Philippe Soupault: Bitte schweigt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Philippe Soupault: Bitte schweigt

Soupault/Soupault-Bitte schweigt

ZU VERMIETEN
für Philippe Soupault

Die Sonne schläft vor der Tür
rechts oder links
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazur gleichen Stunde
erhebt sich der Wind
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakommt die Nacht

aaaaaaaaaaaaaaaaaaEINTRITT FREI

Die Wolken ertrinken im Spiegel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf allen Etagen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalle Wände haben Ohren
ganz in der Nähe
die Bäume haben Halsketten aus Schreien
die Augen am Himmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverliert man den Kopf

aaaaaaaaaaaaaaaaaaLEBENSGEFAHR

 

 

 

Nachwort

Versammelt man die Werke Philippe Soupaults auf den Brettern eines Bücherregals, so stellt man fest, daß die Gedichte nur einen geringfügigen Teil davon ausmachen. Sie wurden 1973 bei Grasset in dem Band Poèmes et poésies (1917–1973) veröffentlicht, der 434 Seiten umfaßt. Vor nicht allzu langer Zeit vereinigte ein 124 Seiten starker Band einen Teil der verstreuten und vergessenen Gedichte, die im Lauf der Jahre in verschiedenen französischen oder ausländischen Zeitschriften erschienen waren: Poèmes retrouvés, 1918–1981, Lachenal & Ritter, Paris, 1982 (Wiedergefundene Gedichte). Man kann also sagen, daß sich fast die Gesamtheit der lyrischen Texte Philippe Soupaults in diesen beiden Büchern findet, denen man allerdings noch den Gründungstext der surrealistischen Dichtung von 1919, Les Champs magnétiques (Die magnetischen Felder), hinzufügen muß, den Soupault nach dem Prinzip der automatischen Schreibweise zusammen mit André Breton verfaßte.
Im Gegensatz zu den Gedichten überraschen die übrigen Publikationen Philippe Soupaults durch ihren Umfang und ihre Unterschiedlichkeit. Man bemerkt darunter an die zwanzig Romane, Erzählungen und Erinnerungsschriften neben etwa dreißig weiteren Veröffentlichungen, Essays und Abhandlungen, die Malern oder Schriftstellern gewidmet sind. Und allein schon die Rezensionen zum Thema Film machen einen Band von über 300 Seiten aus! Und wenn man die Stücke und Hörspiele, die Vorworte, Anthologien und Übersetzungen von Werken William Blakes und James Joyce’ hinzurechnet, kann man sich eine annähernde Vorstellung von der vielgestaltigen literarischen Tätigkeit dieses Autors machen.
Und dennoch stellen die Gedichte den Kern seines Werkes dar. Zu dieser Dichtung, die glühend und rein ist, wird Philippe Soupault unaufhörlich zurückkehren wie zu einer Quelle. Ich weiß nicht was aus mir geworden wäre, wenn ich die Dichtung nicht kennengelernt hätte, hat er irgendwo geschrieben.
Das Standesamtsregister von Chaville in der Pariser Banlieue erwähnt die Geburt von Philippe Soupault am 2. August 1897. Doch der Dichter wird erst zwanzig Jahre später zur Welt kommen. Tatsächlich finden wir bei ihm keine Spur von irgendwelchen Schriften, die vor dem ersten Gedicht lägen, das ihm im Februar 1917 auf dem Bett eines Lazaretts gewissermaßen ,diktiert‘ wurde. Daß diesem Eintritt in die Dichtung nichts vorausgeht, ist eine Besonderheit, die hervorgehoben werden muß, weil sich Soupault damit von der Mehrzahl seiner schreibenden Zeitgenossen unterscheidet, besonders von seinem Freund Aragon, der von Kindheit an frühreife literarische Versuche unternommen hatte.
Philippe wächst in der schalldichten Atmosphäre einer großbürgerlichen Familie auf, die er später ohne Selbstgefälligkeit in einem autobiographischen Versuch heraufbeschwört.

Meine Familie repräsentiert recht gut jene Bourgeoisie, die Frankreichs Stärke auszumachen scheint. Ich hege große Verachtung für diese Klasse der Gesellschaft und sehe mit Vergnügen ihrer langsamen Zersetzung zu, die nach meinem Ermessen zu langsam vonstatten geht… Diese Bourgeoisie gibt vor, sich auf zwei Prinzipien zu stützen: die Religion und die guten Sitten. In Wirklichkeit respektiert sie tatsächlich nur das Geld.1

Eine ruhige, wenn auch frühzeitig durch den Tod des Vaters verdüsterte Jugend, ein Seerechtsstudium ohne große Komplikationen. Schon in jungen Jahren erfaßt ihn die Leidenschaft für das Lesen, er verschlingt Reisebücher und Abenteuergeschichten, die Klassiker und schließlich die Werke der zeitgenössischen Autoren, besonders die André Gides. Doch nach dem Schock, den die Entdeckung Rimbauds bei ihm hervorruft, begeistert er sich in erster Linie für die Dichter des neuen Geistes: Reverdy, Cendrars und vor allem Apollinaire. Am Vorabend des ersten Weltkrieges erweitern zwei Auslandsreisen, 1913 eine nach Deutschland und 1914 eine nach England, den Horizont des jungen Mannes und schärfen seine Sensibilität. Bei der Berührung mit anderen Sprachen, mit anderen Landschaften wird ein Prozeß bei ihm ausgelöst. So beschreibt er in der Histoire d’un blanc die Erregung, die sich seiner bemächtigt hat:

Der Rhein hatte mich in Verwunderung versetzt. London riß mich zur Begeisterung hin. Der Hafen. Ich war völlig trunken. Ich wurde Dichter… Plötzlich, angesichts der Themse, die Frachtschiffe mit sich führte, begann mein Herz zu schlagen, eine Flut von Bildern strömte in mein Gehirn wie Blut. Eine Sekunde lang sah ich zweitausendfünfhundert Städte, einen großen Wald, Augen, vor allem aber Hände, die sich bewegten. Aus meinem Mund drängten sich die Wörter.

„Ich wurde Dichter“, stellt er im nachhinein fest. In Wirklichkeit wird das erste Gedicht erst drei Jahre später auftauchen. Auftauchen scheint das richtige Wort zu sein, wenn man sich auf die Erinnerung Philippe Soupaults an jenes Erlebnis bezieht. 1917 wird der junge Mann zum Kriegsdienst einberufen. Es bleibt ihm erspart, die Schrecken der Front zu erleben, aber kurze Zeit später sieht er sich infolge schwerer Erkrankung an das Bett eines Lazaretts gefesselt, Seite an Seite mit Verwundeten, die im Fieber phantasieren. An einem Februartag sieht er durchs Fenster zu, wie der Schnee fällt.

Ich weiß nicht warum ein Satz in meinem Kopf zu kreisen begann. Er summte wie ein Insekt. Er hörte nicht auf. So eine verfluchte Fliege! Das dauerte zwei Tage. Ich nahm einen Bleistift und schrieb den Satz auf. Da explodierte etwas, das ich nicht wiedererkannte.2

Soupault hatte sein erstes Gedicht geschrieben:

AUFBRUCH

Es ist Zeit
Adieu

Die Menge dreht sich im Kreis
hastig bewegt sich ein Mann
Die Rufe
der Frauen rings um mich her

und alle stürzen sich stoßen mich an
Während es Abend wird
ist mir kalt

Mit ihren Worten nehm ich ihr Lächeln fort

Für das Werk Philippe Soupaults stellt dieser kurze Text nur einen Aufbruch dar. Die Gedichte, die er in der Folgezeit schreiben wird, werden selbstverständlich verschiedene Register ziehen, angefangen von dem ungewöhnlichen Reiz der Chansons (1921, Lieder) bis zur Weite und Welthaltigkeit der von den schmerzlichen Erfahrungen des zweiten Weltkrieges gekennzeichneten Odes (1946, Oden) über das zerreißende Rezitativ der Sammlung Georgia (1926). Dennoch ist es jetzt schon möglich, bestimmte Eigenschaften der Dichtung Soupaults namhaft zu machen. Die erste ist das Thema des Aufbruchs, des Abschieds, auf das wir weiter unten zurückkommen werden. Selbstverständlich erkennt man das Fehlen der Interpunktion, den unregelmäßigen Zuschnitt der Verse, den Zufallscharakter des Reimes, all dies, was Soupaults Gedicht seinen Platz in der Modernität jener Jahre zuweist. Aber auch die Raschheit einer Schreibweise, die aller ,poetischen Kunstgriffe‘ entbehrt, die entwaffnende Frische des ersten Wurfs, der später weder Streichungen noch Selbstvorwürfe zuläßt, die Flüchtigkeit der Evokation, die zersplitterten Notate.

Der junge Mann schickt das Gedicht „Aufbruch“ an den Poeten, den er am meisten bewundert, Guillaume Apollinaire. Dieser bittet Pierre Albert-Birot, den Text im Märzheft 1917 seiner Zeitschrift Sic abzudrucken, und ermutigt Soupault, seine ersten Gedichte zu sammeln und veröffentlichen zu lassen. Er gibt ihm die Adresse eines Druckers. So erscheint einige Monate später das Heft Aquarium. Durch Vermittlung Apollinaires trifft Soupault mit Pierre Reverdy, Blaise Cendrars und Max Jacob zusammen. Im Laufe einer dieser Versammlungen im Pariser Café de Flore schließt er auch Bekanntschaft mit einem anderen ganz jungen Dichter, André Breton, der ihm seinerseits Louis Aragon vorstellt. Damit hat sich das Freundestrio formiert, das im März 1919 die erste Nummer der Zeitschrift Littérature herausgibt, die am Ursprung des dadaistischen und surrealistischen Abenteuers in Frankreich steht. Bald trifft Tristan Tzara aus Zürich ein, und auch Paul Eluard stößt zu der Gruppe. Alle diese jungen Dichter, die von dem gleichen Ekel gegen alle Reden und Redeweisen überschäumen, welche die gerade zu Ende gegangene Schlächterei gerechtfertigt oder glorifiziert haben, beginnen mit ihren unzähligen Aktionen und Provokationen. Ein wesentliches Kapitel der modernen Literaturgeschichte beginnt an dieser Stelle. Es ist so bekannt, daß wir hier darauf verzichten, es noch einmal abzuhandeln.

Doch halten wir uns noch einen Augenblick bei einem Foto auf, das in den diese Zeit behandelnden Büchern häufig reproduziert wird. Vor der Silhouette einer Kirche, die man kaum erkennt – denn Paris hat sich an diesem Apriltag des Jahres 1921 in einen kalten Nieselregen gehüllt –, haben sich elf junge Leute aufgestellt und schauen in das Objektiv eines Fotografen. Sie sind gut gekleidet, tragen ausnahmslos Krawatte oder Fliege, Hut und Spazierstock. Auf der rechten Seite des Bildes, neben dem Kleinen mit dem Monokel, steht einer, der die Gruppe zu überragen scheint; den Mantelkragen hat er aufgeschlagen. Es sieht so aus, als ob er sich etwas auf Abstand hält, offenbar wünscht er, daß der Fotograf mit seinem Bitte stillzustehen! bald zu Ende kommt. Denn das ist gewiß eine Anordnung, die Philippe Soupault (denn kein anderer ist der mit dem aufgeschlagenen Kragen) niemals hinnehmen kann.
Das Foto wurde anläßlich des ,Besuchs‘ der Kirche Saint-Julien-le-Pauvre aufgenommen, einer der zahlreichen öffentlichen Kundgebungen der dadaistischen Gruppe in Paris. Schon zwei Jahre später kommt es zum Bruch zwischen Tristan Tzara (dem Kleinen mit dem Monokel) und André Breton, den man ebenfalls auf dem Foto erkennen kann neben Benjamin Péret, Paul Eluard, Louis Aragon und ihren Freunden, Philippe Soupault ist bald erschöpft von dem Klima, das in der Gruppe herrscht, von den ständigen Zänkereien, die die endlosen Diskussionen in den Pariser Cafés unterbrechen. In seinem ersten Roman Le Bon Apôtre (1923, Der Heuchler) spielt er darauf an:

Auf den Bänken räkeln sich Dichter, die sich wie Lumpensammler katzbalgen… Ich langweile mich furchtbar, und immer mehr. Es ist jedesmal das gleiche; man trennt sich um sich wiederzutreffen, und umgekehrt. Man hat gar keine Zeit sich zu entzweien.

In den Gedichten, die er in jenen Jahren schreibt, ist die Besessenheit vom Gedanken des Aufbruchs, der Flucht, des Reisens ständig anwesend: „Züge pfeifen; der Zug wird gleich abfahren; ein Pfiff ein Peitschenhieb / die Schiffe würden die Anker lichten; In der Ferne der heulende Bahnhof; Laß sterben die die sich anklammern“ usw. usw. Schließlich schreitet er zur Tat und verläßt Paris, um durch die Welt zu fahren.
Aber zunächst ist er noch ein paar Jahre in Paris und schreibt und veröffentlicht kontinuierlich Lyrik, wie u.a. das Langgedicht „Westwego“ (1922), und zahlreiche Romane oder Erzählungen, darunter die bezaubernde Prosa Les Dernières Nuits de Paris (1928, Die letzten Nächte von Paris, deutsch von Ré Soupault, 1982), einen der schönsten surrealistischen Texte überhaupt. Soupault ruft auch die Zeitschrift La Revue européenne ins Leben und trägt dazu bei, Virginia Woolf, James Joyce, Hemingway, Gorki, Sternheim und noch zahlreiche andere große Auslandsautoren in Frankreich bekannt zu machen. Er trifft mit Thomas Mann und Heinrich Mann zusammen, und dieser skizziert die Gestalt Philippe Soupaults in seinem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung von dessen Roman Le Nègre (1927, Der Neger, deutsch 1928 und 1967):

So, Soupault, sehe ich Sie, schnell, leicht und mit erhobener Hand über einen Platz in Paris gehen. Die Autos stürmen von allen Seiten auf Sie ein. Sie erheben die Hand und kommen ohne Aufenthalt hindurch.

Im Jahr 1929 wird er Starreporter. Es beginnen Jahre unaufhörlicher Reisen durch alle Erdteile. Er veröffentlicht in dieser Zeit kaum. Allerdings schreibt er weiter Gedichte, und mit dem 1937 herausgegebenen Band Poésies completes, 1917–1937 (Sämtliche Gedichte) scheint er eine erste Bilanz zu ziehen.
Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges ist Philippe Soupault in Tunesien, wo er nach der Begründung von Radio-Tunis als Informationsdirektor für Presse, Rundfunk und Film tätig ist. Das Vichy-Regime, dem seine antifaschistischen Ansichten bekannt sind, entbindet ihn zunächst von seinen Funktionen, schließlich läßt es ihn verhaften und ins Gefängnis werfen. Als Soupault einige Monate später, nach der angloamerikanischen Truppenlandung in Nordafrika, freigelassen wird, gelingt es ihm, Algier zu erreichen. Bald darauf wird er von der provisorischen Regierung von France Libre beauftragt, das Netz der Presseagentur Agence France-Presse auf dem amerikanischen Kontinent neu zu knüpfen. Erst 1945 kommt er zurück nach Frankreich, und er vermerkt seine ersten Eindrücke in dem Journal d’un fantôme (1946, Tagebuch eines Phantoms), einem interessanten Text, der die Atmosphäre bezeugt, die in den ersten Monaten nach Kriegsende in Paris herrschte. Beispielsweise kann man folgendes darin lesen:

Bin einigen Leuten begegnet von denen ich weiß, daß sie berüchtigte Vichy-Anhänger waren. Sie laufen frei herum. Ich sehe sie an. Sie erkennen mich, aber sie tun so, als ob sie mich nicht sähen. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, scheint es ihnen an nichts zu fehlen und offenbar machen sie gute Geschäfte.

Bald danach nimmt er seine Reisetätigkeit wieder auf. Er führt Missionen im Auftrag der UNESCO aus. 1951 beginnt er beim Rundfunk zu wirken, er produziert u.a. zahlreiche Sendungen über die Dichtung. Er ist dort tätig bis zum Jahr 1977.
Lange Jahre war dem Dichter von vielen literarisch Interessierten zu wenig Beachtung zuteil geworden. Man begnügte sich damit, die Rolle hervorzuheben, die Philippe Soupault bei der Entstehung der surrealistischen Bewegung gespielt hatte. Aber die große Originalität und Bedeutung seiner Dichtung blieb für die neuen Generationen gewissermaßen verdeckt. Das erklärt sich zum Teil aus der Bescheidenheit dieses Mannes und der Ungezwungenheit, die er stets dem gegenüber an den Tag legte, was man eine literarische Laufbahn nennt. „Ich bin ein Mensch dem es lieber ist sich für einen Versager zu halten als für einen Star“, gestand er Serge Fauchereau, einem der Literaturkritiker, die dazu beitrugen, daß Soupault wiederentdeckt wurde, in dem Buch Vingt mille et un jours. Entretiens avec Serge Fauchereau (1980, Zwanzigtausend und ein Tag. Gespräche mit Serge Fauchereau). Seit Mitte der siebziger Jahre, als das Interesse für die literarischen Avantgarden der zwanziger Jahre wiedererwachte, konnte man eine Neubewertung von Philippe Soupaults Beitrag zur modernen Dichtung verfolgen. Eine der wichtigsten Zeitschriften für zeitgenössische Dichtung, die action poétique, widmete ihm 1978 mit einer Sondernummer eine freundschaftliche Hommage. Seine Bücher, die seit Jahrzehnten vergriffen waren, wurden in immer schnellerem Rhythmus neu gedruckt. Für das Fernsehen drehte der Filmemacher Bertrand Tavernier eine Serie von Gesprächen mit Soupault. In der Bundesrepublik Deutschland erschienen mehrere Übersetzungen, darunter eine Auswahl der frühen Gedichte, vier Romane und das Erinnerungsbuch Begegnungen in der Übersetzung von Ré Soupault und der Einakter Rendez-vous / Termin als zweisprachige Ausgabe.
Ganz besonders muß auf die Initiative des Gustav Kiepenheuer Verlages hingewiesen werden, der hier eine umfassende Auswahl der Gedichte Philippe Soupaults vorlegt, mit der die Entwicklung dieses bedeutenden Dichters von den noch vor dem Dadaismus liegenden Anfängen über die vorwiegend surrealistische Phase, die große existentielle und Antikriegsdichtung der dreißiger und vierziger Jahre, die Chansons und Odes der Nachkriegszeit bis hin zur beeindruckenden Altersdichtung der letzten Jahre erstmals in deutscher Sprache dokumentiert wird. So wird es möglich, in vollem Umfang die Stimme dieses Mannes zu vernehmen, der von sich gesagt hat:

Seltsamer Reisender Reisender ohne Gepäck…
… wer bist du o Pariser ohne Geduld…

Alain Lance, Nachwort

 

Philippe Soupault

Philippe Soupaults Dichtung, die hier erstmals in einem Überblick von den Anfängen bis zum Spätwerk in deutscher Sprache vorgestellt wird, ist authentisches Welt-Erleben, Welt-Erfahren. Dieser „Reisende ohne Gepäck“, dessen weitverzweigte Wege in die Welt immer zurück nach Paris führen, lädt uns ein, unser eigenes Gepäck abzuwerfen und dorthin zurückzukehren, wo die Zwänge der Alltagslogik nicht gelten, wo wir Träumer und Dichter sein dürfen.
Philippe Soupault, geboren am 2. August 1897, gehörte mit André Breton und Louis Aragon zu dem Freundestrio, das im März 1919 die erste Nummer der Zeitschrift Littérature herausgab. Sie stand am Ursprung des dadaistischen und surrealistischen ,Abenteuers‘ in Frankreich. Dem Experiment, einen surrealen Text zu schreiben, unterwarfen sich Soupault und Breton gemeinsam nach monatelangen Debatten über die Definition der Poesie, in denen sie vor allem die Werke Rimbauds, Lautréamonts und Apollinaires befragten. Ihre Überzeugung, daß Dichtung eine ,Befreiung‘ vom ,logischen Apparat‘ ist, eine Möglichkeit, ,dem Geist‘ eine ungeahnte ,Freiheit‘ zu gewähren, führte sie zu einer neuen Methode, der automatischen Schreibweise, mit deren Hilfe ,der Strom des sich selbst überlassenen Denkens‘ – seine Bilder, sein Rhythmus – notiert werden sollte. So entstanden die als erstes surrealistisches Buch in die Literaturgeschichte eingegangenen Magnetischen Felder, formte sich eine Dichtung, die die Grenzlandschaft zwischen Bewußtem und Unbewußtem, Traum und Wirklichkeit besiedelte, die ein Aufbruch ins ,Universum‘ war. Philippe Soupault trennte sich zwar früh von der Gruppe, aber niemals von seinen surrealistischen Dichterfreunden:

die Allee der Erinnerungen ist die eines Friedhofs
groß wie mein Leben ohne Mauern ohne Grenzen
Ich bleibe an jeder Wegkreuzung stehen
wo mich ein Freund erwartet der meinen Namen vergessen hat…

Gustav Kiepenheuer Verlag, Klappentext, 1989

Über dieses Buch

Die Auswahl umfaßt die Entwicklung dieses großen Dichters von den Anfängen noch vor dem Dadaismus über die vorwiegend surrealistische Zeit, die existentielle Dichtung der dreißiger und vierziger Jahre, die Chansons und Oden der Nachkriegszeit bis hin zum beeindruckenden Alterswerk der letzten Jahre.
Mit acht Reproduktionen von automatischen Zeichnungen und Autographen Soupaults.

Wunderhorn Verlag, Ankündigung (andere Ausgabe)

 

Lust und Frust des Lektors

(…)

P.S.: Aus Paris kam Mitte der achtziger Jahre ein Brief von Ré Soupault mit der Anfrage, ob der Nachdichter noch am Leben sei, der im Reprint des Europa-Almanachs von 1984 die Texte ihres Mannes Philippe Soupault übertragen hatte. Die Surrealisten seien ja außer diesem schon alle tot, und es wäre schön, wenn jener Nachdichter, Roland Erb, einen Band mit Gedichten von ihm herausgeben könnte. Was für ein Ruf, und dazu aus Paris! Es kam dann 1987 durch Vermittlung des französischen Pen und einer Pariser Stiftung tatsächlich zur Begegnung des Nachdichters mit dem letzten lebenden Surrealisten, der 1919 zusammen mit André Breton die Magnetischen Felder verfasst und damit eine gesamteuropäische Kunstrichtung begründet hatte. Und ich – wieso eigentlich ich? – durfte diese spannende Unternehmung als Lektorin begleiten. Das Buch von Philippe Soupault Bitte schweigt. Gedichte und Lieder mit Autographen des Dichters erschien 1989, in jenem Jahr, als mein Lektorat wegen „erschwerter Arbeitsbedingungen“ eine Kollektivprämie von insgesamt 300 Mark der DDR erhielt, als am 30.11. den Verlegern durch die HV die Abschaffung der Druckgenehmigung bekanntgegeben wurde – und als wir auf einmal mitten in Deutschland und im großen Europa angekommen waren.

Marga Erb, aus Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag (Hrsg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage, Ch. Links Verlag, 2011

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KalliopeFacebook
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDbInternet Archive +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Philippe Soupault spricht über den Surrealismus.

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