Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Vom feuchten Stein herunterschauend…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Vom feuchten Stein herunterschauend…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Vom feuchten Stein herunterschauend
Ein Amor: Er steht. traurig, nackt,
Sein Kinderbein hochhebend ragt
Er dort wie voll von hellem Staunen

Dass in der Welt es Alter gibt –
Das grüne Moos, die feuchten Steine –
Es flammt das Herz gesetzlos: seine
Kindische Rache, die er liebt!

Und jetzt bläst schon ein grober Wind
Herein in die naiven Täler;
Ich presse meine Lippen schmäler,
Die nur noch Dulderlippen sind.

 

Gedichte aus Heidelberg

Eine allegorische Darstellung der Liebe, eine schlichte Brunnenfigur des kindlichen Amor, Venus‘ Sohn. Amor ist hier keine Figur des Triumphs der Liebe, er erscheint traurig und nackt. Aber es ist, trotz seiner „kindischen Rache“, ein denkender Amor, der Merkmale der Reifung aufweist und als Figur der Kindlichkeit erstaunt das Altern der Welt erkennt. Das Herz steht für die „gesetzlose Flamme“ der Liebe, die sich keiner Regel unterwerfen will. Aber der Dichter spürt hier auch ihren „groben Wind“ und presst seine „Dulderlippen“ zusammen. Das „sorglose“ und „liebende“ Ich des vorangegangenen Gedichtes ist zum Märtyrer der Liebe geworden.
Die „naiven Taler“ könnten gewiss von den Seitentälern des Neckar-Tales inspiriert sein, ebenso der zuweilen „grobe Wind“, der von den Höhen des Odenwaldes herunterweht. Er verweist aber wohl eher auf die Ablehnung, die seinem Liebesbegehren entgegenschlägt. Man braucht nicht zu bedauern, dass das „reale“ Vorbild des Brunnens mit der Amor-Figur im heutigen Heidelberg nicht mehr aufzufinden und zu identifizieren ist. Mandelstams Gedichte haben sich bereits gelöst von den Fesseln bloßer Realitätsabbildung und suchen sich ihre eigene, selbstreflexive Identität – sie preisen gleichsam die „künstliche Rose“ wie im Gedicht „ Windstille meiner Gärten“ (S. 43).

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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