Peter Waterhouse: Zu H.C. Artmanns Gedicht „to ablybody“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu H.C. Artmanns Gedicht „to ablybody“ aus H.C. Artmann: Sämtliche Gedichte. –

 

 

 

 

H.C. ARTMANN

to ablybody

naphta of siberia in rye-ay
snow of moccasin in tay-zoo-mah
chloride in their kutub al qumik
love love love on its heights
more more more next shallow jhalum
river of downy swans next to shal-i-mar
in ín-dee-vee-dew-als restricted
as an ín in ín in arrivals inwards
and with double love from moscow
and hah and tsay and art and mann
1

 

Das Flüchtige : Ohne Ufer

– Zu einer der flaschenposten von H.C. Artmann. –

Sie wurden im Bundesgebiet ohne Unterstand
und ohne gültiges Reisedokument angetroffen.
Sie wurden um 16:10 in Wien 9., Rooseveltplatz 2 betreten.

Landespolizeidirektion Wien

Der Jhelum River, einer der fünf Flüsse des Fünfstromlands Punjab und einer der Zuflüsse des Indus und vielleicht jener shallow jhalum in H.C. Artmanns Gedicht „to ablybody“, entspringt grün leuchtend in einem achteckigen um 1609 erbauten, von Gewölben mit Gedichten umfassten, an das Wasser im Paradies erinnernden riesensmaragdgroßen Becken in Verinag in Kaschmir. Wer Verinag und seine Gärten zu studieren beginnt, wird immer wieder Hinweise finden auf die vielen Punjabi-Sprachen, die an den Ufern des Jhelum River gesprochen werden, auf Pahari, Pothari, Dhani, Shahpuri, Changvi, Thalochi und auf die vielen anderen Punjabi-Sprachen, Doabi, Majhi, Jangli, Malwai, Pawadhi, Jafri, Multani, Bagri, Bhattiani, Kohati, Chhachi, Ghebi oder Jandali, wird also immer wieder lesen, wie dort gesprochen wird, in Verinag, in Kaschmir und im Punjab, in lauter Muttersprachen, aber nicht in der National- oder Amtssprache. 

TO ABLYBODY

naphta of siberia in rye-ay
snow of moccasin in tay-zoo-mah
chloride in their kutub al qumik
love love love on its heights
more more more next shallow jhalum
river of downy swans next to shal-i-mar
in ín-dee-vee-dew-als restricted
as an ín in ín in arrivals inwards
and with double love from moscow
and hah and tsay and art and mann
2

Das Gedicht „to ablybody“ ist in einer der Amtssprachen Kaschmirs, Pakistans oder Indiens geschrieben, in Englisch geschrieben – aber die Leserin und der Leser werden immer wieder hören, wie dort gesprochen wird im Gedicht. Schon der Titel des Gedichts ist eher Aussprache als Sprache – es gibt das Wort ablybody in keinem englischen Wörterbuch, aber es gibt das Wort in der Aussprache; es gibt das Wort nicht schriftlich, aber gesprochen. Der Titel ist eher gesprochen geschrieben als schriftlich geschrieben. Ich habe das Wort ablybody schon oft gehört, und ähnliche Worte, aber ich habe es nicht zuvor geschrieben gesehen. Ich habe ablybody und ähnliche Worte in meiner Kindheit oft gehört und sie in letzter Zeit oft gehört. Zum Beispiel bour, mit der Bedeutung vier, zum Beispiel im Ausdruck bour people, und er bedeutet nicht arme Leute. Auch bibe hours. I’m not apraid. We are pree people. Ablybody wants peace. Der Titel des Gedichts ist ein ausgesprochener Titel. Wäre er richtig geschrieben, würde er vielleicht to everybody lauten.
Aber in dem Gedicht wird nicht richtig geschrieben, sondern richtig gesprochen. Erste Zeile: „naphta of siberia in rye-ay“. Ich weiß nicht, was rye-ay bedeutet, aber es scheint schriftlich gesprochen zu werden, es sind eher Laute als Buchstaben. Es klingt wie die englische Aussprache eines Wortes. Oder es klingt wie die Aussprache, die etwas veränderte Aussprache von ria, dem Ende des Wortes siberia; nicht „Siberia“, sondern „sye-bee-rye-ay“. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber hier wird gesprochen, und der Mund bewegt sich wie das Herz oder wie Hände, Arme und Füße oder Flüsse. Auch ohne die Hilfe des an- und aussprechenden Titels to ablybody wüsste ich in der ersten Gedichtzeile: Diese ist gesprochen. Die erste Zeile ist weniger Sprache als vielmehr Aussprache, fast Stimme, fast Zustimmung. Ist die gesprochene Sprache immer nahe dem Unsinn; Zustimmung zum Unsinn?
Vor mir auf dem Tisch liegt ein Brief einer kirchlichen Organisation, geschrieben in der Amtssprache. Er beschreibt einige Verbesserungen im täglichen Leben einer Schar von Flüchtlingen, die in Österreich Schutz suchen. Da ist zu lesen:

Es ist eine wesentliche Errungenschaft, dass rechtskräftig Negative einen Zugang zur Grundversorgung haben (erstmals unter Zustimmung durch das Bundesministerium für Inneres).

Nicht jeder wird wissen, wer oder was rechtskräftig Negative sind. Der Ausdruck begegnet einem in etwas anderer Form in amtlichen Schriftstücken als rechtskräftig negativ abgeschlossene Asylverfahren. Nach einem solchen negativ abgeschlossenen Asylverfahren wird einem Flüchtling kein Asyl in Österreich gewährt. Irgendwie geschieht es aber, dass der amtliche Ausdruck rechtskräftig negativ abgeschlossenes Asylverfahren verwandelt wird in rechtskräftig Negative und damit nicht mehr das behördliche Verfahren meint, sondern den einzelnen Flüchtling – und nebenher vielleicht auch die Bezeichnung Neger (ich glaube, in Wien das Synonym für pleite oder kein Geld haben). Das behördliche Verfahren wird zum Flüchtling, oder er selbst wird sein Verfahren; allerdings nur im Fall des negativ beendeten Verfahrens. Sobald ein Asylverfahren an ein schlechtes Ende kommt, wird aus der Person das Verfahren (und wie so oft steht in den amtlichen Bescheiden der Satz: „Ihre Person steht nicht fest“). Kommt das Asylverfahren zu einem glücklichen Ende, heißt der Glückliche nicht der Positive oder der Glückliche. Ist das Ende glücklich, fällt das Verfahren vom Flüchtling ab und seine Bezeichnung wird unsicher. Ist das Ende unglücklich, haftet das Verfahren am Flüchtling, Verfahren und er sind verhaftet.
Manche der rechtskräftig Negativen im Brief auf meinem Tisch sind aufgewachsen, haben gelebt an dem durch die vielen Sprachen fließenden Jhelum River, an seinem Oberlauf in Kaschmir, an seinem mittleren Lauf durch die Ebenen des Punjab, an seiner Mündung in den Indus. 70 Kilometer westwärts des aus dem Himalaya in die Ebenen hinunterfließenden, an den Atomwaffenlagern vorüberfließenden Jhelum River – manche schreiben wie Artmann „Jhalum“ – liegt das Dorf Bar Bandai, die Heimat eines der Flüchtlinge, Mr. Adalat Khan, ehemaliger Betreiber einer Ziegelei (Ziegelbäckerei in der Sonne). Wenn wir uns miteinander unterhalten, sagt er manchmal eines der Worte in Artmanns Gedicht, spricht es so aus, wie es das Gedicht ausspricht: ablybody. „Ablybody in sawat walley speak pashtu.“
Artmann schreibt im Gedicht nicht: „everybody“. Und er schreibt, am Ende des brieflichen Gedichts, seinen Namen nicht schriftlich: „H.C. Artmann“, sondern: „and hah and tsay and art and mann“. Auch den Namen siberia hat er vielleicht in Mündlichkeit übersetzt: „siberia in rye-ay“. Bei dieser Übersetzung in Mündlichkeit ist zu bemerken, dass die Bedeutung der Sprache gestört wird. Ist siberia zu verstehen als der Name einer Landschaft, so bleibt in rye-ay unbestimmter. Hat rye-ay überhaupt eine Beziehung zu siberia? Und was zeigt die Präposition in an? Ist das Wort überhaupt eine Präposition?
Ist in diesem Gedicht alles übersetzt, und zwar weniger ins Englische als ins Mündliche? Und sind die Worte eher in mündliche Sprache übersetzt als in Bedeutung? Stehen sich Mündlichkeit und Bedeutung gegenüber? Ist die erste Silbe von shal-i-mar eine Übersetzung der ersten Silbe in shallow? Ist das schriftliche Wort individuals übersetzt in das mündliche Wort oder Mehrfach-Wort oder die Nichtworte ín-dee-vee-dew-als? Verliert das Wort in der Übersetzung seine Bedeutung? Sind mündliche Worte ganz anders zu verstehen als schriftliche?
Das Wort in ist sehr aktiv in dem Gedicht. Es ordnet oder überträgt die Substantive der ersten Zeilen, verbirgt sich dann vielleicht im on der vierten und i der sechsten Zeile und ist jedenfalls besonders wirksam in der siebenten und achten Zeile. Warum ist das in so aktiv in diesem Gedicht? Weil es so klein ist? Hat die Mündlichkeit, die ich in dem Gedicht höre, etwas zu tun mit der Kleinigkeit? Ist die mündliche Sprache eine kleine Sprache? Sind mündliche Wörter ganz klein, kaum länger als in, hah, tsay oder zoo? Ist siberia kein mündliches Wort, aber rye-ay ist mündlich? Ist snow of moccasin zu schriftlich, doch tay-zoo-mah mündlich? Chloride ganz schriftlich, doch kutub al qumik halbwegs mündlich (wobei kutub der Plural des arabischen Wortes „Buch“ ist – werden hier Bücher übersetzt ins Gesprochene?). Was ist love love love? Unterscheiden sich die love-Reihung und die Liebe? Ist love love love mündlicher als Liebe? Ist more more more mündlicher als more? Shallow jhalum, noch schriftlich vielleicht, doch shal-i-mar schon halbwegs mündlich und aus kleinen Teilen geformt, aus shal und i und mar, aus Schall und Lust und Freude (shal-i-mar, der Lust- und Freudengarten). Dieses i ist das kleinste Wort im Gedicht, ein Wort und ein Laut. Restricted ist ein langes schriftliches Wort, und es scheint davon zu erzählen, wie restriktiv die Schriftlichkeit ist. Individuals ist ein langes schriftliches Wort, das im Gedicht übersetzt wird in kleine Dinge, in, dee, vee, dew, als. Die kleinsten Dinge und die mündlichsten Worte gibt es in dieser und der nächsten Zeile – sie sind vielleicht die hörbarsten, und darum finden sich nur auf ihnen Betonungs- oder Vertonungszeichen: in-dee-vee-dew-als, as an ín in ín in arrivals inwards. Die Unterschrift unter diesem Brief, unter dieser Flaschenpost, ist eher ein Unterspruch: Artmanns Name wird darin Englisch, aber vor allem wird er vertont, wird er mündliche Sprache und in kleine Teile zerlegt. Die Abkürzung des Vornamens Hans, das H, wird vertont und verliert dabei seine Bedeutung: hah (fast ein Echo von shal-i-mar). Aus dem C, welches Carl abkürzt, wird tsay, ein nicht unkompliziertes, bedeutungsfreies Klanggebilde wie jenes in Zeile eins und zwei: ay und tay. „and hah and tsay and art and mann“ sind nicht geschrieben, sondern notiert. Artmann übersetzt, um zu hören, sogar sich selbst. Vielleicht weist er daraufhin, dass Sprache nur zu hören ist. Dass das Geschriebene und Befestigte nicht wirklich Sprache ist. Shallow jhalum – als Schrift ist es noch nicht Sprache. Zu Sprache wird es, wenn es gesprochen wird. Dann werden die beiden Wörter, die sich in der Schrift nur in einem Buchstaben gleichen, einander sehr gleich: shel-low-shel-lum. Und mündlich gleichen k und q einander. Werden sie gesprochen, werden einander kutuh und qumik ähnlicher, beinahe so ähnlich wie love love love und more more more. Gesprochen, werden die Worte einander ähnlicher, doch sie werden auch werdender – love love love ist werdender, fließender als das einfache Wort.
flaschenposten heißt der Gedichtzyklus, zu welchem „to ablybody“ zählt. Auch in dem Wort flaschenposten ist die Mündlichkeit wirksam. Als schriftliches Wort enthält es möglicherweise einen Fehler, die Mehrzahl des Wortes post; als schriftliches Wort existiert es gar nicht. Es sollte flaschenpost heißen. Doch wer das Wort sprachlich auffasst, wer es spricht, möchte vielleicht flaschenposten sagen, möchte sich von dem Wort flaschen anreden und anregen lassen, posten zu sagen anstatt post. Viele Flaschen, darum viele Posten. Oder genauer gesagt: Flaschen – ob viele oder eine – mit en-Endung, also Posten mit derselben Endung- „as an ín in ín in arrival inwards“. Oder: 

INLET OF A THERMOSTAT

so he took his wringled town tree
took his thermostat town drown tree
downed his sounds of a lawn town tree
tried his inner sized down style
took his wild miled inner size clyde
run in seven mile inner town mileboots
booted kwan loon long syne goods
knew none of those inner wild truce
meant drizzling dribble spine boots
booted none of inner spice kwan loons
thought in croons swooned in spoons
took his wringled town tree loons
3

Man könnte also der Meinung sein, dass Artmanns Briefgedicht „to ablybody“ wenig Bedeutung hat – und zwar deswegen, weil es sehr sprachlich ist; darüber hinaus auch namensreich. So namensreich, dass Wörter, die keine Namen sind, sich vom Namensreichtum anstecken lassen und sich verwandeln lassen in Namen. Naphta of siberia – Naphta ist die Bezeichnung für Erdöl (oder für Sternöl laut Bibel und Midrashim). Verwandelt sich naphta nicht ein wenig durch seine Verbindung mit of und siberia – und wird shal-i-mar ähnlich und love love love und more more more? Wird snow in der Fügung snow of moccasin zu einem Namen? Ist chloride ein Name geworden (verwandt der Orchidee)? Sind sie alle wie Blumennamen? Ist more more more next shallow jhalum eine Blume am Ufer des Jhelum River?
Warum gegen Ende des Gedichts double love? Weil in dem Wort love das andere Wort zu hören ist, in dem Vokal von love der Vokal von double? So wie in cow mos zu hören ist? So wie ablybody ein Wort ist, das nirgendwo zu lesen steht, aber hörbar ist. Lesbar ist everybody, hörbar ist ablybody. In Pakistan ist es zu hören: „my bamily“, „my briends“; „my briends beliebe me“.
„to ablybody“ ist ein als Flaschenpost verschickter Brief; allerdings ein in der mündlichen Form geschriebener. Auch der Name des Briefschreibers ist in die mündliche Form übersetzt, der Name ist nicht mehr H.C. Artmann, schriftlich, sondern er lautet: hah and tsay and art and mann. Dabei lautet er nicht bloß, sondern ist ins Englische übersetzt. Doch ist die Flaschenpost wirklich eine Flaschenpost? Artmanns Brief steckt nicht drinnen in einer Flasche. Obwohl in dem Gedicht so oft das Wort in steht: Der Brief ist nicht in einer Flasche. Man findet ihn in einem Buch oder auf einer Buchseite. Ist er eine Postsendung, die angekommen ist? Enthält er eine Botschaft, einen In-Halt, kompliziert verschlüsselt? Das Wort Ankunft oder arrival ist im Gedicht zu finden – es steht in einer Umgebung, in der von der Begrenztheit die Rede ist: „in ín-dee-vee-dew-als restricted / as an ín in ín in arrivals inwards“. Von Begrenzung, von restricted hört man hier, doch das Gedicht spricht ständig etwas an, das weit und kaum begrenzt ist – Sibirien, vielleicht den amerikanischen Kontinent, mit kutub al qumik etwas Arabisches, Höhen, den Nebenfluss des Indus, den pakistanischen und indischen Garten der Lust und Freude shal-i-mar, schließlich Moskau. Strebt das Gedicht nach Ankunft? Arrival ist ein Wort, das halbwegs verborgen von einem Flussufer spricht, an das die Post und die Flasche angespült werden könnten. Ad riva, ad ripa: ans Ufer, an den Strand. Doch diese Flaschenpost von Artmann soll vielleicht an kein Ufer kommen und im Fluss bleiben. Moskau am Ende des Gedichts ist wahrscheinlich nicht die Stadt, sondern der Fluss. Ist love love love ein Fluss? More more more der Name des Fließens? Ist hah and tsay and art and mann eine Bewegung? Soll diese Flaschenpost fließen und strömen? Soll sie flaschen und posten? Soll sie nicht ankommen, sondern entkommen? Enthalten?
Wie flüchtiges Gas entkommt. Naphta ist wohl so eine entkommende, flüchtige Sache, ein Öl, das sich in Luft verwandelt, nicht fest bleibt. Die Zeile, in welcher naphta of siberia geschrieben steht, scheint sich am Ende aufzulösen, in ein nur leicht gebundenes, durch einen einfachen Strich locker gebundenes Gebilde: rye-ay. Ist der Schnee in der zweiten Zeile leicht auflösend – und taut auch die Zeile am Ende auf: tay-zoo-mah? Dew, den Tau, findet man in einer Zeile gegen Ende des Gedichts – dew und Tau leiten sich her von einem Sanskrit-Wort, welches fließen bedeutet. Chloride kann eine gasförmige, flüchtige Substanz sein – und löst sich diese Zeile bindestrichlos auf in kutub al qumik? Löst love sich auf in dreimal love ohne Bindung? Gilt die Flüchtigkeit auch für more more more?
Die Häufung der Präposition in: In dem Wortgebilde ín-dee-vee-dew-als zeigt sich, dass die Präposition eine auflösende Wirkung hat, die Vorsilbe ist eine Verneinung, sie hat eine bleichende oder auflösende Wirkung – sie macht aus dividuals: ín-dee-vee-dew-als, worin der fragile, flüchtige Tau zu spüren ist. In sagt nein. Keine Ankunft, sondern Vergehen, Verfliegen, Flüchtigkeit. Diese Flaschenpost wird nicht aufgegeben, damit sie ans Ufer kommt, sondern um sie aufzugeben. In arrivals: ohne Ankunft, ohne Ufer. Rivers statt arrivals. Inwards, also unwärts, nirgendwohin. Das Gedicht ist eine Kunst der Verflüchtigung oder der Fuge oder eine Kunst der Aufgabe.
Am Anfang der Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes sagt Artmann:

Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgend jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.

Tay-zoo-mah: das Wort zoo geht zurück auf das griechische Wort für das Tier. Doch noch spezifischer drückt es die Fähigkeit aus, sich zu bewegen. Zum Beispiel sind Zoospores Sporen, die sich fortbewegen können. Man kann sogar versuchen, diese Bedeutung von zoo in dem Wort zoom aufzuspüren. Artmann tut das in einem Gedicht der flaschenposten, in welchem auch die Rede ist von entufern (entufern als das Gegenteil von erobern?):

ZOOO-OOOMS

after the rain talk talk
alles richtungs rio
ordéntlich knocks rott
nordéntlich riots
osténdlich westends
swingle dich sweetie
stweig sarxophons ab
phoney yours yummm-mmms
swarx dich in n stweigbügel
bürst dein melonens
belehns deins hemds
deins cwollars
shetlands unds studs
steig in n styx steils
entuphre ihn
phruphre ihn
hrügel ds bads stweigs
neun ha zehn ce art
vier mann und sechzig
4

In dem Ende 1968 verfassten Nachwort zu ein lilienweißer brief aus lincolnshire. gedichte aus 21 jahren, welches die Flüchtigkeit und Verstreutheit aller Gedichte Artmanns beschreibt wie einen „poetischen Act“, schreibt Gerald Bisinger: 

Artmann verließ Wien 1960, machte sich in Malmö ansässig, kam 1962 für einige Zeit nach Berlin, kehrte nach Schweden zurück, übersiedelte 1964 nach Berlin, 1966 nach Graz, 1967 wieder nach Berlin und ist seit Anfang September 1968 nur noch auf Reisen, ohne feste Adresse, unschlüssig, wohin er seinen festen Wohnsitz verlegen soll. Seine Manuskripte bleiben oft bei Herausgebern oder Redakteuren von Zeitschriften, bei Verlagen, oder er deponiert sie bei Freunden, wenn ein Ortswechsel bevorsteht. Selten macht er Durchschriften seiner Arbeiten; er gibt Unikate aus der Hand, und es war notwendig, solche Unikate oder Fotokopien davon zusammenzubringen, um diese möglichst vollständige Sammlung seiner Gedichte veranstalten zu können.5

1965 schrieb Andreas Okopenko in einem Brief über die frühen Gedichte von Artmann:

Man improvisierte oft bei Besuchen, diktierte es dem Freund oder sprach es einfach und schrieb es dann nicht nieder; man verschmiß es, vergaß es, verbrannte es. Die Produktion hatte etwas narrenfreies, man wußte, man würde die Sachen kaum unterbringen.6

Unterbringen. Der Standard, 2. April 2013: 

Laut UNHCR [United Nations High Commissioner for Refugees] sind Fahrscheine öffentlicher Verkehrsmittel für die Untergebrachten unerschwinglich. Auch klagten sie über erzwungene Untätigkeit: Deutsch- und Alphabetisierungskurse gebe es zu wenige. Nur in einem der inspizierten Gasthöfe konnten Asylsuchende kleine Arbeiten gegen Geld übernehmen. […]
Die Gasthofkontrollen im Namen des UN-Flüchtlingshochkommissariats […] fanden unangekünigt statt – und sie brachten in etlichen der Ende 2012 stichprobenartig besuchten 20 Flüchtlingspensionen Zustände zutage, die laut Christoph Pinter, Leiter des UNHCR-Büros in Wien, „schlicht mangelhaft sind“.
In den Berichten aus sechs Bundesländern, von denen Der Standard Kenntnis hat, ist von „[s]anierungs- und renovierungsbedürftigen Unterkünften“ mit „teilweise sogar Schimmelbefall“ die Rede, von Zimmern ohne Kästen und Tische, unhygienischen Küchen und Sanitäranlagen. In manchen Quartieren, schilderten die Asylwerber, würden sie „weder ausreichend noch gesund“ verköstigt.
(Irene Brickner. „Flüchtlingsgasthöfe laut UN-Bericht mangelhaft“. In: Der Standard, 2. Apr. 2013: 2) 

Als Andreas Okopenko in seinem Brief von der Unterbringung der Gedichte schrieb – vom Nichtunterbringenkönnen –, meinte er vielleicht, dass das Veröffentlichen eines Gedichts ihm Schutz gebe, seine Entfaltungsmöglichkeiten beschütze, seine mündlichen Flüchtigkeiten beschütze.
Ich vermische die Flüchtigkeit eines kurzen Gedichts von Artmann und die Flüchtigkeit der Flüchtlinge, die seit langer Zeit nach Europa kommen. Wie steht es mit der Kunst, das Flüchtige zu lesen und zu würdigen? Ist das Flüchtige das Friedliche? Kommen die Flüchtlinge als Nichteroberer, und bringen sie das Flüchtige mit? In den Bescheiden der österreichischen Asylbehörden werden Feststellungen gemacht. In vielen Bescheiden wird Unglaubwürdigkeit festgestellt. Kann man Flüchtigkeit feststellen? In einem Bescheid lese ich: „Ihre Person steht nicht fest.“ Flüchten Gedichte auch? Ist Flüchtigkeit eine besondere Form von Lebendigkeit? Ist Flüchten eine Form von Zooming?
In Abwandlung eines Gedankens von Charles Bernstein: Poetry is to the interpretation what a body is to a cemetery.
In Abwandlung oder Übersetzung eines anderen Gedankens von Charles Bernstein: If sheltering refugees is not directed to the goal of deciphering a fixed, credible, graspable meaning, but rather encourages performing and responding to overlapping meanings, then difficulty is transformed from obstacle to opening. 

Peter Waterhouse, März/April 2013, aus Alexandra Millner und Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2018

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