Rainer Malkowski: Was für ein Morgen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rainer Malkowski: Was für ein Morgen

Malkowski-Was für ein Morgen

FRÜHAUFSTEHERIN

Wozu mit ihr streiten?
Zahlen
beeindrucken sie nicht.
Sie kommt von jenseits
der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Hoffnung −
Frühaufsteherin
am schwärzesten Tag.

 

 

 

Rainer Malkowski (1939 in Berlin geboren)

arbeitete etliche Jahre für Werbeagenturen und war in den Jahren 1968–1971 Geschäftsführer und Teilhaber der damals größten Werbeagentur der BRD, verantwortlich für die Bereiche Text, Grafik, Film und Funk. Die Zeit dieses Berufs währte so lange, bis er sich gegen ihn und für das Schreiben entschied, das früh begonnen, immer wieder unterbrochen und immer neu aufgenommen wurde. Heute lebt Rainer Malkowski in Bayern. Er veröffentlichte bisher Gedichte und Prosa in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien (u.a. im Merkur, in den Frankfurter Heften, der Süddeutschen Zeitung). Diese Gedichtsammlung ist seine erste Buchpublikation.
Das Gedicht, das dem Band seinen Titel leiht – Was für ein Morgen – endet mit den Zeilen:

Erleichtert,
mit triumphierend geschlossenen Augen
nehmen wir Abschied von allen Plänen.
Jeder für sich:
auf glückliche Weise
verschollen in seinem Stuhl.

In wenigen Zeilen ist eine Situation ohne Zufälligkeit geschildert. Die eben noch vorhanden gewesene Vitalität ist noch im Entschluß, sich gegen sie zu entscheiden, spürbar; dann beginnt der Prozeß des Verlorengehens. Jeder für sich. Auf glückliche Weise. In einem Stuhl. Ein mönchisches Bild könnte dies sein, bliebe nicht die Wirklichkeit, mit dem Verstand und allen Sinnen erreichbar. Die Wirklichkeit wird verfolgt, erkannt, benannt und in Szenen entworfen, ohne daß der kontemplative Betrachter die Position im Abseits imstande wäre aufzugeben. Die geringe Umgebung, „die stockige Luft, in der zwei mal zwei vier ist“, ist eine Beschwernis, beschwerlicher noch ist die eigene Haut; nur die „eiserne Klammer“ verhindert das Verstreutwerden aller Gedanken in „zwanglose Winde“. Ein minimaler Trost bleibt, die Hoffnung, eine Antwort für die Vorgänge zu finden; und Geduld, die Übung des Wartens.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1975

 

Von der Werbung zur Dichtung

– Ein neuer Lyriker: Rainer Malkowski. –

Der umgekehrte Weg wäre eher denkbar gewesen: dass ein leergeschriebener, ein ausgeglühter Dichter bei einer Werbeagentur Unterschlupf gesucht hätte. Rainer Malkowski, der 1968 bis 1971 Geschäftsführer und Teilhaber des damals grössten deutschen advertising-Unternehmens war, hat es jedoch auf die entgegengesetzte Weise versucht. Er hat die Produktivkräfte seiner Sprachbegabung und seiner Phantasie von den Objekten der Warenwelt abgezogen und auf das Feld der Poesie gelenkt.
Diese Gedichte, in denen sich nichts Plakativ-Didaktisches zu Wort meldet und in denen es auch keinerlei Anklänge an das manchmal geradezu elitäre insider-Gerede der Schickeria um Born und Theobaldy gibt, sind möglicherweise ein Hinweis darauf, dass sich die grossen marktbeherrschenden Verlage künftig um eine andere Art von Versen bemühen werden.
Malkowski ist ein Lyriker, der sich ganz auf seine persönlichen Beobachtungen, Empfindungen und Imaginationen verlässt. Da ist zwar bisweilen noch das Pattern Brechtscher Epigrammatik zu spüren, doch wird von Malkowski (ähnlich wie übrigens auch von Kunze) lediglich die Methode übernommen, nicht aber das erzieherische Programm. Malkowski, mit anderen Worten, plädiert für das Subjektive, für das sogenannte Private.
Das zeigt sich besonders deutlich in seinem Gedicht „Interview zum Neunzigsten“, in dem die Rede davon ist, wie ein junger Reporter einen hochbetagten Wissenschafter besucht, der ihm seine präparierten Schmetterlinge, Käfer und Bienen zeigt, bevor ihm die obligatorische Frage gestellt wird: „Haben Sie sich nie für Politik interessiert?“ Der greise Professor verneint. Und er hat auch für die Zusatz-Frage, ob denn nicht seine Haltung möglicherweise den Nationalsozialisten die Machtübernahme erleichtert habe, nur ein „möglich“ bereit. Dann folgt, ohne dass Malkowski sich selber moralisierend einmischt, der Schluss des Gedichts, ein lapidares, sanftes Bild:

Sie steigen ins Boot,
und der Alte rudert den Jungen
höflich über den See.

Für diesen parabolischen Text hat offensichtlich Brechts Poem „Heisser Tag“ aus den Buckower Elegien Modell gestanden. Doch was für eine starke Abweichung in der Aussage, welche augenfällige Aenderung der Tendenz. Brecht schrieb ein Gedicht, das sich idyllisch gibt, das in Wahrheit aber von subversiver Gesellschaftskritik ist und das schliesslich nur deshalb müde und traurig ausklingt, weil die Mittel der Politik nicht recht greifen wollen und die (Macht-)Verhältnisse so schwer veränderbar sind:

Ein grüner Kahn
Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck
Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr
Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester.
An der Ruderbank, aus vollen Gräften rudernd
Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich
Wie in alten Zeiten!

Bei Brecht beuten zwei Angehörige des Klerus, die sich geniesserisch der Schönheit eines Sommertages überlassen, einen Jungen aus dem Volke aus, indem sie sich von ihm rudern lassen. Bei Malkowski hingegen ist es der (quasi von einer Aura laotschafter Weisheit umgebende) apolitische alte Gelehrte, der seinen jungen intellektuellen Kritiker eigenhändig zurück über den See schafft – fort aus dem vegetabilischen Bereich, seines kontemplativen Lebens.
Malkowski öffnet sich der Welt da, wo sie still, unscheinbar und ohne objektives Interesse ist. Die Zwischenbereiche also, die „unberühmten“ Stätten, jene unzähligen Treffs des Realen mit dem Imaginären, des Faktischen mit dem Stimmungsmässigen:

Frag mich
oder frag mich nicht –
mein Lindos
wirst du nicht finden.

Frag mich
oder frag mich nicht:
kein Ort, an dem wir
wirklich
gewesen,
ist auf der Karte verzeichnet.

Die Lyrik Malkowkis ist knapp, fragil, pointiert. Nichts von der Redundanz Rolf Dieter Brinkmanns oder Godehard Schramms. Malkowski ist ein formbewusster Autor, der gewisse Berührungspunkte mit Jürgen Becker hat, aber, im Gegensatz zu diesem, zum Kurzgedicht tendiert. Trotzdem wäre es falsch, in Malkowski so etwas wie einen Lakoniker zu sehen. Der Begriff des Lakonischen ist in der deutschen Lyrikkritik der letzten Jahre allzu undifferenziert gebraucht worden. Er hat für alle kurzen Texte gestanden, für epigrammatische, d.h. für diskursive Arbeiten ebenso wie für ausgesprochen imagistische Poeme, in denen schwebende Sprachbilder auf das Vorhandensein ambivalenter Gefühle und widersprüchlicher Sachverhalte hinweisen.
Rainer Malkowski, so unaufwendig er sich auch gibt, steht dem Neo-Imaginismus Robert Creeleys ganz gewiss näher als, sagen wir, der Sinnspruchdichtung Arnfrid Astels Malkowski hat nicht bereits ein fertiges Bild von der Welt im Kopf. Vielmehr entsteht für ihn die Wirklichkeit fortwährend aufs Neue, am Mischpult seiner Sinne. Kein Projizieren weltanschaulicher Gedanken, sondern ein behutsames Einfühlen in die Gestalten und die Erscheinungen der alltäglichen Umwelt sind das „Programm“ dieses Dichters, der, weil er das Gespräch mit den Reminiszenzen seiner Kindheit nicht abgebrochen hat, auch noch als Erwachsener über ein Potential kreativ nutzbarer Materialien verfügt. Ein sensitiver Lyriker, der dennoch nicht ständig ICH sagen muss, in der teach-in-haften Manier jener „neuen Subjektivisten“, die sich mit Hugo Dittberner als Protagonisten „der ersten Person Plural“ verstehen. Malkowski ist ein Poet, der weiss, dass sich alles Erleben, dem die Qualität primärer Sinnlichkeit zukommt, in der ersten Person Einzahl ereignet – selbst dann, wenn das lyrische Ich gar nicht direkt in Erscheinung tritt:

SAMSTAG BAHNHOFSTRASSE

Welche Erleichterung auf einmal,
samstags, im Menschengewühl
der Bahnhofstrasse,
wenn der Blick auf die steinernen Züge
der Brunnenfigur fällt.
Unbewegt
lächelt die Nymphe ins Leere;
keinem Ziel ergeben,
das läppisch ist.

Hans-Jürgen Heise, Die Tat, 31.10.1975

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Alexander Schmitz: Mitten in einem Vers
Die Welt, 20.9.1975

Thomas Zenke: Eine neue Innerlichkeit hinter dem Alltäglichen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1975

Peter von Becker: Papierner Schmerz und ein Riese unter Zwergen
Süddeutsche Zeitung, 13.11.1975

Peter Zeindler: Literatur 1975. Der Intellektuelle und der Mechaniker
Luzerner Neuste Nachrichten, 29.11.1975

Heinz Piontek: „soviel anders als gestern?“
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.1975

Hans-Jürgen Heise: Rainer Malkowski: „Was für ein Morgen“
Neue Deutsche Hefte, Heft 4, 1975

Hans Ziegler: Ein Diogenes mit der Maultrommel?
Oberbayerisches Volksblatt, 2.1.1976

Jürgen P. Wallmann: Gefegte Luft. Neue Sensibilität in der Lyrik?
Rheinischer Merkur, 9.1.1976

Karl Corino: Überredung zur leisen Wahrheit
Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 6.2.1976

Christian Schultz-Gerstein: „Was für ein Morgen“. Gedichte von Rainer Malkowski
Die Zeit, 12.3.1976

Mathias Schreiber: Momentaufnahmen aus dem Alltag
Kölner Stadt-Anzeiger, 28.8.1976

Harald Hartung: Neue Gedichtbücher
Neue Rundschau, Heft 2, 1977

Walter Helmut Fritz: Von der gründlichen Simplizität
Stuttgarter Zeitung, 18.6.1977

Jürgen Link: „Möglichkeiten einer materialistisch-generativen Literaturtheorie. Am Beispiel der Lyrikrevolution Brecht – Malkowski“
ders. (Hg.): Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München (Fink), 1983

 

LICHTUNG

Ein Gedicht von Malkowski
in den Morgen gedacht:

Das Nichtgesagte
zwischen den Zeilen
sich selbst aussprechen lassen

Zuhören
wie der Nebel
sich lichtet

Andreas Köllner

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Kalliope + KLG
Porträtgalerie
Nachrufe auf Rainer Malkowski: NZZ ✝ FAZ ✝ literaturkritik.de
Tagesspiegel

Walter Helmut Fritz: Ein leises Echo des entschwundenen Lebens
Stuttgarter Zeitung, 3.9.2003

Albert von Schirnding: Gehen und Sehen
Süddeutsche Zeitung, 3.9.2003

Zum 10. Todestag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Glücklich im Bahnhofsrestaurant
neues deutschland, 31.8./1 9 2013

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