Ralf Rothmann: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Komm du, du letzter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Komm du, du letzter“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Komm du, du letzter

Komm du, du letzter, den ich anerkenne,
heilloser Schmerz im leiblichen Geweb:
wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne
in dir; das Holz hat lange widerstrebt,
der Flamme, die du loderst, zuzustimmen,
nun aber nähr’ ich dich und brenn in dir.
Mein hiesig Mildsein wird in deinem Grimmen
ein Grimm der Hölle nicht von hier.
Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg
ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen,
so sicher nirgend Künftiges zu kaufen
um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg.
Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?
Erinnerungen reiß ich nicht herein.
O Leben, Leben: Draußensein.
Und ich in Lohe. Niemand, der mich kennt.

[Verzicht. Das ist nicht so wie Krankheit war
einst in der Kindheit. Aufschub. Vorwand um
größer zu werden. Alles rief und raunte.
Misch nicht in dieses was dich früh erstaunte]

 

Absolutheit

Mit Hilfe von Konventionen, schrieb Rilke in den Briefen an einen jungen Dichter, habe man alles nach dem Leichten hin gelöst, ja, nach des Leichten leichtester Seite. Es sei aber klar, daß man sich, wie jedes Lebendige, das seiner Vervollkommnung entgegenstrebt, an das Schwere halten müsse.

Daß etwas schwer ist, muß uns ein Grund mehr sein, es zu tun.

Das Gedicht, seine letzte Eintragung im letzten Taschenbuch, dokumentiert: Er hat sich an das Schwerste gehalten, an die Bejahung des eigenen Endes – und der unsagbaren Leiden, die damit zusammenhingen. Eine Bejahung ohne Furcht oder Verbitterung, wie man liest, und das Staunen über Wucht und Wut der Krämpfe scheint aus einer unverwundbaren Mitte zu kommen.
Weniger, weil es ein Entwurf ist und von ihm, im Fall seines Überlebens, so nicht publiziert worden wäre, müßte ein germanistisch-philologisches Vermessen der Zeilen befremden. Jemandem, der sich kaum noch kennt vor Qual, zählt man nicht die Silben seiner Sätze nach. Und doch, die Kunst dieser Verse verblüfft auch dann, wenn man bedenkt, daß hier einer spricht, der sich ein Leben lang zum Ausdruck erzogen hat und letztlich, was die Absolutheit seiner Existenz betrifft, selbst Ausdruck war: einer Kraft, deren Bestimmung seit jeher das ist, was man in der Antike „den Gott schmücken“ nannte.
Rilkes Diktion, die oftmals halsbrecherische Hochsprache, rief immer schon Spötter auf den Plan – und dieses Fragment beschämt alle. Denn trotz seiner Bravour bleibt es die wahrhaftigste Äußerung, zu der ein Mensch fähig ist: Schmerzenslaut. Und es verkörpert das Verstummen.
Stets hat mich die Inbrunst des Anfangs erstaunt. Die rhythmische Logik dieser Zeile entspricht der eines Liebesgedichts (so wird ein lange Erwarteter empfangen), und Bejahung, auch und gerade die des Unvermeidlichen, ist schließlich eine Form der Liebe. Man glaubt einen Puls schlagen zu hören in den Versen: Kraftvoll und schnell bis zum doppelt erklingenden „Grimm“, wird er zur Mitte hin unregelmäßig, kürzere Sätze, der Atem stockt, und allein in der Zeile vor der Zäsur, im lakonischen „Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.“, ist eine Ermattung gestaltet, der man in ihrer Kunstfertigkeit kaum glauben mag.
Erst das erneute Anheben im Schlußteil nimmt ihr den verzweifelten Glanz; und erschüttert, weil es in Wahrheit der Ausklang ist, das Hinsinken – dessen „Misch nicht in dieses, was dich früh erstaunte“ seltsam persönlich anmutet, fast privat, als hätte der Dichter die Umstehenden längst vergessen. Wobei er sich noch berichtigt, noch zur Klarheit ermahnt, während Licht und Sinne schwinden. Nicht klagen solle man, schrieb Rilke fast zwanzig Jahre früher im „Requiem“ für Wolf von Kalckreuth, sondern hart sich in die Worte verwandeln, damit Schicksal eingehe in die Verse. So betrachtet, kann das Fragment, wenige Tage vor seinem Ende notiert, vollkommener nicht sein. Es ist die Totenstille zwischen den Zeilen, die es zum Klingen bringt.

Ralf Rothmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00