Q.G. Li: Buch des Himmels

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Q.G. Li: Buch des Himmels

Li-Buch des Himmels

D. CRONENBERG

Ich bin zerbrochen, in Stücke zersprungen… verbogen,
aaageschrumpft, abgeflacht… alle viere von mir
aaaaagestreckt

Wie eine Schneeflocke auf dem Fernsehschirm…

Hinter dem Vorhang ragen Gräten hervor.
Ich befinde mich in einem Fischmagen,
aaasowie auch das Zimmer, das auf die Verdauung wartet.

Bitte die Nacht herein.
Koste einen Happen übel riechende Luft.

Ich folge dem schiefen Schatten des Tisches,
aaader in die dunkle Hölle unter dem Bett klettert.
aaaStrichlinien aus den vier Ecken laufen in der Entfernung
zu einem Punkt zusammen.

Ich krieche der Kamera entgegen…
aaawie einen Spiegel betrachte ich sie und spreche zu ihr.

Das Gebäude beginnt den Anschein zu haben
aaawie Kaugummi gekaut zu werden.
Zwei trübe Fischaugen spenden sporadisch Licht;
aaaach deshalb… hat der Abendhimmel zwei Monde.
Zwischen unzähligen Bienenstöcken klebe ich
aaaan der Zimmerdecke und schaue hinab
auf einen entfernten, schwindenden Punkt.

Mein Blick fällt auf mein Abbild.
Tränen rollen leise meine Wange hinunter.
Gerade noch dem Tode geweiht nähere ich mich
aaaspinnengleich dem Ich im Fernseher
aaaund stoße ein fauchendes Kampfsignal aus.

Ich hänge einem anderen Ich gegenüber,
aaamit Tränen bombardiere ich tropfenweise seinen Körper.
Gleichsam attackiert er mit Tränen mein Gesicht.
Er ist zerbrochen, ich bin in Stücke zersprungen…
aaaer ist verbogen; ich bin geschrumpft,
aaaer ist abgeflacht… ich strecke alle viere von mir;
aaaer klammert sich mit Tränen an mein Herz.
Er ist zerbrochen, ich bin in Stücke zersprungen…
aaaer ist die Nacht; ich bin der Tag…
aaaer ist Frühling und Sommer; ich bin Herbst und Winter…

Bitte die Nacht herein;
das Licht im Fischmagen erlischt.

Ich schneide den Fernseher auf
aaaund beschichte sein schwarzes Herz mit frischer Farbe.

Übersetzung Lea Pao

 

D. CRONENBERG

Ich bin zerschmettert, zerschlagen,… verzerrt, zusammen-
aaagezogen, flach gemacht… alle viere von sich gestreckt.

Ich bin wie das Flimmern in einem Bildschirm…
Hinter Vorhängen ragen Fischgräten.
Im Fischmagen bin ich und warte darauf, dass
aaadieser Raum mit mir verdaut wird.

Lass die Nacht herein!
Koste einen Bissen der verrottend stinkenden Luft!

Ich folge dem geneigten Schatten des Tisches
aaaund krieche in die diffuse Hölle unter meinem Bett.
Die Linien der vier Wände und Ecken
aaaverlaufen in weite Ferne
und treffen sich in einem Punkt.

Ich robbe gegenüber der Kamera…
aaawie im Spiegel betrachte ich sie, spreche zu ihr.

Beginnend Gebäude gleich wie Kaugummi zu kauen.
Gelegentlich übergeben sich zwei blasse Fischaugen das Licht;
aaaalso… das ist, weswegen es jeden Abend
aaainsgesamt zwei Monde gibt.
In unendlichen Waben der Wespennester
klebe ich gerade an einem Gewölbe, und überblicke
einen fernen und verschwindenden Punkt.

Mein Blick fällt auf meinen porträtierten Körper.
Meine Tränen fallen ruhig.
Ursprünglich im Angesicht des Todes,
aaada konnte ich noch wie eine Spinne meinem
Selbst im Fernsehen gegenüberstehen,
aaaund es schreit: „ssss ssss“ – Kampfansage.

Ich hänge vor den Augen eines andren Ich und
aaamit einer Träne nach der anderen
bombardiere ich seinen Körper vernichtend.
Aber auch er, gleich wie ich setzt mit
aaaseinen Tränen zum Gegenangriff an.
Er zerschmettert; ich zerschlagen…
aaaEr verzerrt; Ich zusammenziehend;
aaaer sich flach machend… ich alle viere von mir streckend;
aaaer mit Tränen mein Herz ergreifend.

Er zerschmettert; ich zerschlagen… Er Nacht; ich Tag…
Er Frühling, Sommer; ich Herbst und Winter…

Lass die Nacht herein!
Licht stirbt im Fischmagen.

Ich schneide den Bildschirm auf –
aaaauf sein schwarzes Herz
aaaschmiere ich eine neue Schicht Farbe.

 Übertragen von Alexander Ludwig

 

 

 

Gemeinsames & Gemeintes

1. Ein Treffen
Ich saß an einem gusseisernen Tisch im schattigen Garten eines Kaffeehauses am Wiener Gürtel, als ich Q.G. Li letzten Sommer zum ersten Mal traf. Der Garten lag im Innenhof des Hauses verborgen und ich freute mich über seine Entdeckung, so unerwartet nahe an der Geschäftigkeit des Gürtels. Obwohl mir der Name und die Lage des Kaffeehauses nicht fremd waren und ich es in die Landschaft der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, einordnen konnte, nahm ich den Garten erst jetzt an diesem Nachmittag wahr. In dem Moment, in dem Q.G. Li durch die gläserne Türe in den Garten trat, erkannten wir uns.

2. Das Buch des Himmels
Das Buch des Himmels ist eine Sammlung von Q.G. Lis Gedichten, entstanden in den Jahren 2003 bis 2008 in Wien. Q.G. Li kam als junger Kunststudent in eine Stadt, die er als idyllische Kaiserstadt geprägt von Jugendstil, Klimt, Schiele und den Wiener Werkstätten kannte. Seine Ankunft bedeutete nicht nur die Auseinandersetzung mit Wien als nun realem Lebensort, sondern auch mit seiner eigenen Kunst, die er als „schmerzliche Wiedergeburt“ bezeichnet. Die in diesem Band gesammelten Gedichte entstanden unter dem Eindruck dieser Erfahrung. Die Wiedergeburt ist Zersplitterung und Zerstörung, die Erfahrung der Kälte und Einsamkeit, und sie ist auch die eigene Kunst im Schatten und Licht der Vorgänger zu betrachten. Derek Jarman, Jeff Buckley, Andy Warhol, Francis Bacon, Jean- Michel Basquiat – sie bilden ein (pop)kulturelles Kaleidoskop, durch das der Dichter seine künstlerischen Wurzeln sichtbar macht. „Ich suche einen Spiegel, in dem mein Spiegelbild mein Rücken ist.“ Manche erfordern einen tieferen Blick.
Der Maler und Dichter Q.G. Li knüpft in seinen Gedichten eine enge Verbindung zwischen beiden Künsten. Seine Sprache kreiert eine Wirklichkeit, in der verbale und visuelle Repräsentation sich ergänzen. Der perspektivische Blick des Malers beschreibt einen Fluchtpunkt in D. Cronenberg und zeichnet geometrische Formen und Linien in Tausend wiedergeborene Staaten. Gedicht für das Zimmer ist mehrfach mit Lis Kunst verwoben. Für seine Diplomarbeit konstruierte er eine lebensgroße Installation eines Zimmers, die durch ekphrastische Elemente des Gedichtes skizziert zu werden scheint. Zwei neuere Zeichnungen, die in diesem Band enthalten sind (Gedicht für ein Zimmer 1 und 2), erfüllen nicht die Funktion von Illustrationen oder ästhetischen Erweiterungen des Gedichtes, sondern erzeugen ein Zusammenwirken von Lyrik und Bild. Die Verflechtung öffnet so Leerstellen, die von Leser und Leserin ausgefüllt werden können. Eine weitere Art der Wechselbeziehung zwischen Text und Bild findet sich auch in Elementen konkreter Poesie in [Remix; Polsterlied] oder Zerfallen. Die Sprache ringt mit sich selbst, bis die Sätze zerfallen, die Wörter zersplittern und die Bestandteile der Schriftzeichen sich voneinander lösen.

3. Eine Übersetzung
Das Buch des Himmels ist eine zweisprachige Ausgabe, mit Gedichten Q.G. Lis und Übersetzungen aus dem Chinesischen ins Deutsche. Sie ermöglicht ein Nebeneinander von Gedicht und Übersetzung, ein trügerisches Lesen auf gleicher Augenhöhe. Die Übersetzung tastet sich an das Gedicht heran, respektvoll und manchmal dreist. Als Gedicht verkleidet verführt sie Leser und Leserin. Sagt sie dasselbe nur mit anderen Worten, auf eine andere Art? Die Ambiguitäten der chinesischen Sprache stellen die Übersetzerin vor eine Entscheidung. Zuweilen wird sie zur „traditrice“, wenn sie mit dem Gedicht zu verhandeln und Kompromisse zu schließen beginnt. Betrug, Verrat und Untreue. Zwischen Sinn und Ästhetik, manche Wahl schlicht aus praktischen oder ökonomischen Gründen, fein und grob zugleich.
Zur Übersetzung der Gedichte von Ungaretti notierte Ingeborg Bachmann „… dass man in der eigenen Sprache zuhause sein muss, um ein Gedicht von einem Ufer ans andre ziehen zu können“. Das Ziehen auf das andere Ufer ist Erkennen des Trennenden und des Verbindenden einander fremd scheinender Sprachen. Bei Benjamin ist das innerste Verhältnis der Sprachen, dass Sprachen einander nicht fremd, sondern in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.
Das Übersetzen der Gedichte aus dem Chinesischen ins Deutsche ist die Suche nach dem Gemeinten und dem Gemeinsamen. Die „Unmöglichkeit“ der Übersetzung liegt in ihrer Unvollkommenheit. Sie ist ständige Annäherung und Distanzierung, Momentaufnahme und Abbild ihrer Zeit. Das Zuhause der eigenen Sprache, es täuscht Geborgenheit vor – nicht zuletzt ist Übersetzen die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache. Das Übersetzen ist somit nicht nur Transfer, sondern zugleich Selbstreflexion.

Namen verleihen Namen
Namen europäischer und US-amerikanischer Künstler und Orte suchen Unterschlupf in chinesischen Zeichen – nicht aufspürbar mit Augen, denen das Chinesische fremd ist. Die Übersetzung bringt das Vertraute wieder zum Vorschein.
Die poetische Funktion von Namen in den Gedichten der Sammlung fordert die Übersetzung heraus. Die Transkription von Namen ins Chinesische kann dem Klang oder der Bedeutung nach erfolgen. Es ist üblich, nicht-chinesische Namen phonetisch zu übertragen. Derek Jarman wird zu délikè jiamàn, Jeff Buckley jiéfú bākèlì und so weiter. Der Titel des Gedichtes „N. Cage“ hingegen ist nicht die phonetische Transkription des Namens, N. (N. kaiqí), sondern der Bedeutung nach N. (N. lóngzi) gewählt – „N. Käfig“. Die deutsche Übersetzung muss zwischen der deutschen Bedeutung des englischen Namens des Schauspielers (Käfig) und der Beibehaltung des englischen Namens (Cage) wählen. Während die Identität des Schauspielers hinter „N. Käfig“ verschwindet, wird die Anspielung auf den Käfig durch „N. Cage“ verschleiert. „N. Käfig“ behält den Aspekt der unüblichen chinesischen Schreibweise bei, indem sie einen unüblichen deutschen Namen wählt. „N. Cage“ lässt weniger Ambivalenz zu, öffnet sich jedoch der englischen Sprachkomponente, die auch in anderen Gedichten bedeutsam ist. Der Titel des Gedichtes „Blue Blues“ lehnt sich phonetisch an den chinesischen Titel „bùlu, bùlusī“ an. Das chinesische Wort für „Blues“ ist seinerseits eine phonetische Transkription, in der das Wort für „blau/Blau“ nicht inbegriffen ist. Das deutsche Wort „Blues“ gleicht dem eingewanderten englischen Wort und verweist ebenso wenig auf die Farbe wie das chinesische Wort. Die Doppeldeutigkeit des englischen „blue“, verliert sich im Chinesischen und auch im Deutschen: dass ich blau bin macht mich nicht unbedingt zu einem Kind von Traurigkeit.

Interpunktion
Interpunktion im Chinesischen und Deutschen unterscheidet sich in Optik und Verwendung. Ein Punkt entspricht nicht immer einem Punkt: chinesische Auslassungspunkte bestehen aus sechs, deutsche aus drei Punkten. Der chinesische Punkt am Satzende ist ein Kreis, der deutsche tatsächlich ein Punkt.
Die Interpunktion in der Übersetzung entspricht den deutschen Satzzeichen und wurde mit wenigen Ausnahmen wie vom Dichter gesetzt beibehalten.

Plural/Singular
Die Unterscheidung von Plural und Singular erfolgt im Chinesischen durch Zählwörter, während das Nomen dabei unverändert bleibt. Aus einem Geliebten werden mehrere Geliebte, die mich mit einer oder mehreren Blumen beschenken.

Fußnoten
Du siehst mich nicht hinter Schriftzeichen und Symbolen. Die Übersetzerin verschwindet hinter Autor und Gedicht, eine Verführung die Erklärung schuldig bleibt.

Ambiguität
Fehlende Erläuterung wiederum erinnert an die Präsenz der Übersetzerin. Ambiguitäten werden durch die Wahl der einen oder anderen Bedeutung vernebelt oder verschwiegen. Island verbirgt den chinesischen Namen des Landes „Eisinsel“. Im Gedicht taucht das Wort zweimal auf, in der Übersetzung werden aus einem Wort zwei Wörter. Der Titel führt den Leser und die Leserin schließlich zur Eisinsel, die selbst eine Verbindung wieder herstellen müssen. Der englische Name des Landes wiederum, „lceland“, deutet auf das Eis, aber nicht auf die Insel Das englische „island“ hingegen führt zur deutschen „Insel“, oder umgekehrt: das deutsche „Island“ führt zur englischen „Insel“.

Unmöglichkeiten
In „Zerrichtung und Erstörung“ und „[Remix: Polsterlied]“ werden die Wörter selbst zum Gegenstand. Zerstörung errichten, Errichtung zerstören: die aus zwei Silben bestehenden chinesischen Wörter verwachsen ineinander und trennen sich, jede Silbe steht auch für sich selbst als Wort, ein Spiel zwischen Nomen und Verb. Die Übersetzung spiegelnder Satzkonstruktionen funktioniert in der deutschen Übertragung manchmal holprig, manchmal punktgenau.
Die zersplitternden Wörter in „[Remix: Polsterlied]“ lösen das Zeichen in seine Bestandteile auf. [Chinesisches Zeichen] (Fisch) und [chinesisches Zeichen] (frisch) teilen sich den Bestandteil [chinesisches Zeichen], woraus im Deutschen „Fisch“ und „frisch“ wird. [Chinesisches Zeichen] (rot) und [chinesisches Zeichen] (Arbeit) teilen sich [chinesisches Zeichen], im Deutschen dann „roter“ und „Broterwerb“.
Das Aufspalten und Zersplittern des chinesischen Wortes [chinesisches Zeichen], das eben das bedeutet, ist der rote Faden des Gedichts. Es spaltet sich in die einzelnen Bestandteile auf, bis zum letzten Strich. Herausgelöste Bestandteile stehen auch bedeutungsvoll für sich alleine. [Chinesisches Zeichen] wird [chinesisches Zeichen] oder [chinesisches Zeichen] und weiter zu [chinesisches Zeichen] zu [chinesisches Zeichen] und so weiter. In der Übersetzung wird daraus das Zersplittern und Spalten des Steins.

4. Ein Erkennen
Die Übersetzung sucht das Gemeinte und das Gemeinsame – sie findet sie in der fremden und in der eigenen Sprache.

Lea Pao, Vorwort

 

Identität im Spiegel der Übersetzung

(…)

Wenn man nun konkret über die Interpretation aus dem Chinesischem spricht, gibt es natürlich einerseits die offensichtlichen Quellen für Missverständnisse und Bedeutungsverluste, wie zum Beispiel Ausdrücke die (aufgrund ihres kulturellen oder mythologischen Kontextes) einfach kein Äquivalent in der anderen Sprache finden und aufwendiger Umschreibungen bzw. Beschreibungen und Erklärungen bedürfen. Anderseits gibt es allerdings auch noch die kleineren Tücken der chinesischen Sprache, die einem Sprachkundigem zwar gänzlich bewusst sind, aber erst auffallen sobald man beginnt den ersten Satz niederzuschreiben. Nämlich, dass im Chinesischen nicht klar an den Verben zwischen Personen (ich, du, er sie, es…), also auch Singular und Plural unterschieden werden kann, sofern das Subjekt nicht klar dargestellt wird. Des weiteren unterscheidet man im Chinesischen in der Regel nicht zwischen den verschiedenen Fällen, was einem spätestens bei längeren Objektkonstruktionen zum Verhängnis wird. Die Frage nach der Bezugsbestimmung einzelner Elemente wird zum Problem, wenn man die klaren, eindeutigen Strukturen der deutschen Sprache gewöhnt ist. So macht es einen großen Unterschied ob man Teile für „die eigene Seele“, „die Seele“, „eine Seele“, „seine Seele“, „ihre Seele“, „diese Seele“, „jene Seele“ … wieder zusammensetzt (siehe z.B. „Pulver und Staub“). Außerdem können oft einzelne Wortarten, wie Adjektive, Verben oder Nomen, wie auch die verschiedenen Zeiten nicht immer klar unterschieden werden, deren Stellung im Satz ergibt sich rein aus dem Kontext.
Als eine besonders interessante Problematik lässt sich das Gedicht „St. Sebastian“ diskutieren. Hier beginnt im Chinesischen jede Zeile mit dem Personalpronomen „ich“, nur die fünfzehnte, neunzehnte und zwanzigste Zeile beginnen mit dem Possessivpronomen „mein(e)“, welches im Chinesischen aus dem Pronomen „ich“ und einem „besitz anzeigenden Partikel zur Bindung von Attributen“ zusammen gesetzt wird. Das heißt, es handelt sich um zwei Schriftzeichen, von welchen das erste wiederum „ich“ ist, und nicht um ein einzelnes „Wortzeichen“ wie „mein(e)“ im Deutschen. Dadurch beginnt somit jede Zeile im Original mit „ich“, auch wenn dessen ursprüngliche Bedeutung eigentlich ,mein(e)“ wäre und so kommt es zu keinem Formbruch. In diesem Fall weicht die Übersetzung zugunsten des gesamten Erscheinungsbildes grammatikalisch leicht vom Original ab. Ähnliche syntaxbedingte Schwierigkeiten gibt es noch viele mehr. Durch abstrakte Konstruktionen bzw. Subjektverschiebungen (z.B. dem Wechseln der Subjektrollen in den einzelnen Versen) verkompliziert sich die Interpretation grammatikalisch schwieriger Stellen um ein Vielfaches.
Deshalb ist die Tatsache besonders wichtig, dass sich bei einer Übersetzung nicht nur zwei Sprachen treffen, sondern auch zwei Menschen (Kubin). Trotz Sprachverständnis und Theorie wird der Übersetzer spätestens nach dem ersten Treffen mit dem Autor feststellen, dass er gelegentlich vollkommen falsch lag. Bei Gedichten, besonders bei modernen und abstrakten, ist die Gefahr umso größer.
Nachdem ich bereits etliche Stunden mit diversen Wörterbüchern und Lexika über den Gedichten verbracht habe, stand das erste Treffen mit dem Autor an. Wir hatten bereits über komplizierte bzw. unklare Stellen erste Rücksprache per E-Mail gehalten, dennoch gab es zahlreiche Abschnitte mit großen roten Fragezeichen in meinen Skripten.
Bereits das erste textlich verfasste Gedicht der Sammlung, „Milch“, lies mich nicht schlecht staunen. Ich war mit meiner Version, sofern man das mit einer Übersetzung überhaupt sein kann, bereits sehr zufrieden. Bis auf einen Ausdruck, für den sich kein exaktes Äquivalent in der deutschen Sprache finden ließ (letzte Ruhestätte, siehe Fußnote im Text), war ich der festen Überzeugung den Autor richtig verstanden zu haben. Ich interpretierte die Zeilen in eine bestimmte Richtung und ließ mich dazu verleiten die wörtliche Bedeutung zu weit zu verlassen um möglichst ästhetisch zu übersetzen. Zudem besteht das Gedicht im Grunde aus „nur“ zwölf Zeilen und die Struktur lässt kaum Freiraum für grammatikalische Fehlinterpretationen.
Als ich allerdings mit Autor und Verleger begann die Verse zu besprechen, wurde mir schnell klar, wie falsch ich mit meinen Annahmen lag. Auch wenn mir Q.G. Li stets versicherte, wie zufrieden er mit meiner Arbeit sei, diskutierten wir über eben diese zwölf Zeilen eine gute Stunde. Ich musste das ganze Gedicht umschreiben.
Mir war klar, dass dieses Gedicht einer Interpretation des lyrischen Ichs bedurfte – es erschien mir viel zu naiv, gar absurd, es zu verstehen wie es da stand. Nämlich wie sich der Autor in die alltäglich Rolle von „Milch“ versetzt und genau aus diesem Blickpunkt schreibt, ohne auf irgendetwas anderes (was ja auch nicht dastand) anzuspielen. Während dieses Gesprächs hakte ich oft nach, doch der Autor bestand drauf: „Ich bin halt einfach Milch! Ist das denn so schwer zu verstehen? Außerdem scheint es, als hättest Du Dir bei manchen Gedichten während des Übersetzens deutlich mehr gedacht als ich beim Schreiben!“
Zu Beginn dieser Diskussion war es für mich schwer zu verstehen, da mir viel daran lag die Inhalte möglichst sinnvoll für den deutschen Leser zu übertragen. Doch nach einer Stunde erkannte ich an dem Gedanken „einfach Milch zu sein“ nichts absurdes mehr und dachte mir, es könnte nicht schaden den eigenen Blickwinkel auf bestimmte Themen zu überdenken…
Des Weiteren gab es in der ersten Zeile noch einen kleinen Diskussionspunkt, nämlich „die Erschließung des Himmels“. Ein Begriff, der sich im Chinesischen aus dem Verb „öffnen“ und dem Nomen „Himmel“ zusammensetzt und dadurch für jedermann klar verständlich schien, oder!? Wie weit die gegebene Übersetzung von dem liegt, was der Q.G. Li ursprünglich ausdrücken wollte, blieb ungeklärt. Der Ausdruck spielt jedoch wahrscheinlich nicht auf eine religiöse Bedeutung in unserem Sinne an. Ähnliche Unklarheiten gibt es aufgrund der grammatikalischen Beschaffenheit der chinesischen Sprache, sowie den Unterschieden in Kultur und Mythen recht oft. In diesem Fall einigten wir uns schließlich auf „Erschließung des Himmels“. Einige Verse später wurde ich, trotz wiederholter Rücksprache mit mehreren Muttersprachlern, dann noch Opfer einer weiteren Tücke des Chinesischen, namentlich der uneindeutigen Unterschiede zwischen Adjektiv und Nomen. So heißt es „Reinheit die Zeit einer Existenz aufbringend“ und eben nicht, wie ich annahm „rein die Zeit einer Existenz aufbringend“.
Missverständnisse wie diese zogen sich durch den ganzen Übersetzungsprozess und es gab kaum Gedichte, mit denen jeder auf Anhieb einverstanden war. Doch eben genau diese Unklarheiten machen den Reiz der literarischen Übersetzungsarbeit aus und streichen hervor, wie wichtig es ist sich mit dem Autor nicht nur auf dem Papier zu befassen. Die Gespräche nach Abschluss der Übersetzungen nahmen fast so viel Zeit in Anspruch wie die eigentliche Übersetzungsarbeit.
Neben offensichtlichen Widersprüchen in der sprachlichen Übertragung stand natürlich auch stets die Frage des Stils im Mittelpunkt. Q.G. Li tendiert in seinen Gedichten eher zu einer dezenten, schlichten Sprache mit einer klaren Linie (wenn sie auch für den Leser oft nicht als solche zu erkennen ist), während ich mich in meiner Übersetzung oft zu eher grotesken Formulierungen hinreißen ließ.
Ich habe den persönlich Eindruck, in meiner Übersetzung eine emotionale, oft leicht melancholische Note getroffen zu haben, die im Original nicht unbedingt gegeben ist. Der Autor tendiert dazu Fantastisches, Wunderliches und Erschreckendes zu beschreiben und er spüren zu lassen, während sich meine Interpretation stärker an Letzteres anlehnt.
Diese Form des Beschreibens und Abbildens hängt auch eng mit den anderen künstlerischen Tätigkeiten des Autors zusammen, namentlich der Malerei, und seinem starken Interesse an Theater und Film. So wies mich Q.G. Li während unserer Sitzungen oft darauf hin, mir gewisse Szenen bildlich bzw. filmisch vor Augen zu führen. Darüber hinaus ziehen sich Räume oder räumliche Vorstellungen wie ein roter Faden durch die Gedichtsammlung. Der Autor schuf und verwendete hierfür auch eigene Wörter, die buchstäblich soviel wie „Schachtel“ oder „Box“ bedeuten, sich aber als solche bedingungslose räumliche Konstanten nicht klar interpretieren oder übersetzen lassen (vgl. z.B. „N. Käfig“ und „Pulver und Staub“). In den ersten Versuchen wurden diese Begriffe von mir nicht selten übertrieben im Sinne von „Sarg“ o.ä. interpretiert, konnten jedoch nicht den damit eigentlich verbundenen Vorstellungen des Autors gerecht werden, der wertfreien Darstellung einer räumlichen Dimension. Eines meiner Lieblingsgedichte dieser Sammlung, „Zimmer“ – das mir auch nach mehrmaligem Lesen wie aus der Seele geschrieben scheint, in dem für mich das Zimmer, der Raum klar eine emotionale Metapher, ein Gebundensein, das keinen Ausweg zulässt, darstellt – ist allerdings laut Autor ebenfalls „nur“ eine unmissverständliche Anlehnung an die räumliche Begrenzung und das damit verbundene Nichtauskönnen. Allein dieses Beispiel zeigt, wie vielfältig die Interpretation von Q.G. Lis Gedichten sein kann, je nachdem aus welchem Blickpunkt man sie betrachtet. Weitere Beispiele für ähnliche Symbole wären „Käfige“, „Gefäße“, „Rahmen“ etc. Im Gegensatz dazu werden jedoch auch oft bewusst „form- und raumlose“ Begriffe gewählt, wie z.B. Nebel, Wasser, Dunkelheit etc.
Diese räumlichen Komponenten und das Verschieben der Perspektiven lassen nach genauerem Lesen auch auf einen Identifikationskonflikt schließen, der sich nicht nur zwischen Ost und West äußert (da der Autor in seinen Gedichten Eindrücke aus seinem Leben im Osten wie auch im Westen verarbeitet), sondern auch in der Art und Weise seiner Abbildungen und Projektionen Widerhall in den Theorien Jacques Lacans findet. Besonders erwähnenswert sind an dieser Stelle auch die Gedichte, in denen jede Zeile mit einem „Ich-Bezug“ beginnt. Etliche Spiegelungen und Verzerrungen im Wasser, auf glatten Oberflächen, in Objektiven, auf Filmen, in zerbrochenen Spiegeln oder Blicke durch Verpackungen und Fenster weisen auf die komplexe Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, dem Akteur und dem Beobachter und dem sich Selbsterkennen und sich Selbstgegenüberstehen in den Gedichten hin. Aus diesen Ansätzen des Strukturalismus lassen sich auch die ständig auftretenden Zerlegungen in einzelne Bestandteile und das Neuzusammensetzen mancher Gedichte erklären. Viele der beschriebenen Szenen und der damit ausgelösten Emotionen wiederholen sich oft nicht nur im Laufe der einzelnen Gedichte, sondern ziehen sich durch die ganze Sammlung. Um den Kreis zu schließen, merkte Q.G. Li selbst an, dass gewisse Gedichte als Collage oder Pop-Art zu verstehen sind.
Neben dieser Form der Wiederholungen stellt sich nach genauerem Lesen noch eine weitere Regelmäßigkeit ein. Freud definierte Wiederholungen und Regelmäßigkeiten als Qualität des Wiedererkennens oder Wiederfindens, das wiederum stets als Quelle von „Lust“ und Freude dient. Je komplexer der Aufwand ist, der angestellt werden muss um dieses Altbekannte erneut zu entdecken, desto größer ist der damit verbundene Lustgewinn. So habe ich oben bereits Q.G. Lis klare Linie erwähnt. Nichtsdestotrotz gibt es in fast jedem Gedicht einen Satz der sich nicht in das passende und, vor allem, regelmäßige Schema des restlichen Gedichts übersetzen ließ. Anfänglich machte ich meine eigene sprachliche Inkompetenz, besonders in Bezug auf meine Muttersprache, das Deutsche, dafür verantwortlich. Mir wollte einfach kein passendes Wort einfallen um das Gedicht abzurunden und die Regelmäßigkeit zu erhalten. Auch diverse Synonymwörterbücher halfen nicht. Mit jedem neuen Vorschlag schien der Autor weniger zufrieden. Er versicherte mir immer wieder im Chinesischen hieße es nun mal so. Worauf ich mir stets insgeheim dachte: „Das weiß ich selbst, aber es lässt sich einfach nicht in ein ,schönes‘, ,flüssiges‘, ,rundes‘ Deutsch übersetzen!“ Kurz vor Abschluss der Arbeit, konnten wir dieses Missverständnis doch noch aus der Welt schaffen. Des Rätsels Lösung sind schlichtweg durchdachte und beabsichtige Formbrüche und vorsätzliche Fehler (z.B. bewusst falsch verwendete Schriftzeichen, Komponenten oder Formulierungen), die in so gut wie jedem Gedicht auftreten und von Q.G. Li als persönliche Art Zynismus verstanden werden. Diese Formbrüche stellen einerseits das „Zerstören“ von Regelmäßigkeit dar, andererseits „erbauen“ sie komplexere neue Regelmäßigkeiten, die „wiedergefunden“ werden können, und repräsentieren die Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit als auch das Aufbrechen verkrusteter Betrachtungsweisen.
Das Werk Q.G. Lis kann kaum als literarisches allein verstanden, sondern muss stets unter Berücksichtigung anderer Kunstrichtungen wie Malerei, Darstellender Kunst, Film und Musik betrachtet werden. Das Gedicht „Remix“ versucht sich zum Beispiel mit Mitteln der Wiederholung, des Verdrehens und Verschiebens sowie des Neuzusammensetzens an moderne elektronische Musik anzulehnen, wobei hierbei die bildliche Dimension von besagter Pop-Art verlassen wird. An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass bei der gesamten Übersetzung musikalische oder klangspezifische Eigenheiten der chinesischen Sprache (verschiedene Tonlagen, Silben etc.) zugunsten des Inhalts größtenteils vernachlässigt wurden.
Sowohl die ständige Bezugnahme auf räumliche Elemente und deren formlose Gegenpole, das Sichspiegeln und sich Selbstgegenüberstehen, das Zerbrechen und Zerreißen, das Verzerrtwerden, das Verschieben von Blickwinkeln und Subjekten, die beabsichtigten Formbrüche und Fehler, sowie das Wiederkehren, die Widersprüche und das Einfließen des „Ich“, dies alles stellt den Bezug zur Identitätsfrage auf emotionaler Ebene her. Das Nichtauskönnen, das bloße Zusehen, die häufigen Passivkonstruktionen allgemein und die Beschreibung von Orten, Räumen, Gebilden als auch von Opfern, Märtyrern und Sterbenden oder Traum- bzw. Film- und Theaterszenen lassen auf einen Übergriff der räumlich und gesellschaftlich „realen“ Konstante in Hinblick auf die emotional „irreale“ Ebene der Identifikationsproblematik schließen. So werden gewisse Gegebenheiten eher von ihren äußeren Umständen beschrieben und definiert als von deren inneren Gefühlswelt. Doch gerade die Widersprüchlichkeit und das immer wiederkehrende Aufbrechen dieser klaren Trennungen, dem Dazugehören und Abgrenzen, auch durch klare Formulierungen von eigentlich abstrakten Gegebenheiten, führt oft zu einem Verschmelzen dieser verschiedenen Ebenen. So zeigt sich, dass man der eigenen Identität und der Identifizierung durch andere(s) und sich selbst nicht entkommen kann. Q.G. Li gelingt es in seiner Gedichtsammlung gekonnt dies aus verschiedenen Blickpunkten zu betrachten und stellt gezielt neue Perspektiven vor.
Abschließend hoffe ich, mit dieser Übersetzung einen spannenden Einblick in die sensible, vielschichtige Gedankenwelt des Autors, sowie in die Komplexität der modernen chinesischen Lyriksprache mit all ihren Raffinessen und Wortspielen gewähren zu können, ohne dabei das Original zu sehr zu verschleiern. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für die anregende Zusammenarbeit und wünsche dem Leser neue Denkanstöße und viel Vergnügen.

Alexander Ludwig, Vorwort

 

Q. G. Li: Buch des Himmels mit Musik von Aphex Twin.

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