Peter von Matt: Zu Alexander Xaver Gwerders Gedicht „Ich geh unter lauter Schatten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alexander Xaver Gwerders Gedicht „Ich geh unter lauter Schatten“ aus dem Band Alexander Xaver Gwerder: Dämmerklee. –

 

 

 

 

ALEXANDER XAVER GWERDER

Ich geh unter lauter Schatten

Was ist denn das für eine Zeit –?
Die Wälder sind voll von Traumgetier.
Wenn ich nur wüßte, wer immer so schreit.
Weiß nicht einmal, ob es regnet oder schneit,
ob du erfrierst auf dem Weg zu mir –

Die Wälder sind voll von Traumgetier.
Ich geh unter lauter Schatten –
Es sind Netze gespannt von dir zu mir,
und was sich drin fängt, ist nicht von hier,
ist, was wir längst vergessen hatten.

Wenn ich nur wüßte, wer immer so schreit –
Ich sucht ihm ein wenig zu geben
von jenem stillen Trunk zu zweit;
voll Taumel und voll von Seligkeit
würd ich den Becher ihm heben –

Weiß nicht einmal, ob es schneit oder regnet…
Sah die Sterne nicht mehr, seit ich dich verließ;
kenn den Weg nicht mehr, den du mir gesegnet,
und zweifle sogar, ob du mir begegnet –
Wer war denn das, der mich gehen hieß?

Aber, du findest doch her zu mir –?
Sieh, es wird Zeit, daß ich ende.
Die Wälder sind voll von Traumgetier,
und ich darunter bin nicht von hier…
Ich gäb alles, wenn ich dich fände!

 

Nah am tödlichen Rand

Ein Jahr nach seinem Tod kam Ingeborg Bachmanns erster Gedichtband heraus. Der Tod war freiwillig. Der ihn sich zufügte, 1952, stand in seinem dreißigsten Jahr. Wenn man seine Gedichte heute liest, kommt es einem vor, als kündigten sie die Strophen der Österreicherin an: verwandt ist die Bildlichkeit, verwandt die Freiheit im Setzen der Metaphern, verwandt die langsam wachsende Verzweiflung. „Zieh Wälder groß“, heißt es bei Ingeborg Bachmann, „daß mein Mund ganz im Schatten liegt.“ Die Wälder sind bei ihr der Ort außerhalb, an dem für kurze Zeit, für jene „gestundete Zeit“, von der ihr erster Gedichtband spricht, das urtümlich tönende Reden möglich ist.
Ähnlich erscheinen die Wälder bei Alexander Xaver Gwerder. Auch bei ihm sind sie ganz zeichenhaft. Teil einer inneren Landschaft. Nur liegen sie näher am tödlichen Rand. Solche letzten Laute, solche blinkenden Gespinste der Einsamkeit, in die niemand mehr eindringt, aus denen nur noch die paar Töne kommen, finden sich bei Ingeborg Bachmann erst in der Zeit des „Todesarten“-Projekts. Dort könnte auch der Satz stehen, der dieses Gedicht hier so unheimlich macht: „Wenn ich nur wüßte, wer immer so schreit.“
Die Zeile eröffnet den Zugang zum Ganzen. Kein anderer schreit, als der das Schreien hört und sich fragt, woher es stamme. Das erinnert an die Geschichte vom wahnsinnigen Bauernburschen im „Werther“, der nie so ruhig und gelassen bei sich selber war wie zur Zeit, als er für die andern – tobsüchtig im Asyl lag. Oder es erinnert an das Verhältnis von Ich und Malina in Ingeborg Bachmanns Roman, die auch zusammen nur eine Person sind, zusammen eine Person wären, wenn sie nicht immer weiter auseinanderglitten.
In dem Gedicht, einem der letzten des Autors, überlagern sich seelische und mythische Unterwelt. Vergils schwarze, von den Schatten bewohnte Wälder am Acheron und das Unbewußte im Sinn der modernen Psychologie, wo sich fängt, „was wir längst vergessen hatten“, stiften gleicherweise die Bildlichkeit der Verse. Nur entwächst diese rasch der Eindeutigkeit jener Vorstellungen und damit aller logisch schlüssigen Deutung. Das zeigt sich, wenn man die Liebesklage verfolgt, die durch das Ganze geht. Wer sucht hier wen? Hat wen verloren? Ist auf welchem Weg? Es ist nicht auszumachen. Alles bewegt sich und bleibt am Ort. Man geht und regt sich nicht vom Fleck. Das ist die Natur der Unterwelt. Oder: die Natur der Welt in den Augen der Verzweiflung. Deshalb die Wiederholungen. Sie zeigen, daß nichts sich verändert. Sie machen das Gedicht leicht, zu einem Rondo fast, und gefährlich suggestiv. Gwerder lebte in Zürich. Nach seinem Tod wurde er für eine ganze Generation von Schweizer Autoren zur Symbolfigur. Das schönste Denkmal setzte ihm Karl Krolow mit den „Elegien auf den Tod eines jungen Dichters“.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, Erstdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.8.1987

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