Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Demütige Höhen, hell und weit…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Demütige Höhen, hell und weit…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Demütige Höhen, hell und weit
Entbrennen herbstlich die Plejaden.
Und Freuden keinerlei durchjagen
Wohl jene Welten, keine Bitterkeit.

In allem einförmig der Sinn, Signal
Der Freiheit – überall vollkommen:
Verkörpert die Natur besonnen
Die Harmonie der höchsten Zahl?

Doch Schnee fiel jetzt herab – und nackt
Und trauervoll stehn alle Bäume;
Vergeblich abends strahlt von neuem
Die goldene Leere: Himmelspracht;

Und Weißes, Schwarzes, simples Gold –
Der traurigste von allen Klängen
Echot jetzt klar, wenn unumgänglich
Der endgültige Winter folgt.

 

Gedichte aus Heidelberg

Ein Ausblick in den Kosmos, das also, was die Akmeisten 1912 mit ihrem Bekenntnis zum Irdischen und zum Diesseits ablehnen werden. Mandelstams Blick in den Kosmos bleibt pathosfrei, sachlich-kühl: eine Betrachtung des Abendhimmels samt Plejaden. Im Weltall gibt es nichts Menschliches, keine Empfindungen, weder Freude noch Bitterkeit, also herrscht Gleichgültigkeit. Das laut Platon höchste Prinzip, die „Weltseele“, wird jedoch mit dem ersten Wort paradox vermenschlichend als „demütig-weise“ bezeichnet. Im Universum gibt es Sinn, wenn auch einförmigen, und vollkommene Freiheit, also Dinge, um die der Mensch auf Erden zu ringen hat, die nicht einfach gegeben sind.
Die „Harmonie der höchsten Zahl“ lässt an das Platon zugeschriebene „13. Buch“ seines Werkes Die Gesetze (Nomoi) denken, das wahrscheinlich jedoch vom Platon-Schüler Philippos von Opus stammt, der den Zahlen als Strukturprinzip des Kosmos nachforscht; auch Pythagoras’ Zahlenphilosophie („Alles ist Zahl“) scheint hier aufgerufen. Mandelstam hörte laut seinem Mitstudenten Aaron Steinberg in Heidelberg – neben Vorlesungen zur altfranzösischen Literatur und zur Kunstgeschichte – bei Wilhelm Windelband und Emil Lask im Wintersemester 1909/1910 auch Philosophie, von Letzterem etwa: „Geschichte der Philosophie bis Kant (einschließlich)“.
Die Strophen 3 und 4 verlassen das kosmische Thema zugunsten des Irdischen: Schnee, nackte Bäume, anbrechender Winter, mit einem letzten Blick auf die „goldene Leere“ des Himmels, die der Dichter für „vergeblich“ erklärt. Kein Trost kommt von dort, der von der Zahl regierte Kosmos scheint sich selbst zu genügen. Beinah apokalyptisch wird der „endgültige Winter“ konstatiert. Hier grenzt sich Mandelstam von seinem Vorbild Tjutschew ab, der in seinem Gedicht „Wohlklang herrscht in Meereswellen“ (1865) eine allumfassende Harmonie im Universum postuliert.
Die programmatische Rückkehr aus dem Kosmos zu den heimischen Hausgöttern, den römischen „Laren“ und „Penaten“, feiert ein Gedicht desselben Jahres 1909, das Mandelstam in mehrere seiner Sammlungen aufnahm (Der Stein 1916, 1923; Gedichte 1928). Hier die ersten beiden Strophen:

Es gibt den Zauber, reinen, klaren,
Den hohen Gleichklang, tiefe Welt,
Von Äther-Lyren weit entfernt
Stehn die von mir umhegten Laren.

Vor sorgsam ausgewaschenen Nischen
Wenn aufmerksam der Abend kommt
Lausch ich meinen Penaten und
Der Stille, der ekstatisch frischen.
1

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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