Rainer Kirsch: Ausflug machen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rainer Kirsch: Ausflug machen

Kirsch-Ausflug machen

LIED DER KINDER
für Herburger

Hu, auf zu den Sternen!
Im Weltall ist es kalt.
Man sieht keine Fernen.
Es lebt kein Wald.

Man denkt, man steht still.
Dabei rast man in Eile.
Man wollte, was man will.
Das ist die Langeweile.

Auf einem Stern steigt man aus.
Die Erde ist weit weg.
Der Stern sieht grau aus.
Er ist aus Eisen und Dreck.

Der Weltmolch sagt: Ich fresse
Die Langeweile und die Geschwindigkeit.
Ich verdaue und presse
Heraus kommt die Zeit.

Zwischen hinten und vorn
Denkt man sich eine Mitte.
Was ist, ist schon verlorn.
Ach, hätte man das Dritte.

Durch die schmale, die Spalte
Rutscht man, kann sein, zurück.
Die Erde wäre die alte.
Das wäre Glück.

 

 

 

„Wem schon gelingen mehr als dreißig

wirklich große Gedichte?

Schon zehn sind viel“ hatte Rainer Kirsch, nach Rilke gefragt, zu bedenken gegeben. Den strengen Maßstäben, die er an die Arbeiten anderer legt, unterwirft er auch die eigene Produktion.
Dieses Buch enthält Gedichte, die seit der ersten Lyrikpublikation Rainer Kirschs, Gespräch mit dem Saurier (Berlin 1965 zusammen mit Sarah Kirsch) entstanden sind und vom Autor für gültig angesehen werden. Es sind rund 60. In ihnen erweist sich der Schriftsteller wie in den Essays, die wir 1979 vorlegten, ein weiteres mal als scharf folgernder Poet, der sich mit der „Zärtlichkeit des Intellekts“ bewußt in den Dienst der, freilich weit verstandenen, Aufklärung stellt. Kirschs Bemühungen galten und gelten dem widerspruchsvollen moralischen Profil des heutigen Menschen. Die Gedichte, in der Mehrzahl verstreut bereits veröffentlicht, sind Bild- und Ortsbeschreibungen, sie würdigen historische Persönlichkeiten, es sind Parabeln, philosophische Texte, Lehr- und Scherzgedichte; lapidare Formulierungen in epigrammatisch knapper und treffender Spruchdichtung wechseln mit genußvoll sich ausbreitender Rede und sinnlichen, manchmal übermütigen Versen.

Hinstorff Verlag, Klappentext, 1982

 

Denkanstöße in Versen

– Ausflug machen — Lyrikband von Rainer Kirsch. –

55 seiner Gedichte aus den Jahren 1959 bis 1979, in der Mehrzahl bereits verstreut veröffentlicht, wählte Rainer Kirsch (Jahrgang 1934) für das Bändchen Ausflug machen (75 Seiten, 5,- Mark) aus, kürzlich im VEB Hinstorff Verlag Rostock erschienen. Parabeln, philosophische Texte, Lehr- und Scherzgedichte, epigrammatische Spruchdichtung und sinnliche Verse wechseln dann einander ab. Welche Form Kirsch auch wählt, sein Generalthema ist das widerspruchsvolle moralische Profil des heutigen Menschen.
In der Grundhaltung erinnern die besten dieser Verse an Volker Brauns Gedicht „Anspruch“, 1965 in dem Band Provokation für mich publiziert und mit der Aufforderung beginnend: „Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.“ Verstanden wurde und wird das von vielen Lyrikern der heute mittleren Generation als Aufruf an die Literatur, insbesondere an die Lyrik (als eine Gattung, die zwar die vielfältigen dialektischen Bezüge der gesellschaftlichen Entwicklung im einzelnen Gedicht nur sehr begrenzt berücksichtigen kann, mit der sich aber am schnellsten und unmittelbarsten zu unliebsamen oder neuen Erscheinungen der Realität Stellung beziehen läßt), einzugreifen ins lebendige Leben, bei der Auseinandersetzung mit Konflikten nicht abzuwarten, bis ihre Lösung durch die Gesellschaft bereits in Sichtweite ist.
Wie Volker Braun, von dem er sich freilich durch ein völlig anders geartetes künstlerisches Temperament und persönliches Naturell unterscheidet, will auch Rainer Kirsch Denkanstoße geben und Vorschläge machen zum Verändern und Überwinden von Zuständen, die als unbefriedigend empfunden werden. Kirsch stellt sich dieser Herausforderung besonders augenscheinlich mit den Mitteln der offenen bzw. hintergründigen Ironie, die wiederholt in Töne einer Resignation übergeht, die betroffen machen: z.B. in „Aufschub“ (1971), „Notiz zu Chile“ (1974), „Soziologie des Witzes“ (1976). Das trifft auch zu für den Text „Empfang in meiner Heimatstadt“ (1964), der mit seiner Stoff-Fülle den Rahmen eines Gedichtes sprengt und zur Form der satirischen Prosa bzw. des Kabarett-Sketches drängt. Sich in dieser Richtung zu versuchen – das beweisen andere Arbeiten des Autors –, sollte Kirsch ermuntert werden.
Man mag gegen einige Gedichte Kirschs einwenden, ihr resignativer Ton stehe uns schlecht an aber ein „Ausflug“ im Sinne des Titelgedichtes, das dem Gedenken an die Opfer von Buchenwald gewidmet ist, hält eben nicht nur Angenehmes bereit. Der Rezensent meint, auch aus eigener Erfahrung heraus, daß Resignation auf die Dauer nur den lähmt, der sich in ihr vergräbt und einigelt, der sich mit seinen Nöten vor der Umwelt verschließt. Resignation niedergeschrieben, ausgesprochen, der Mitwelt mitgeteilt – das vermag schon Voraussetzung zu sein für ein Fünkchen Hoffnung, daß das seelische Tief überwindbar wird durch Zuspruch, durch einfühlsamen Widerspruch, durch echten Dialog. Den sucht auch der Autor mit seinen Lesern.
Die Ankündigung im Klappentext, Kirsch habe hier jene Gedichte ausgewählt, die ihm heute noch als gültig erscheinen, wird je nach Lebens- und Literaturerfahrung sowie persönlichem Temperament bei den Interessenten auf unterschiedliche Resonanz treffen. Wenn aber dieser Band seine Leser zum Dialog im obigen Sinne anregt, dann hat Kirsch schon einiges bewirkt.

Alfred Eckelmann, Neue Zeit, 4.5.1981

 

Gespräch mit Rainer Kirsch

– Das folgende Gespräch führte Anthonya Visser am 3.7.1990 in Berlin mit Rainer Kirsch. –

Anthonya Visser: Obwohl die aktuelle Situation spannend ist und wir darauf sicher noch zu sprechen kommen, möchte ich zunächst einmal ein wenig in die Vergangenheit zurückgehen. Sie haben in einem anderen Interview gesagt, daß Sie 1958 angefangen hätten, Gedichte zu schreiben. 1961 gehörten Sie zu denjenigen, die an Hermlins berühmtem Lyrikabend in der Akademie der Künste teilgenommen haben. Danach entstand die sogenannte Lyrikwelle in der DDR. Obwohl Sie in Auftakt 63 und Auswahl 64 mit jeweils zwei Gedichten vertreten waren, dauerte es noch bis 1965, bis Ihr erster Gedichtband, den Sie zusammen mit Ihrer damaligen Frau Sarah gemacht haben, erschien: Gespräch mit dem Saurier. Hatten Sie schon vorher versucht, einen eigenen Band zu bekommen, und warum entstand dieser eine Band für zwei Lyriker, die, obwohl verheiratet, doch ein unterschiedliches lyrisches Temperament besaßen?

Rainer Kirsch: Ich habe nicht versucht, vorher einen Band zu bekommen, ich hatte zu wenig eigene Gedichte. Der andere Grund war, daß man in der damaligen Lyrikwelle öffentliche Auftritte hatte, da sind wir bekannt geworden, Sarah und ich, immer zusammen, als das dichtende Ehepaar. Das ist auch gut zum Fotografieren.

Visser: Sie waren aber mit diesem gemeinsamen Band einverstanden?

Kirsch: Ja, natürlich, sonst hätten wir ihn ja nicht gemacht. Im Unterschied zu umlaufenden Vorstellungen: Die Zensur schlug manchmal Änderungen vor, aber man selber hatte immer die letzte Entscheidung. Dann konnte es sein, daß das Ganze nicht gedruckt wurde. Es wurde aber nie ein Text gedruckt, mit dem man nicht einverstanden war.

Visser: Hermlin wurde wegen dieses Lyrikabends stark kritisiert. Nachher wurden ähnliche Abende von der F[reien] D[eutschen] J[ugend] organisiert. Wer traf dabei die Entscheidung, welche Dichter eingeladen wurden, und waren da bestimmte Themen vorgegeben? Wie wurden diese Auftritte organisiert?

Kirsch: Hermlin wurde kritisiert, auch einzelne junge Dichter, darunter ich. Aber man konnte sich damals noch öffentlich wehren. Es gab also eine Polemik. Die FDJ hat das damals auffangen wollen, damit nicht der Eindruck entstand, hier sind womöglich Dissidenten am Werk. Vielmehr wollte man zeigen: das sind eben junge Leute, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Das waren zum Teil sehr große Lesungen. Ich erinnere mich an eine, da müssen wenigstens zwanzig Leute auf der Bühne gewesen sein. Themen wurden nicht vorgegeben. Das war eher der Fall bei Wettbewerben, etwa für Maler. Die sollten irgend ein bestimmtes Sujet darstellen. Nein, die FDJ sprach die Einladungen aus, wir reichten Texte ein, und dann wurde entschieden, ob wir lesen durften, was wir wollten, oder das eine ja und das andere nein. Dann gab es Verhandlungen, zum Teil sehr langwierige, erstens über die Texte, zweitens über Personen. D.h. wir sagten, ihr müßt den und den auch einladen. So war das.

Visser: Diese Abende fanden im ganzen Land statt?

Kirsch: Im ganzen Land ist übertrieben. Es gab einen großen in Berlin, und einzelne in Bezirksstädten, die kleiner besetzt waren.

Visser: Und wieviel Zuhörer kamen?

Kirsch: Da kamen viel. Das Auditorium maximum in Berlin war einmal überfüllt. Das war die erste große Lesung nach dem Hermlinabend. In Halle, erinnere ich, war eine Lesung mit Dichtenden aus dem Bezirk – die DDR war ja schon in Bezirke aufgeteilt. Ja, da werden 400 bis 500 Leute gewesen sein. Das hatte natürlich auch den Reiz des Neuen. Es verlief dann im Sand, vielleicht auch ganz im Interesse der Organisatoren… Der Reiz des Neuen ging weg. Außerdem wurden wir bald selbstbewußter und sagten, ohne dieses Gedicht lesen wir nicht. Es gab also Querelen… Von beiden Seiten bröckelte das weg – ich glaube, ohne administrative Grundsatzentscheidung. Es ergab sich so.

Visser: Der Niederschlag dieser Abende waren dann die bis heute alle zwei Jahre erscheinenden Auswahl-Bände, angefangen mit Auftakt 63. Haben alle Dichter, die darin aufgenommen sind, auch gelesen, und umgekehrt, waren alle, die gelesen haben, auch in Auswahl vertreten?

Kirsch: Die Abende waren der Anlaß. Beim ersten Band mag es so gewesen sein, daß alle auch gelesen hatten. Nachher war das Konzept dieser Auftakt-Bücher einfach, junge Leute vorzustellen.

Visser: Das war, nachdem die Abende nicht mehr stattfanden. Jedoch bei Auswahl 64 und 66 muß es noch Lyrikabende gegeben haben. Wissen Sie noch, wie es da war?

Kirsch: Nein, ich habe mich auch im einzelnen nicht darum gekümmert. Wir waren zwanzig Lesende beim ersten großen Abend, in Halle dann vielleicht sieben. Was in den anderen Bezirken vor sich ging, hätten wir wissen können, aber wir waren mit anderem beschäftigt. Wir hatten zu dichten.

Visser: Und die Texte, die z.B. von Ihnen aufgenommen sind, konnten Sie die selber vorschlagen?

Kirsch: Wenn ich recht erinnere, bekam man sie vorgeschlagen, aber ich hätte sie auch selber vorschlagen können. Vermutlich gab es beides. Bei einem schlug der herausgebende Lektor vor, und bei dem anderen… Sicher konnte man dann verhandeln. Der Lektor mußte dann ja noch mit der Verlagsleitung einig werden, die Verlagsleitung mit dem Zentralrat der FDJ… und mit der Zensur vom Ministerium. Langwierig, aber für uns war es wichtig, auch in so einem kleinen Bändchen vertreten zu sein. Es war die erste Publikation. Auch wenn bloß zwei Gedichte darin standen.

Visser: Als Sie dann 1963 anfingen, am Literaturinstitut Joh. R. Becher zu studieren, hatten Sie also schon als Lyriker Ihre Erfahrungen gemacht. Außerdem hatten Sie schon Kinderhörspiele geschrieben und als Nachdichter gearbeitet. Betrachten Sie das, im Vergleich zu späteren Studenten des Instituts, die solche Erfahrungen ja in einem viel geringeren Maße hatten, als einen Vorteil oder gerade nicht?

Kirsch: Es gab auch Mitstudenten, die geringere Erfahrungen hatten. Wir waren ein sehr kleiner Jahrgang von zehn oder zwölf. Sarah und ich waren sozusagen die renommiertesten. Ich glaube nicht, daß es da Eifersucht gab, ich habe es jedenfalls nicht so empfunden.

Visser: Was war das Besondere an Georg Maurer als Lehrer, bei ihm hatten Sie ja das Poetikseminar?

Kirsch: Seine Belesenheit und seine Geduld, seine Orientierung aufs Klassische, auf Weltliteratur. Er besprach z.B. Gedichte von Studenten, machte das aber so: War das Gedicht gut, zerlegte er es und erklärte, warum es gut sei und welche Traditionen es da gab. Also, wenn das Gedicht über eine Eiche ging, dann brachte er klassische oder romantische oder expressionistische Texte mit, in denen Eichen vorkamen. War das Gedicht schlecht, dann las er es bloß vor. Wenn eine Pferdemähne darin vorkam, dann hatte er fünf oder acht Gedichte bei der Hand, in denen Reittiere erwähnt waren, und ließ sich über das Anlaß-Gedicht gar nicht aus. Man hat immer gelernt dabei. Und es ging immer vollkommen ohne Demütigungen, auch wenn jemand einen mißglückten Text vorlegte.

Visser: Ist diese Zeit am Literaturinstitut für Sie, für Ihren weiteren Entwicklungsgang, wichtig gewesen?

Kirsch: Wichtig, weil ich Ruhe hatte zu lesen. Ein Unterrichtsfach hieß Klassische deutsche Literatur. Da bekam man Pflichtlektüre, den Wilhelm Meister, Die Leiden des jungen Werthers und den Faust. Das war sehr nützlich. Entweder man hatte es noch nicht gelesen oder man las es eben noch einmal. Das ist in dem Alter, mit knapp dreißig, fast wie neu lesen. Man hatte Zeit und ein bescheidenes, nach damaligen Maßstäben aber ordentliches Stipendium. Sarah und ich konnten diese zweieinhalb Jahre davon ganz bequem leben. Wir konnten nebenbei auch schreiben, waren aber keinem finanziellen Druck ausgesetzt. Wir konnten so lange an einem Text arbeiten, bis er uns fertig dünkte. Das ist ja ganz wichtig für Anfänger: daß man nicht gehetzt wird und zum Pfuschen getrieben wird. Es etabliert sich die Gewohnheit, einen Text zu Ende zu arbeiten.

Visser: Sie haben also die Dichter-Kollegen, die zu dem gehörten, was später Endler ,die sächsische Dichterschule‘ nannte – z.B. Bernd Jentzsch, Volker Braun, Karl Mickel usw. –, nicht am Literaturinstitut kennengelernt?

Kirsch: Nein, das hatte mit dem Institut nichts zu tun, außer daß wir uns – zum Teil eher symbolisch – auf Georg Maurer beriefen. Es haben sich ja Leute Maurer-Schüler genannt, wie Mickel und Braun, die gar nicht am Literaturinstitut gewesen sind. Maurer-Schüler, weil Maurer der Mann war, der darauf bestand, man muß die deutsche Klassik kennen. Nicht nur die deutsche, auch Shakespeare usw., aber die deutsche Klassik sozusagen als Pars pro toto. Man muß alle Traditionen kennen.

Visser: Und daran haben Sie eigentlich auch Ihr Leben lang festgehalten…

Kirsch: Das haben wir – ich jedenfalls – mit einem gewissen Mißtrauen zunächst zur Kenntnis genommen. Dann ließ man sich darauf ein und sah, der Mann hat recht. Wir sind alle – vielleicht mit Ausnahme von Czechowski – in der poetischen Redeweise oder im Textbau überhaupt nicht von Maurer beeinflußt. Nur in dieser Grundhaltung, die jeder einzelne freiwillig angenommen hat. Und dann, das ist ja bei solchen Schulen so, bildet sich ein Kern, und man bestätigt einander. Nicht indem man des anderen Text immer schön findet, sondern indem man sich einig weiß, es ist nötig, Goethe zu lesen. Oder Klopstock, oder Shelley und Keats. Das heißt, es entsteht eine positive Rückkopplung. „Du findest Schiller langweilig? Lies mal ,Der Antritt des neuen Jahrhunderts!‘“ usw.

Visser: Wenn Sie sich nicht am Literaturinstitut getroffen haben, wie sind sie dann überhaupt zusammengekommen?

Kirsch: Zuerst durch die Lesungen. Da sah man sich das erste Mal. Ein bißchen auch durch den Schriftstellerverband, der machte gelegentlich eine Lyrik-Tagung. Sonst einfach durch sympathetische Anziehung. Man besuchte einander.

Visser: Es war kennzeichnend für diese Generation, nicht wahr?

Kirsch: Ja, das war natürlich auch den Verhältnissen geschuldet. Ganz oben saß Übervater Staat und hat gegrummelt und herumgemault und manchmal gemotzt und geprügelt. Das einigt ja. Nicht in dem Sinn, daß man einen Umsturz wollte, sondern daß es ja wohl so nicht ginge, wie die offizielle Literaturpolitik…

Visser: Im Prinzip hatten es doch die, die nach Ihnen kamen, auch mit diesem Übervater Staat zu tun?

Kirsch: Ja, nur hatte meine Generation in einem Punkt Glück. Endler ist 1930 geboren, Jentzsch 1940, Gosse 1938. Das ungefähr ist die Spanne. Wir hatten als Kinder den Krieg erlebt, und wir hatten den Umbruch erlebt im Stande der Unschuld. Wir hatten weder Anteil an der Naziherrschaft, noch mußten wir lügen, wenn wir meinten, die Hitler-Ära war böse und ungerecht, aber was nun kommt, das ist neu. Und gut. Das konnte man erst einmal mit zwölf oder vierzehn leicht akzeptieren. Es haben ja Ältere geglaubt, daß Stalin ein im wesentlichen edeldenkender und gerechter Politiker sei. Wir mußten nicht als Heranwachsende schon lügen oder zynisch werden. Das ist ein Geschenk der Geschichte.

Visser: Obwohl Sie einmal gesagt haben, daß Ihr Weltbild nach Stalins Tod sozusagen…

Kirsch: Ja. Das brach zusammen. 1953 starb Stalin, das erschien mir damals als etwas ganz Bedrohliches. Da war ich achtzehn. Und das Weltbild brach dann 1956 zusammen, nach dem XX. Parteitag, mit den Enthüllungen über Stalin. Aber dieses Hineinwachsen, oder Hineingetriebenwerden, in die Erkenntnis ging vor sich im Stande der Unschuld. Es ist ein ungeheurer Vorteil für jemanden, der sich entwickelt, wenn er sich nicht von vornherein auflehnen muß gegen schauerliche Ungerechtigkeiten, sondern sich eine Weile eins glaubt mit dem Gang der Geschichte in Richtung Humanität.

Visser: Das wäre dann der Unterschied zur nächsten Generation?

Kirsch: Die spürten schon als Kinder, mit diesem Sozialismus ist doch wenig los. Wir haben natürlich auch gemerkt, daß da doppelt geredet wurde, aber in den entscheidenden Entwicklungsjahren sind wir nicht gebrochen worden. Und als man dann später bewußter wurde, konnte man sagen, na schön, es gibt aber die sozialistischen Ideale. Wir hatten ja unseren Marx gelesen. Das haben die später gar nicht mehr gemacht. Die haben bloß die Parteibeschlüsse… Wir haben Marx und Hegel und die klassische deutsche Philosophie noch gelesen und nicht vor lauter Ekel weggeschmissen. Wir hatten irgendeinen sicheren Grund und jedenfalls ein Ideal. Wenn das dann in der Wirklichkeit nicht anzutreffen war, dann packte uns kein Grauen, sondern man grub allmählich tiefer und sah, zu allen Zeiten hat es, wenn es gut ging, Ideale gegeben, aber die Wirklichkeit war immer ziemlich mies. Es gibt einen Aufsatz von Mickel zu Schillers „Bürgschaft“, in seinem Band Gelehrtenrepublik, der überhaupt nicht zu überschätzen ist, weil er dieses Bewußtsein formuliert.
Außerdem hatte die Sächsische Dichterschule das Glück, daß zwei bedeutende Dichter, die nur wenige Jahre älter waren, sich an der klassischen Tradition orientierten: Heiner Müller – ich meine nicht seine Agitprop-Stücke, sondern das, was dann kam, etwa Philoktet – und Peter Hacks. Da konnte man lernen, was der deutsche Blankvers zu leisten imstande war. Die Feuilletons schwatzen ja immer von Innovation. Jede Generation müsse ihre Innovation haben, ob in Poesie oder Malerei oder Baukunst, sonst sei es nichts. Eine wirkliche Innovation, die bloß kaum jemand bemerkt hat, ist die Aufrauhung und Geschmeidigung des deutschen Blankverses nach 1945 auf dem Gebiet der DDR. Fürs Drama haben das im wesentlichen Müller und Hacks gemacht, die anknüpften an Brechts Leben Eduard II. von England. Für das Gedicht hatte das allein Rilke angefangen, in den großen ,Requiems‘ 1907/08. Aber Rilke hatte die Errungenschaften des Expressionismus nicht zur Hand. Die hatten wir, wir kannten alles von Georg Heym und van Hoddis. Und lasen natürlich die neuen Theaterstücke, eben Heiner Müller und Hacks. Wir hatten also, außer miteinander befreundet zu sein, auch etwas technisch Innovatives zu leisten für die Poesie. Etwas, das die neuen Gehalte, die wir im Sinn hatten, erst hervorzubringen erlaubte. Das ist auch ein Glücksfall, das gibt es nicht immer. In Westdeutschland hat sich die Poesie anders entwickelt. Da wußten die klassischen Leute, also Bachmann, Rühmkorf, Enzensberger, noch, was ein Vers ist. Die nächsten wissen das überhaupt nicht mehr.

Visser: Oder wissen es, aber möchten nicht daran festhalten. Es wäre doch durchaus möglich, daß sie einfach einen Schritt weitergehen?

Kirsch: Einen Schritt vom Vers weg? Wohin denn? In die Leere.

Visser: Sie würden das denn auch nicht akzeptieren in bezug auf die Dichter der sogenannten Prenzlauer-Berg-Gruppe, die jetzt zum Teil einen Band in Außer der Reihe beim Aufbau-Verlag erhalten?

Kirsch: Ich habe Sympathie für sie, aber ich sehe nicht, daß Bedeutendes herauskommt. Ich will mich freuen, wenn ich mich irre. Zwei Dinge fehlen. Erstens das, was ich genannt habe Identifikationsmöglichkeit im Stande der Unschuld, in der entscheidenden Lern-Zeit. Die waren mit zwölf schon zynisch. Das ist nicht so gut für ein Talent. Naivität und Neugier bekommen dem erst einmal besser. Ein bißchen Zynismus braucht jeder, aber der wächst von selber. Außerdem ist Zynismus eine Verteidigungs-Haltung, Neugier hingegen selbstbewußt, und Dichten verlangt Selbstbewußtsein. – Zweitens wollten die Prenzlauer-Berg-Leute nicht wissen, was ein Vers ist. Alle Tradition war suspekt. Die haben z.B. dadaistische Techniken verwendet, ohne zu wissen, daß es den Dadaismus gab. Sonst hätten sie das nicht so vortragen können. Wenn man Schwitters kennt, dann macht man derlei eben anders, dann stößt man sich auch ab von ihm. Im täglichen Leben kann es nützlich sein, das Fahrrad noch einmal zu erfinden, in der Poesie ist es vertane Mühe.

Visser: Das kann doch auch ein ganz bewußter Bruch sein.

Kirsch: Es kann. Sie können tausend Brüche machen, die Frage ist letztendlich, was herauskommt. Meine Überzeugung ist, daß man die gesamte Tradition zu kennen habe, und dann kann man in Kenntnis der Tradition einen Bruch machen. Wenn Sie Picasso nehmen, der konnte selbstredend Adler naturähnlich malen und Körper und alles Sichtbare. Es war sein freier Entschluß, kubistisch oder gelegentlich noch abstrakter zu malen, sein Entschluß. Wenn einer aber keine Adler malen kann und gleich anfängt, abstrakt zu malen, habe ich Bedenken, ob er wirklich frei sei. Er hat ja dann keine Wahl.

Visser: Tradition ist Ihnen wichtig. Sie haben aber auch immer wieder, von Das Wort und seine Strahlung bis zu Ihrer Rede auf dem letzten, außerordentlichen Schriftstellerkongreß im März dieses Jahres, unterstrichen, daß zum Schreiben Heiterkeit gehört und daß der Autor ein kindliches Gemüt besitzt. Warum finden Sie dieses, wie es anderswo bei Ihnen heißt, Spielerische so wichtig, und wo, würden Sie sagen, zeigt es sich in Ihren Werken?

Kirsch: Ich habe einmal, aus Interesse, versucht, Philosophie zu studieren. Ich bin dann geschmissen worden von der Uni, aber mich hat Philosophisches immer interessiert, d.h. ich habe mir angewöhnt, wenn mir etwas klar schien, noch ein Stück weiter zu fragen.

Visser: Sie wurden hinausgeworfen, weil Sie Bloch gelesen haben?

Kirsch: Nein! So schlimm war es nun auch nicht. Nein, ich hatte Gedichte an einer Wandzeitung veröffentlicht, über Nacht kam der Ungarn-Aufstand, und die Gedichte wurden nun ganz anders gelesen. Dann kam noch eine Liebesaffäre hinzu; Affären wurden damals, ich war ja Parteimitglied, bierernst genommen. Und eine mir innewohnende Zweifelsucht, wie man damals sagte. Ich habe versucht, wenn ich eine endgültige Antwort zu haben schien, die möglichen Gegenargumente selber zu finden. Ich sehe das als Höflichkeit an, andere Menschen nicht zu belästigen mit etwas, das ich mir selber erklären kann. Wenn ich einen Essay schreibe, suche ich alle Gegengründe, entweder sie leuchten mir ein oder leuchten mir nicht ein. Ich erspare so dem, der liest, Arbeit. Der soll dann das fünfte Gegenargument finden, auf das ich nicht komme. Was für ein Abenteuer, wenn er es fände!

Visser: Und was das Spielerische betrifft…

Kirsch: Es gibt, glaube ich, zwei Sorten von Schriftstellern. Die einen haben einen Gegenstand, und dann entscheiden Sie sich für eine bestimmte Behandlung, eine poetische Strategie, und bauen ihren Text. Die anderen sind von einem Gefühl übermannt, haben gewisse Schreibfertigkeiten und schreiben los. Ich gehörte unbedingt zum ersten Typ. Autor I mag das Betrüblichste auf der Welt schildern, er wird gleichwohl nicht heulen, wenn er seine Wörter wählt, denn das stört bei der Arbeit. Typ II arbeitet sozusagen unter Zähneklappern und Schimpfen, er ist fortwährend beleidigt, was ja die Klarheit des Kopfes beeinträchtigt. Einem Professionellen, in meinem Verständnis, bedeutet der Text die Welt, ist es aber nicht. Das ist das Spiel-Moment. Man muß, was man sagen will, auf die bestmögliche Weise sagen. Dazu braucht man natürlich Urteilsfähigkeit, Abstand. Insofern ist das Spiel, und in allem Spiel wohnt Heiterkeit. Auch wenn es um tiefernste Dinge geht.

Visser: Es ist jedoch nicht so, daß dieses Spiel oder diese Heiterkeit dem Leser genauso viel Spiel oder Heiterkeit bedeutet?

Kirsch: Dem Leser vielleicht in geringerem Maße. Das kommt auf seine Schulung an. Nehmen Sie ein von Trauer durchwebtes Musikstück, z.B. den Mittelsatz aus dem Italienischen Konzert von Bach. Der ist ganz, ganz langsam. Da ist natürlich der, der es hört, leichter ergriffen – Bach will ja ergreifen an dieser Stelle – als der, der es macht. Der es macht, muß nämlich die Harmonielehre beachten und das Verhältnis zum ersten Satz und muß wissen, wie lang er etwas dehnen kann, ohne daß der Punkt der Langeweile kommt. Darin ist etwas Spielerisches. Und gleichwohl, wenn Sie all die Trauer und Gehaltenheit hören, die in der Musik ist, werden Sie danach vermutlich innerlich gelöster, heiterer sein.

Visser: In Das Wort und seine Strahlung – das ja einerseits eine Theorie des Übersetzens darstellt, zum anderen aber auch eine Art Poetik ist – heißt es, daß der Übersetzer übersetzen soll und nicht interpretieren. Obwohl Sie gleich danach darauf hinweisen, daß der besondere grammatikalische Bau einer Sprache Interpretation unumgänglich macht, entsteht in gewissem Sinne ein Widerspruch zu der von Ihnen festgestellten Mehrdeutigkeit der Poesie. An anderer Stelle sprechen Sie von Untertexten… Kann eine Übersetzung diese Mehrdeutigkeit, so wie sie im Original erscheint, beibehalten?

Kirsch: Schwierig, das kurz zu beantworten. Der Übersetzer soll übersetzen und nicht interpretieren, das ist eine Grund- und Ehrenregel. Dazu muß er die poetische Mitteilung des Originals verstehen, mindestens erahnen. Aber diese Mitteilung ist überaus komplex. Man hat einen Text, der einen Untertext sowohl verbirgt als auch darbietet, sei es durch Traditionsbezug oder den angeschlagenen Ton oder durch die Mehrdeutigkeit eines Wortes… Es ist da Vieldeutigkeit, aber eine gebündelte, gerichtete. Selbst wenn gleichzeitig etwas und das Gegenteil gemeint ist, ist da Bündelung im Semantischen und im Grundgefühl. Der muß man möglichst nahe kommen. Mehr wird man nicht erreichen bei Gedichtübertragungen. Andererseits „gewichtet“ man natürlich dabei, legt mehr Wert auf das eine als auf das andere, und das ist schon Interpretation.

Visser: Ihrer Meinung nach ist es ein wichtiges Prinzip für einen Dichter, an der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit festzuhalten. Hat diese Wahrheit etwas mit Weltbild zu tun oder mit Utopie? Wie ist diese Wahrheit beschaffen?

Kirsch: Zunächst, Wahrheit ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Wenn jemand nicht einigermaßen wahre Urteile über das, was außerhalb seiner ist, hat, dann funktioniert das nicht, womit er umgeht oder was er herstellen will. Für den Dichter, glaube ich, ist wichtig, daß er sich bemüht, Wahrheit, so gut sie zu haben ist, zu bekommen. Aus möglichst vielen Gebieten. Das schließt ein, daß er auch Methodenkritik lernt. Für seine Grundbefindlichkeit entscheidend ist aber Wahrhaftigkeit. Das heißt ja nichts anderes, als von seinem gegenwärtigen Kenntnisstand über die Welt auszugehen. Einem Kenntnisstand, den zu erweitern er sich bemüht hat. Man kann ja wahrhaftig sein und sagt trotzdem etwas Falsches. Man irrt sich dann, man weiß über einen Sachverhalt nicht genau Bescheid. Aber man lügt nicht innerlich, drückt nichts weg. Mit Weltbild kann das zu tun haben, indem ein Weltbild bestimmte Einsichten womöglich ausschließt. Das wäre dann das, was man Vorurteil nennt. So, um wahrhaftig zu sein, muß man auch gegen eigene Vorurteile andenken und das, was man für gesichert hält, gelegentlich überprüfen. Das würde ich zur Wahrhaftigkeit rechnen. Aber es ist Goethe nicht anzulasten, daß er eine andere Meinung von der Farbenlehre hatte als Newton. Im übrigen ist Wahrhaftigkeit eine Voraussetzung, aber keine Garantie für gute Dichtung. Es gibt andere Voraussetzungen, etwa die, daß ich die Traditionen gut kenne und die eigene Muttersprache, daß ich neugierig bin und ein musikalisches Ohr habe, und daß ich halbwegs im Trockenen sitze. Ich meine, es gibt äußere Bedingungen, unter denen kann man auch nicht dichten.

Visser: Wie Sie unter den jetzigen Umständen nicht dichten können?

Kirsch: Ach – das war ein bißchen rhetorisch gesagt und bezog sich auf das Verfertigen von Poesie. Für den Entschluß, mich hinzusetzen und Gedichte zu schreiben, brauchte ich mehr äußere Ruhe und Gelassenheit als für den Entschluß, ich mache jetzt einen Essay. Wenn ich ernstlich gewollt hätte, hätte ich vermutlich auch Gedichte schreiben können. Es war mir nur anderes wichtig. Im Februar, als ich das sagte, war mir einigermaßen verwunderlich, wie manche Leute auf den Berufsstand hier, zu dem ich ja gehöre, also auch auf mich, meinten eindreschen zu müssen. Inzwischen habe ich da eine dickere Haut. Es waren überraschende Schläge, und das seelische Immunsystem hatte sich darauf noch nicht eingestellt.

Visser: Die Art und Weise, wie die DDR-Autoren von der Kritik in der Bundesrepublik behandelt werden, ist jedoch nicht unwichtig, zu einer Zeit, in der die materiellen Bedingungen sich im Vergleich zu früher erheblich verschlechtern…

Kirsch: Da kommen zwei Dinge zusammen. Man weiß nicht, wie es wirtschaftlich weitergeht, und man hatte erwartet, daß sich alles, was die Literaturszene hier betrifft, normalisieren werde. Wir haben doch – obwohl und weil es uns egal war, was die Zensur sagte – geschrieben im Bewußtsein, daß ein Text auch verboten werden konnte. Ich glaube, es war ein Teil der Leistung der guten Leute hier, daß es uns spätestens ab 1965 egal war, wird etwas gleich gedruckt oder nicht. Man entschloß sich zu einem Text, und machte den, wie er zu sein hatte. Dann sah man zu.

Visser: Aber man schreibt doch auch für ein Publikum?

Kirsch: Ja, ja. Aber das Publikum gibt es auch noch in zwanzig Jahren. Das war unser, oder jedenfalls mein, Produktionsbewußtsein. Ich habe meine Texte so zu machen, daß sie auch noch in zwanzig Jahren etwas mitteilen. Womöglich auch in fünfzig oder hundert Jahren.

Visser: Wenn ich aber an „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“ denke, ist das auch ein sehr aktueller Text.

Kirsch: Auch aktuell. Wenn er aber – 1973 war die Veröffentlichung hier in der Zeitschrift Theater der Zeit – bloß aktuell gewesen wäre und taugte jetzt nichts mehr, wäre ich eigentlich froh, daß er nicht auf die Bühne gekommen ist. Dann müßte ich mir sagen, lieber Freund, du hast etwas gemacht, was nicht von Dauer ist. Das ist betrüblich, aber es ist so.

Visser: Ich denke jedoch, so einen Text schreibt man nicht in der Hoffnung, daß er vielleicht in zwanzig Jahren einmal gelesen wird.

Kirsch: Klar hofft man, er wird gleich gelesen. Und begriffen, und die Leute rezitieren einander die besonders gelungenen Stellen. Aber daß etwas im Schreibtisch blieb, ist vielen im Lauf der Weltgeschichte passiert, ohne daß sie sich aufgehängt hätten oder in Heulen ausgebrochen wären. Ohne Wette auf die Nachwelt dichtet niemand.

Visser: Dann sagten Sie, daß Sie hofften, daß sich das normalisieren würde…

Kirsch: Ja, ich bin unrettbar naiv. Ich dachte, daß all das, was an Ideologie auf uns hereingeprasselt ist – trotz des dicken Fells ärgert es einen ja doch immer wieder –, nun vorbei wäre. Statt dessen kam es fast wörtlich – wörtlich! – wieder, bloß aus einer anderen Ecke. Der gleiche Blödsinn, die gleichen Vokabeln. Das Wort „Intellektueller“ als Pejorativ. Das „unerträgliche Selbstwertgefühl“, das die hiesigen Dichter hätten; vermutlich sollen wir endlich gefälligst katzbuckeln. Buchstabengetreu das alte Shdanow-Wort „Die Intellektuellen haben sich vom Volk getrennt“. Als sei es nicht historisch überaus selten, wenn Intellektuelle einmal den Wünschen einer Mehrheit Sprache geben, und als seien Wünsche von Mehrheiten nicht oft irrational. Willy Brandt hat auf einem kürzlich stattgefundenen Kolloquium in Potsdam-Cäcilienhof das Wort „Intellektuelle“ glänzend übersetzt; er sprach von der „Minderheit der Denkwilligen im Lande“. Niemand hat das aufgegriffen, obwohl es doch die Sache trifft. Und nicht nur die alten Schimpfwörter kommen wieder, sondern auch die alten Töne und Methoden. Etwa die, ein literarisches Werk rein politisch zu beurteilen, nach dem politischen Inhalt, und wenn das nicht reicht, nach der angeblichen politischen Haltung des Autors in der Vergangenheit.

Visser: Wie das bei Christa Wolf passiert ist.

Kirsch: Bei Christa Wolf, bei Heiner Müller und bei anderen. Man nennt jemanden „Staatsdichter“ oder „insgeheimen Staatsdichter“, und schon muß man seine Texte nicht mehr lesen, man weiß ja Bescheid. Sogar der alte Shdanow, Stalins Schwiegersohn und Chefideologe und ein Erzschurke und Mördergehilfe vor dem Herrn war da, entschuldigen Sie schon, gebildeter. Der wußte, ob Balzac nun Royalist war oder nicht, tat das doch seiner wahrhaftigen Schilderung der bürgerlichen Gesellschaft keinen Abbruch. Nun ist diese analytische Schilderung sicher nicht Balzacs einziges Verdienst, aber nebenbei hat er sie auch geleistet. Selbst derlei Differenzierung ist nun weg. Oder, ein anderes Beispiel zu nehmen: Oscar Wilde. Zu seiner Zeit galt es als nicht gesellschaftsfähig, schwul zu sein. Wilde war aber bisexuell, und kam dafür ins Zuchthaus. Was hat das mit dem Wert oder Unwert seiner Dichtungen zu tun? Weckherlin, ein ganz ordentlicher Barockdichter, war sogar Doppelagent; er hat sich von zwei militärischen Parteien für Spionage bezahlen lassen. Wir lachen heute darüber, lesen seine Gedichte und finden sie gut oder weniger gut. Stellen Sie sich vor, damals hätte es eine Presse gegeben und die Gedichte wären unter dem Gesichtspunkt der Doppelagententätigkeit moralisch bewertet worden. Das fänden wir mit Recht ignorant; aber vor der gleichen Sorte Ignoranz schlagen viele heute wieder die Hacken zusammen. Also, wir müssen uns gewöhnen, daß es das neu gibt, und eine neue Resistenz dagegen entwickeln. Aber ein bißchen Ekel packt einen schon dabei.

Visser: Was haben Sie sich in diesem Zusammenhang von dem Entwurf zur Kulturunion vorgestellt, der von den Künstlerverbänden gemeinsam formuliert, als Beitrag zum zweiten Staatsvertrag gedacht war?

Kirsch: Das hat mit literarischer Produktion nur insofern zu tun, als es um deren Rahmenbedingungen geht. Ich habe mit dem Vorsitz des Schriftstellerverbandes ja ein politisches Amt auf mich genommen, d.h. ich habe die Interessen eines Berufsstandes zu vertreten. Der Entwurf sollte gewährleisten, daß auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Kunst unter halbwegs annehmbaren Bedingungen noch stattfinden kann. Er ist ja aber vom Tisch.

Visser: Wollten Sie überhaupt Vorsitzender werden?

Kirsch: Keinesfalls. Ich wollte in den Vorstand, um mich dort um soziale Belange zu kümmern, die mir gefährdet schienen. Dann zogen sich Kollegen, die vom Namen her geeigneter gewesen wären für den Vorsitz, zurück. Wenn Sie wollen, bin ich also meinem staatsbürgerlichen Gewissen gefolgt. Viel geholfen hat das dem Berufsstand auch nicht. Den Schriftstellerverband der DDR wird es vermutlich nur noch bis Jahresende geben, oder ein paar Wochen länger. Das ist eine politische Entscheidung der regierenden Koalition, die als finanzielle Entscheidung kaschiert wird; damit spart man sich die politische Diskussion. Man habe, sagt man, kein Geld; man hat für die Nationale Volksarmee, die nichts zu verteidigen hat als ihre Planstellen, vier Milliarden.

Visser: Würde damit auch die N[eue] D[eutsche] L[iteratur] eingehen?

Kirsch: Die NDL kann ohne Subvention nicht leben, das kann keine Literaturzeitschrift, auch im Westen nicht. Womöglich übernimmt sie der Aufbau-Verlag – solange es den gibt. Wichtig wäre das, weil die NDL tut, was andere Zeitschriften nicht tun; jede von den besseren – ob Merkur, ob Transatlantik – hat ja ihre Eigenheiten und ihren Stil. Die NDL stellt vor allem Autoren aus der ehemaligen DDR vor und will ihr Konzept auf österreichische und Schweizer Literatur erweitern, auf die Rand-Deutschen sozusagen. Sie ist übrigens durchaus lesbar und hat kenntnisreiche Redakteure; es wäre betrüblich, wenn sie, nun, da sie endlich von Restriktionen frei ist, einginge. Vor allem wenn man ein Dezennium weiterdenkt. Da wird man dann vielleicht nach Beschreibungen fragen, die nur hiesige Autoren liefern können. Oder hätten liefern können.

Visser: Wir haben schon kurz das Thema berührt, was es heißt, wenn bestimmte Werke nicht publiziert oder aufgeführt werden können…

Kirsch: Das muß nicht unbedingt Zensur-Gründe haben.

Visser: Sondern?

Kirsch: Ein bedeutender Mann wie Hacks hat sich 1976 gegen Biermann ausgesprochen, und zwar nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung. Kaum jemand hat seine Überzeugung geteilt, auch ich nicht. Aber seither werden seine Stücke kaum mehr gespielt. Später, in Hacksens Balladen-Buch, steht dann der Satz, die beste Ballade der letzten dreißig Jahre stamme von Wolf Biermann; das hat dann schon niemand mehr zur Kenntnis genommen. Er ist also auch aus politischen Gründen vom Theater-Markt weg, ohne daß das jemand angeordnet hätte. Das hat ihn aber nicht gehindert, weiter zu schreiben, Dramen, Essays, Kinderbücher. Die staatliche Zensur ist ein Selektionsmechanismus unter vielen, vermutlich der einzige, der abzuschaffen geht. Es gehört schon zum Beruf, weiterzumachen, auch wenn man aktuell nicht aufgeführt wird.

Visser: Bei Ihnen hat es außerdem dazu geführt, daß Sie nach dem „Schlaghand“ aus der Partei ausgeschlossen wurden.

Kirsch: Stimmt; im nachhinein betrachtet war das übrigens gar nicht so schrecklich. Es ersparte mir zwei Versammlungen im Monat, die mich jedesmal in einen Zustand ärgerlicher Betrübnis versetzten. Womöglich kommt aber bald schon jemand und sagt, ich hätte mich 1973 ausschließen lassen, um 1990 gut dazustehen.

Visser: Aber trotzdem, von sich aus hatten Sie die Mitgliedschaft nicht aufgegeben. Da muß also etwas gewesen sein, wovon Sie gemeint haben…

Kirsch: Ich war ja 1958 schon einmal ausgeschlossen worden; ich meinte aber – wie viele –, von innen heraus mehr bewirken zu können, ich hielt die Partei für verbesserungsfähig. Diese Illusion war ich dann 1973 los; ich hatte aber Freunde, die weiter in der Partei waren. Zudem meinten manche Leute, auch Verleger, der Ausschluß sei dumm und ungehörig, und machten mir Publikationsangebote. Es gab auch andere, die sagten, mit Kirsch nicht mehr; ich hatte jahrelang in der DDR fast keine Lesungen, und bekam kein Visum, wenn ich in den Westen eingeladen wurde. Aber ich konnte arbeiten, und vor allem mußte ich mich nicht mehr andauernd in Versammlungen rechtfertigen. Dort, in den Versammlungen, gab es ja manchmal verhörartige Situationen, die ziemlich albern waren. Es war die reine Kraftvergeudung.

Visser: Und dann kommt ein paar Jahre später die Biermann-Ausbürgerung und gehen viele von Ihren Kollegen.

Kirsch: Ja, viele gingen. Vielleicht war diese Zeit von 1973 bis 1976 entscheidend. Meine Grundhaltung war, ich werde hier gebraucht. Nämlich von den Leuten, die mich lesen. Ich bin für die jemand, der das, was viele dumpf oder vage empfinden, von Berufs wegen zu formulieren imstande ist. Wenn man seine oder jemands anderen Lage formulieren kann, ist das ja schon ein Trost, oder doch wenigstens ein Stück Hilfe, mit größerer Freiheit, als wenn man nur dumpf betroffen ist, nur Zorn und Gedemütigtsein im Innern hat. Ich dachte 1976: Den haben sie herausgeschmissen, und jetzt darf man genau nicht machen, was die wollen, nämlich daß alle, die etwas können, gehen. Sondern man muß hierbleiben. Und Kunst machen, wie es sich gehört, und damit den Leuten leben helfen, und denen, die oben sitzen, zeigen, daß sie nicht alles erreichen können.

Visser: Haben Sie eigentlich die Petition gegen Biermanns Ausbürgerung unterschrieben?

Kirsch: Es gab die Ur-Petition von zwölf Kollegen, an die versuchte ich mich anzuschließen. Das wollten die aber dann nicht mehr, weil sie sich sagten, wir wollen möglichst wenige hereinziehen. Es gab ja damals den Straftatbestand der Gruppenbildung. Wir haben abgesprochen, wir machen das alle einzeln, und schreiben auch nicht an Honecker, sondern an Stoph, den Ministerpräsidenten. Ich habe so einen Brief an Stoph geschrieben. Wir haben das also bewußt einzeln gemacht, ganz im Sinne der „Erstunterzeichner“, damit keine Kriminalisierung stattfand. Andere wieder sammelten dann doch Unterschriften, andere schrieben einzeln an Honecker; ich glaube, es kamen an tausend Petitionen zusammen. Zu vielen kamen dann Abgesandte und wollten, daß man seine Unterschrift zurücknahm. Bei mir war auch einer, der Verlagsleiter vom Neuen Leben, ein ganz ziviler Mann. Als nach drei Minuten klar war, daß ich nichts zurücknahm, hat er das akzeptiert, und wir haben über anderes geredet. Er hat dann wohl seinen Bericht abgeliefert und gemeldet, Kirsch ist nicht zu überzeugen. Das war ich auch nicht.

Visser: Hatte dieser Brief weitere Folgen für Sie?

Kirsch: Kaum… Die damalige Führung war wohl selber erschrocken, was sie da losgetreten hatte. Sie wollte eine Schadensbegrenzung. Es gab sicher Fraktionen, manche hätten es gern gesehen, wenn wir alle außer Landes gegangen wären. Die anderen sahen, daß die DDR dann noch größeren Schaden davongetragen hätte. Es war ja damals nicht so, daß wir die DDR abschaffen wollten. Wir hofften immer noch, daß die Vernunft sich durchsetzen würde. Wenn die Vernunft sich an einem kleinen Punkt durchsetze, könnte sie eine Art Kristall sein.

Visser: Bis wann haben Sie diese Hoffnung gehabt?

Kirsch: Die hatten wir sehr lange, und teilten sie mit gestandenen Politikern. Als die CDU an die Regierung kam in Bonn und Strauß den Milliardenkredit besorgte, meinten die ja – meines Erachtens zu Recht –, die Bundesrepublik könne um des Friedens in Europa willen kein Interesse haben, die DDR zu ruinieren. Die haben ausgesprochen; was die SPD vorher sich nicht zu sagen traute. Da waren die Russen, dort die Amerikaner, und ein Erdrutsch in der DDR hätte zu einem Weltkrieg führen können.

Visser: Für Sie persönlich kam aber bestimmt noch so etwas hinzu wie sozialistische Ideale, was nun bei der CDU wahrlich nicht der Fall gewesen sein kann.

Kirsch: Bei der CDU war das pragmatische Politik – unter der Maßgabe, das Bestehen eines ungeliebten Systems sei dem Untergang der Menschheit vorzuziehen. Das ist ja auch eine Werteabwägung, und Werte haben mit Idealen zu tun. Was mich und meine Freunde anlangt – ich meinte und meine, ohne ein inneres Bild, wie die menschliche Gesellschaft eigentlich beschaffen sein sollte, geht es nicht. Diese Bilder nennt man ja Ideale. Inwieweit die nun sozialistisch zu nennen sind… Die sozialistische Bewegung hat die eigentlich nur übernommen, da waren sie schon vorher. Das kann man alles bei Bloch nachlesen, der nennt die Ideale Utopien. Der Anspruch der Sozialisten nach Marx, von Lenin an war, es sei möglich, diese Ideale in die Wirklichkeit überzuführen; insofern wurden sie dann sozialistisch genannt. Und ich sehe überhaupt keinen Grund, anzunehmen, sie seien nicht mehr gültig. Jede Gesellschaft braucht Ideale. Noch die rauheste und rüdeste Gesellschaft braucht gewisse Ideale, sonst schlägt jeder jeden tot. Auch der Diktator muß doch in bestimmtem Maß seinen Schergen vertrauen, daß die das Messer nicht umdrehen. Das ist sozusagen der Mindestbestand an Idealen. Aber dann kommt ein nächster, äußerer Kreis. Wenn Sie ein Kind haben und erziehen das, dann verlangen Sie von dem viel und geben ihm Ideale. Und schließlich gibt es einen Kreis von Idealen, Forderungen, Denkmöglichkeiten darüber, was nötig wäre, wenn die Gesellschaft als Ganzes besser funktionieren sollte.

Visser: Bei der Erziehung des Kindes hofft man und glaubt man auch wirklich, daß sich das, was man da als wünschenswert formuliert, irgendwie verwirklicht.

Kirsch: Mir fehlt das und das, sagt man sich, aber das soll es einmal ein bißchen besser machen. Wenn man dann älter wird, sieht man, daß das Kind sich dem Ideal allenfalls ein wenig annähern wird. Dafür eigentlich sind die Ideale da, daß man sich ihnen ein wenig annähert, als gültige Richtwerte. Das ist Zivilisation. Deshalb sehe ich mit einem gewissen Entsetzen, wie nun manche Kollegen so rührend ihre eigene Vergangenheit bewältigen und sagen, alle Ideale sind Quatsch, alle Utopien sind Quatsch, und man will die Normalität. Es gibt keine Normalität ohne Ideale. Was man sich abschminken muß, ist, daß man das Ideal je erreicht. Das haben Sie vor zehn Jahren bei Hacks in einer Polemik nachlesen können. Man braucht es, auch wenn man nie hinkommt. Sonst ist es der Zusammenbruch der Zivilisation. Was ist denn Normalität anders als Zivilisation?

Visser: Egal, ob es nun die DDR gibt oder nicht, dafür dann eine große Bundesrepublik?

Kirsch: Es ist ein Versuch gescheitert. Und gleichwohl braucht man diese Ideale. Niemand dachte, daß das System hier im Oktober zusammenbrechen würde, weil niemand wußte, daß die Ungarn die Grenze aufmachen würden. Man sollte sich im Rühmen der Volksbewegung auch ein bißchen zurückhalten, die hätte es nicht gegeben ohne Ungarn. Wir haben gedacht, der Zusammenbruch wird viel, viel später kommen. Aber daß das zentralistische System ein theoretisch unhaltbares Konstrukt war, können Sie schon bei Tocqueville nachlesen, oder in meinem Kleist-Aufsatz „Implikationen aus Prinz von Homburg“: Und darum stimmt auch nicht, was manche so gerne möchten, daß hier eine Utopie zusammengebrochen ist. Mein Weltbild ist zusammengebrochen zum XX. Parteitag. Es war ein naives, unreflektiertes Weltbild, auf den Übervater Stalin bezogen. Ich war entsprechend jünger, und ich verzeihe mir, daß ich es hatte. Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich es jetzt noch gehabt hätte. Manche wollen, wir hätten es jetzt noch gehabt. Die kapieren nichts.

Visser: Sie haben danach nicht den Staat für Stalin als Übervater ausgetauscht?

Kirsch: Nein, das war damit vom Tisch. Gleichwohl hat man gedacht, daß dieser Staat zu zivilisieren ginge. Deshalb sind wir ja auch geblieben. Zu zivilisieren in Ansehung der Geschichte. Staaten waren immer ein bißchen unzivilisiert, es ging immer nur um den Grad. Einen wirklich zivilisierten Staat hat es ja nie in der Welt gegeben. Vielleicht einmal ein paar Sekunden, und gleich kamen irgendwelche Perser und haben alles durcheinander gebracht.

Visser: Wie war das Verhältnis zu den Kollegen, die in die Bundesrepublik gegangen sind, Mitte der siebziger Jahre, nach Biermann?

Kirsch: Erstens hatte man schon hier zu dem einen ein engeres Verhältnis und zu anderen ein nicht so enges. Ich habe meine Kollegen, als ich später reisen konnte, nach wie vor besucht. Ich habe keinen Riß bemerkt. Die und ich sind, jedenfalls die, die ich schätze, immer von der Voraussetzung ausgegangen, es gibt eine deutsche Nationalliteratur. Wo man arbeitet, wird die Nachwelt relativ wenig interessieren. Es kommt darauf an, daß gut gearbeitet wird. Und wenn ich jetzt die Besonderheiten hier geschriebener Literatur verteidige, dann, weil die politische Konstellation anders ist. Nicht weil ich meine, es gäbe plötzlich zwei Literaturen, sondern weil der Beitrag zur Nationalliteratur, der hier entstanden ist, seine Spezifika hat; davon sollte, solange die Leute noch leben und arbeiten können, möglichst viel erhalten bleiben. Einer, der hier die ganze Zeit gelebt hat, weiß einfach mehr, auch an Details. Mag sein, aus der Ferne, von „drüben“, sieht man manche Strukturen besser, aber derlei kann jeder lernen. Was man nicht nachholen kann, sind die Details; die Details sind aber das Salz, ohne die alle Strukturbeschreibung fade wird.

Visser: Herr Kirsch, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Deutsche Bücher, Heft 4, 1990

 

DIE JAHRE
Für Rainer Kirsch

aaaDer Stein fällt desto schneller umso tiefer
Die Stundenschläge, mitbeschleunigt, ticken
Indem ich küsse schönstgezahnte Kiefer
Der Augen Blick trifft fernher mich im Rücken.
aaa„Als deine Jahre nötigen geschwinder
Fällt der Stein. Weil nicht es deine Uhr ist
Die Allen tickt, ob kümmernd oder strebend“:
aaaSpricht linker Hand es; rechter Hand: „Zum Schinder
Wünscht der die Welt, den Kosmos von sich gebend
Ganz die Natur, die gegen die Natur ist“.
aaaGetröstet ich; da beide Stimmen streiten
Wird übermächtig keine mich besetzen
Auf eine je die andere will ich hetzen
Was bleibet, sind die Unannehmlichkeiten.

Karl Mickel

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Sabine Brandt: Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.1994

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Platzeck: Mit sanfter Gewalt
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 17.7.1999

Thomas Kunze: Der Markt ist so rücksichtslos wie die Zensur
General-Anzeiger, 17./18.7.1999

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Michael Braun: Petrarca aus Sachsen
Badische Zeitung, 17.7.2004
Der Tagesspiegel, Berlin, 17.7.2004

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Jürgen Engler: Das Wort und seine Strahlung
neues deutschland, 17.7.2009

Torsten Klaus: Rainer Kirsch – ein unbequemer Dichter mit Idealen
monstersandcritics.de, 15.7.2009

Ambros Weibel: Amt des Dichters: Rainer Kirsch zum 75. Geburtstag
ambros-weibel.de, 18.7.2009

Felix Bartels: 75 Jahre Kirsch
felix-bartels.de, 17.7.2009

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Zuversicht statt Optimismus
neues deutschland, 17.7.2014

Burga Kalinowski: Und ohne dieses Wort wäre das Gedicht nichts
neues deutschland, 19.7.2014

Burga Kalinowski: „Mein Inneres lesen“
junge welt, 11.9.2015

 

 

Nachrufe auf Rainer Kirsch: SZ ✝ MZ ✝

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rainerkirsch“.

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