eine ziemlich verkniffen protestantische Zwangsoptik, deren gesammeltes Interesse an Geschlechtlichkeit dieselbe nur mehr als Degenerationserscheinung wahrzunehmen vermag.
Das von uns so bezeichnete „Liebesgedicht“ wäre also ein poetischer Rapport vom Verlöschen der Liebe und der menschlichen Leidenschaften, auch der Nächstenliebe, der seelischen Anteilnahme; denn zwischen den gesichtslosen Verarztungskräften (teils unpersönlich-sachlich „Schwestern“, teils einfach „man“ genannt) und den anonym dahindämmernden Patientinnen bestehen nur mehr diese aufs äußerste verdinglichten Beziehungen, die die einen zu „Bänken“, die anderen zu Wäschern und Wärtern degradieren.
Erst mit der Ausgangsstrophe und ihrem ultimativ akzentuierten „Hier“ kommt dann noch einmal so etwas wie eine neue Qualität in das schwärende Idyll. Wenn wir nämlich zu Anfang sahen (und jetzt erst wieder bemerken), daß dem Gedicht ein nicht ganz unauffälliges „Der Mann“ vorangestellt ist (wohinter sich ja wohl ein „Der Mann spricht:“ verbirgt), dann tut sich wirklich erst am allerletzten Schluß der Sinn dieser einseitigen Dialoganweisung auf. Stumm wie eine Statistin haben wir die fortwährend angesprochene Partnerin ein Totenhaus durchwandern sehen. Kein Sterbenswort auch haben Patienten oder Personal zum höllischen Exerzitium beitragen dürfen.
Erst mit der Endzeile, praktisch erst mit den letzten beiden Wörtern enthüllt sich nun ein scheinbarer Monolog als Zwiegespräch. Als ein unendlich gespannter und wahrhaft infernalische Abgründe überbrückender Wechselgesang mit Anrede und Rückruf, Beschwörung und Echo: der Apostrophe des Geschlechtlichen und der fordernd-einfordernd nachhallenden Antwort eines Elements.

Peter Rühmkorf aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

1 Antwort : Peter Rühmkorf: Zu Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“”

  1. Ernst köhler sagt:

    Hallo,
    Ich hatte Krebs, 5 Jahre lang 3mal die Woche, 12km mit Taxi zurBehandlung, Inge samt zur Therapie, über 20.000 km gefahren, keine Unterbrechung. Dank meiner Frau habe ich es geschafft.
    Ab dem 5ten Jahr NUR noch alle drei Monate auch weiter C.D. Röntgen. Ohne meine Frau hätte ich dies nicht geschafft !!
    Wir waren am Anfang 12 Patienten, nach 5 Jahren war ich der einzige ÜBERLEBENDE,

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