Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Nein, keinen anderen Pfad…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Nein, keinen anderen Pfad…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Nein, keinen anderen Pfad
Als durch das deine: die Hand –
Wie sonst wohl finde ich, sag,
Mein allerliebstes, mein Land?

Hin zu den Ufern, wenn du
Helfen magst, sei’s ohne Wort:
Nähere die Hand nur dem Mund
Und nimm sie niemals mehr fort.

Zittern der Finger – wie fein;
Körper, zerbrechlich, der lebt:
Kahn, der still gleitet, und ein
Abgrund, über dem er schwebt.

 

Gedichte aus Heidelberg

Mehrere frühe Gedichte beschwören die Sprache der Finger oder der Hände: „Kalt strömen Lyren, überviel“ (S. 45), „Vom Mond erhellt die Nachtreviere“ (S. 53), „Wie lautlos diese Spindel fliegt“ (S. 55), das obenstehende „Nein, keinen anderen Pfad“ und „Musik meiner zärtlichen / Verhaltenen Lobpreisung“ (S. 67). Das im Kommentar zum Gedicht „Deine fröhliche Zärtlichkeit“ (S. 47) zitierte Gedicht „Zärtlicher-zärtlich“ desselben Jahres 1909 zeigt die Macht der ausgestreckten Hand und der Zärtlichkeit: „Und weißer-weiß / Strahlt deine Hand“ und „Die nicht erkalten / Sind deine Hände.“
Hier nun findet das Gedicht das dem „Finger“ entsprechende Versmaß: den Daktylus (von griech. „Finger“) – eine betonte Silbe, zwei unbetonte (- v v). Die Hand also soll einen Weg weisen, die lenkende, denkende Hand. Wohin? In „mein liebes Land“, oder das Land der Liebe, das in diesen Jugendgedichten mehrfach als fernes Ziel lockt?
Ufer erscheinen, eine Kahnfahrt wird suggeriert, ein Abgrund von Wasser. Gern vermutet man den Neckar, vgl. Hölderlins „Heidelberg“-Ode (1800):

Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,
Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,
Liebend unterzugehen,
In die Fluten der Zeit sich wirft.

Der ungewisse Wasserabgrund in Mandelstams Gedicht mag ebenso auf die Liebe verweisen, die nicht nur „liebes Land“, sondern auch „Gefahr“ bedeutet. Keinerlei Wort bestimmt das Geschehen: Die beschworene Hand wird dem Sprechenden auf den Mund gelegt – der vielleicht bereits ein Wort zu viel gesagt hat, sich zum Liebesgeständnis hat hinreißen lassen?
Ein späteres Gedicht, „Meisterin der schuldbewussten Blicke“ (Februar 1934), imaginiert ein Ertrinken mit der geliebten Frau, auch dort wird die Liebe als Gefahr gekennzeichnet („Schwung der Brauen: Weg voller Gefahren“), hier die 5. Strophe:

Türkenmädchen, liebes, sei nicht böse,
Nähe mich mit dir ins blinde Tuch,
Deine dunklen Worte schluck ich, lösche
Meinen Durst an diesem Wasserfluch
.1

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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