Raoul Schrott: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Raoul Schrott: Liebesgedichte

Schrott-Liebesgedichte

NIELS BOHR – KORRESPONDENZPRINZIP

daß die atome der sonne und den planeten
aaaaaentsprächen
war aberglaube – mehr in den sternen zu sehen
als daß sie unter ihrem gewicht langsam verbrennen

draußen halsen die jollen an der wendeboje · ein
aaaaablähen
von kalten segeln auf stehenden wellen · szenen

des sonntags wie die eiscremeverkäufer und die flächen
der markisen die im wind schlagen · das stete
gab ich für das beständige auf aber ich beharrte
auf anschaulichkeit · dazwischen kam das licht: es paarte

sich mit den dingen als wäre die porzellanglätte
des himmels erst für die finger tastbar · sommer hier

sind so · der raum löst sich in hitze auf und am geschirr
auf dem kaffeetisch erscheint das grinsen
einer cheshire-katze · was kann ich anderes als hinsehen

nur die fülle führt zur klarheit aber im abgrund liegt
die wahrheit · das paradoxe befreite mich von der fiktion
des beobachters den ein experiment bloß heiligt
weil es ihm den blick von außen bietet

unten promenieren mädchen · jung die augen wie pygmalion
oliven auf einem teller · jede geste die bittet

mund und hand zu sein · wenn ihr lächeln auf mich fällt
bin ich nichts als dieser mann auf dem balkon die besten jahre
über dem hosenbund · ihr starren

ist eine erinnerung daran daß wir auf irreduzible weise
teil der welt sind · jedem versuch sie wiederzugeben fehlt

etwas weil nichts uns aus den bildern rücken kann · weiße
servietten neben dem besteck · dann nachmittag:

es ist immer ein ich das wir sagt licht und materie
die spektrallinien fern vom kern fallen

in einer kontur zusammen und lassen so den übertrag
in den gewohnten rahmen zu · die antinomie

von ganzen sätzen den silben konsonanten und vokalen
drängte sich der vergleich mit elementaren
teilchen auf · doch es war nichts als ein beharren

auf berechenbares · es wird bald regnen · die möwen
zieht es zurück in ihr zirkeln uferlos vertieft
bis die wolken ihre kreidestriche von neuem löschen
in meiner sprache jedoch wichen die substantive

den verben · stell dir stattdessen einen bleistift
vor der mit seiner spitze auf dem nächsten wort balanciert

niemand kann sagen auf welche seite er dann fallen wird
quer über die bögen hier · nicht mit ihm wurden diese briefe
vollgeschrieben · als unterschrift nur eine glyphe

 

 

 

Geometrie der Gefühle

I. Dimensionen
Raoul Schrotts Liebesgedichte haben drei Dimensionen, die für moderne Lyrik dieses Genres ungewöhnlich sind: das Reisen, die Antike und die Wissenschaften. Sie bieten verschiedene Zugänge, die auf denselben Kern führen: auf eine ebenso sinnliche wie humorvolle, anspielungsreiche und künstlerisch raffinierte Sprache der Liebe.
Schrotts Liebende sind Reisende. Viele Gedichte beschreiben Ansichten ferner Länder, vor deren Hintergrund die Faszination der Geliebten oder die Zärtlichkeiten des Paares in Szene gesetzt werden: Buchten, Meere, Sehenswürdigkeiten, Hotels. Beziehungen entfalten sich in der Bewegung. Der Schriftsteller Schrott ist selbst fast unentwegt unterwegs. Aufgewachsen in Tunis, verbrachte er lange Zeit in Irland, er arbeitete in Paris, Neapel und Berlin und lebt heute in Österreich. Bereits die Titel seiner Prosawerke haben an entlegene Orte geführt: auf eine Insel im südlichen Atlantik (Tristan da Cunha), an einen ausgetrockneten Salzsee im Inneren Chinas (Die Wüste Lop Nor), zu den Ruinen von Karatepe im Osten der heutigen Türkei (Homers Heimat) – oder an das Ende der Welt (Finis Terrae).
Viele der bereisten Regionen sind Schauplätze des Altertums. Liebe ereignet sich bei Raoul Schrott in antiken Landschaften, vor der Kulisse jahrtausendealter Geschichte und Geschichten. Die Gedichte führen uns an historische Orte der gräko-romanisch-orientalisch mediterranen Welt, die häufig sogar mit ihren alten Namen bezeichnet werden: nach Nordafrika (Luxor, Alexandria, Djerba, Kairouan), Griechenland (Olympia, Plateai, Euböa, Paros, Samos) und Italien (Elba, Procida, Anacapri, Pompei) sowie insbesondere durch Sizilien, dem ein ganzer Zyklus gewidmet ist (Marsala, Segesta, Sciacca, Taormina, Erice, Castel di Tusa, La Zisa und La Cuba in Palermo), wo mitten im Mittelmeer die Kulturen zusammenfließen.
Der Beobachter bedient sich zahlreicher Wissensformen, um die fremde Wirklichkeit zu erfassen und die in ihr erfahrene Erotik beschreibbar zu machen: kulturgeschichtlicher, linguistischer, naturwissenschaftlicher. Wie kann ein Autor Liebesgedichte schreiben, der sich nicht nur für Archäologie und Etymologie, sondern auch für Biologie und Psychologie interessiert, der mit der Physiologie des menschlichen Gehirns vertraut ist und dessen neuestes Werk, in Zusammenarbeit mit dem Neurowissenschaftler Arthur Jacobs, der kognitiven Poetik gewidmet ist: dem buchstäblich zu verstehenden Zusammenhang von Dichten und Denken? Raoul Schrott ist ein gelehrter Dichter, ein vielfach so genannter poeta doctus, aber auch ein dichtender Gelehrter, doctor poeticus. Dichten und Denken hat er so eng ineinander verschränkt, daß sie sich kaum voneinander trennen lassen und oft nicht mehr entscheidbar ist, was jeweils den Vorrang hat. Lyrik und Liebe sind für Schrott jedenfalls keine Antithesen zur Forschung. Vielmehr hat er deren Begriffe, Theoreme und Modelle poetisch sich angeeignet: etwa das Problem des Beobachterstandpunkts oder die scheinbare Aufhebung der Anziehungskraft: „jemand der im fall begriffen ist spürt die schwerkraft / nicht“. Die Zyklen „Dämmerungserscheinungen“ und „Eine Geschichte des Lichts“ enthalten Beschreibungen von seltener Schönheit und intimer Intensität, die Augenblicke der Zweisamkeit bei wechselnden Lichtverhältnissen festhalten, wie sie an der Grenze von Nacht und Tag aufscheinen. Dabei hat der Dichter Naturschauspiele im Sinn, deren Namen ihrerseits von Poeten stammen könnten: „Vordämmerungsschein“, „Erdschattenbogen“, „Horizontstreifen“, „Sternlichtsaum“, „Vorpurpurlicht“ oder „Dunkelzentrum“. Die Liebe macht Landschaften lesbar und Entdeckungen begreiflich. Empathisch erschließt sie die Welt, als verfeinerte Einfühlung stiftet sie Sinn – und hat ihrerseits teil an den Bedeutungsangeboten aller möglichen Phänomene und Disziplinen.
Reisen, Antike, Wissenschaft – die Gedichtbände, denen die meisten der hier versammelten Texte entnommen sind, haben jeweils einer dieser drei Dimensionen besonderes Gewicht gegeben: Hotels (1995) führte an zahlreiche Orte entlang der Reiserouten des Autors. Weissbuch (2004) kreiste um eine Konzeption des Heiligen, die auf die Kulte des Altertums zurückgeht. Tropen (1998) bezog die Dichtung auf die Naturwissenschaften, insbesondere auf die „Physikalische Optik“.
Raoul Schrotts Gedichte bevölkern symbolische Figuren, historisches, literarisches und mythisches Personal, welches das Reisen, die Antike und die Wissenschaften im Kontext der Liebe verkörpert. Die Entdecker Marco Polo und Christoph Kolumbus, die Flugpioniere Richard Byrd und Charles Lindbergh sowie der Photograph Wilhelm von Gloeden, der in Sizilien Knabenakte aufnahm, dienen als Bezugsgrößen für den Liebenden als Welterkunder. Jean Bernard Leon Foucault (Erdrotation), Albert Einstein (Relativitätstheorie) und Niels Bohr (Korrespondenzprinzip) leisten Orientierungshilfen für den Liebenden als Forscher. Antike Gestalten werden eingespielt, die für bestimmte Topoi stehen: der Jäger Aktaion, der die Göttin Artemis beim Bad beobachtete und dafür von seinen Hunden als Wild zerrissen wurde; der Fürstensohn Jason, der eine fremde Frau aus einem fernen Land in seine Heimat entführte, wo sie der Eifersucht verfiel und gewalttätig wurde; die Nymphe Echo, die Narkissos begehrte, aber nur dessen Worte nachzusprechen vermochte; Eos und Alba, die personifizierten Morgenröten; sowie Hestia, die Göttin des Herdes, Gegenfigur des Hermes. Liebe läßt einen in einen anderen Menschen sich einfühlen, hineinversetzen oder sogar phantasievoll verwandeln. Bisweilen geht das Sprechen des Verliebten über in die Rede einer anderen Person. Raoul Schrott bedient sich aus Geschichte, Literatur und Mythologie wie aus einem Setzkasten oder einer Kunstkammer, um allerlei Figuren zu finden, denen er poetische Maskenreden soufflieren kann.
Erotik bedeutet bei Schrott, Sexualität und Intellekt kurzzuschließen, Körperlichkeit und Ästhetik zu synchronisieren, die écriture automatique des Empfindens und die écriture élaborée des Verstandes ineinander zu führen. Einige Charaktere repräsentieren die erotischen Funktionen der Kunst: allen voran Erato, die Muse der Liebeslyrik; oder auch der König Pygmalion, der sich in das Idealbild einer Statue verliebte; die Tochter des Künstlers Butades, die ihren Geliebten nach dessen Schatten zeichnete; Gradiva, deren Schönheit inmitten der Zerstörung von Pompei als literarische Phantasie vorgestellt wird; und die Tochter des Diomedes, die ebendort von Lava und Asche eingeschlossen wurde und zum Negativ einer Skulptur erstarb.
Die geographische, die antike und die wissenschaftliche Dimension der Schrottschen Liebesgedichte überschneiden einander. Bereits der mehrdeutige Titel des Gedichtbandes Tropen hat angezeigt, daß die Bewegung in den Bereich der Wendekreise, die Wahrnehmung der dort zu beobachtenden Erscheinungen und die Rhetorik der entsprechenden sprachlichen Wendungen ineinander übergehen. Zusammen bilden die drei Emotionsdimensionen eine Konzeption der Liebe, die anthropologisch fundiert ist und in ganz eigener Weise dichterisch ausgestaltet wird.

2. Formen
Wie wird sie ausgestaltet? Welche Rolle spielt die dichterische Form? Raoul Schrott hat seinen Liebesgedichten vielsagende Eigenschaften verliehen. Und er hat sie für die vorliegende Auswahl in verschiedenen Hinsichten bearbeitet.
Ursprünglich waren die Gedichte mit Ortsangaben und Datierungen versehen: „hotel central, innsbruck, 8.11.92“, „bishop’sluck, 3.9.00“, „berlin, 11.9.03“. Einige Angaben sind sogar historisch: „77 n.chr.“, „bern, 1905“, „copenhagen, 1926“. Die Gedichte sind Diarien. Oder sie werden zu historischen Dokumenten fingiert. Einige erscheinen als Stimmen aus der Vergangenheit – als rhetorische Figur der Prosopopoiia. Wer hier spricht, das lyrische Ich, ist nicht unbedingt ein Tiroler Poet, sondern mitunter auch die Tochter eines griechischen Töpfers, ein deutscher Relativitätstheoretiker oder ein dänischer Atomphysiker.
Die meisten Gedichte waren im Original mit Glossen versehen, mit kurzen Texten am Rand, zum Teil ohne Großbuchstaben und Trennstriche. Gedichte und Glossen, Poesie und Prosa wurden aufeinander bezogen, die Grenzen der Gattungen in Frage gestellt. Diese knappen Parerga enthalten zusätzliche Informationen: zum Beispiel, daß „Alba I“ auf Versuche zurückgeht, „den anfang eines gedichts von keith douglas zu übertragen: the hand is perfect in itself…“; daß „Hestia“ von der Etymologie des Wortes „Hotel“ ausgeht, welches Schrott vom Namen der Herdgöttin herleitet: „Die einzig erhaltene darstellung ist eine römische kopie…“; oder was es mit Mythos, Ritus und Abbild der „Aglauriden“ auf sich hat. Diese Hinweise entfallen nun, so daß die Gedichte der Zusätze und Beigaben, ihrer Marginalien und Paratexte, mancher Zusammenhänge und Erläuterungen entkleidet und auf ihren liebeslyrischen Kern reduziert werden: auf die Empfindungen eindrücklich beschriebener Augenblicke zwischen sinnlichem Genuß und überschwenglicher Spielerei, zwischen dem Hoffen auf Ewigkeit und dem Scheitern in der Wirklichkeit.
Lediglich Titel bleiben ihnen erhalten. Aber die meisten sind verändert worden. Einige Gedichte bekommen sogar Bezeichnungen, die bislang andere getragen haben. Sie nehmen einen Platz innerhalb einer Sequenz ein, die in den vorherigen Bänden jene innegehabt hatten. Titel sind bei Raoul Schrott keine unabänderlichen Namen, welche die Individualität eines Textes eindeutig und ein für allemal bezeichnen würden. Vielmehr dienen sie als wechselnde Markierungen zur Einordnung in Konstellationen und Dramaturgien. Für die Ausgabe der Liebesgedichte im Insel Verlag hat Raoul Schrott seine Arbeiten selbst ausgewählt und neu arrangiert. Einige faßt er zu acht thematischen Serien zusammen, die Verbindungen herstellen und Zusammenhänge stiften: „Alba“ (I–II), „Über das Heilige“ (I–II), „Eine Geschichte der Schrift“ (I–III), „Eine Geschichte des Windes“ (I–IV), „Eine Geschichte des Lichts“ (I–VI), „Dämmerungserscheinungen“ (I–IV), „Figuren“ (I–IV), „Persone & Personaggi“ (I–VIII).

Diese Zyklen sind Geflechte von Gefühlen, die sich um die Emotion der Liebe herum anordnen: Begehren, Begierde, Verlangen und Sehnsucht, Entzücken, Heiterkeit, Freude und Albernheit, Sorge, Ängstlichkeit, Eifersucht und Traurigkeit. Die Haltungen wechseln vom Pathos zur Selbstironie und vom Scherz zur Melancholie. Die Gedichte sind allumfassend zwischen „himmel“ und „dir“, zwischen „leben“ und „sterben“ („Alba I“); kleine Komödien (Schrott spricht von „commedia dell’ arte“), welche die Lust am Phantasievollen, Übersprudelnden und Hochstaplerischen zum Ausdruck bringen („Eine Geschichte des Windes“, „Persone & Personaggi“); Strohfeuer des Augenblicks („Eine Geschichte des Windes II“); oder Zeugnisse rückhaltloser Offenheit („Dämmerungserscheinungen“). Einige Zyklen haben eine eigene Dramaturgie. So sind die Siziliengedichte am Anfang des Bandes lesbar als Erzählung einer Enttäuschung. Die Untreue der Geliebten verdunkelt die Texte von einem zum anderen. – Die Komposition insgesamt fängt an mit den Worten „womit beginnen“; und sie endet mit einer Art Subskript: „als unterschrift nur eine glyphe“.
Die Passagen der Reihe „Eine Geschichte des Windes“ stammen aus dem frühen Band Sub Rosa (1993), der titellose Texte von Raoul Schrott (samt italienischer Übersetzung) neben Graphiken des Künstlers Arnold Mario Dall’O stellte. Einige neue Gedichte sind hinzugekommen: „Alba II“ sowie „Brief an Brecht“ und „Nacht, der Mond“ (die zuvor in dem Heft der Reihe Text + Kritik erschienen, das Raoul Schrott gewidmet ist). Einige der älteren Gedichte hat der Autor umformuliert.
Von der Regelmäßigkeit klassischer Metren und Reimschemata gelöst, haben Schrotts Gedichte auf den ersten Blick die Freiheit poetischer Prosa in ungebundenem Rhythmus. Bei genauerer Betrachtung tritt jedoch eine formale Strenge zutage. Schrotts Gedichte sind nach je eigenen Spielregeln geformt und nach verschiedenen Codes zu entschlüsseln. In „Segesta“, zum Beispiel, werden lange Silben kreuzweise mit kurzen gereimt: mantel/paneel, fries/riß, stände/wähnte, bewahrte/erstarrte; Vokale bleiben bestehen, wo Konsonanten variiert werden: fuß fassend/fundament, erhielt/verriert. Solche Texte sind wie Tonsätze angelegt, die subtile Melodien hervorbringen. Sie erzeugen Echos, die interne Bezüge andeuten.
Reime hat Schrott in überraschender Weise eingesetzt. Das pazifische Kreuzfahrtgedicht „Szenen der Jagd“ beispielsweise ist von außen nach innen symmetrisch durchgereimt: machen/lachen, aufträgt/gelegt, possen/flossen, schnippelten/trippelten… Wo in der Mitte die Reime konventionell aufeinandertreffen, wirken sie komisch und haben einen parodistischen Effekt: „auf einer dieser inseln“ – „im selben boot mit diesen pinseln“. Im Grimmelshausen-Pastiche „Persone & Personaggi III“ wird dieser Spott auf den gewöhnlichen Reim ausdrücklich: „denk ich an versmaß daktylus und reim- / was ein madrigal! nein“.
Die Gedichte erscheinen in verschiedenen Formen: als schmaler Block oder im Flattersatz, mit kürzeren oder längeren Zeilen, in gleichmäßigen oder verschieden langen Versen und Strophen, als kompakte Langstrophe oder in zwei-, drei-, vier- bis fünfversiger Strophenform, dabei graphisch variiert und verschiedentlich eingerückt. Die Länge der Zeilen ist jeweils genau bemessen. Das wesentliche Mittel der Gliederung bildet die Anordnung der Schrift, nicht die Anzahl der Silben. Die Architektur der Gedichte ist von geometrischer Eleganz.
Charakteristisch sind die durchgehende Kleinschreibung und ein weitgehender Verzicht auf Interpunktion. Die einzige typographische Zäsur bildet häufig ein Hochpunkt · wie im Altgriechischen oder in der eigenwilligen Schriftgestaltung Stefan Georges. Die Kleinschreibung archaisiert und modernisiert die Gedichte zugleich. Sie erinnert an die einregistrigen Handschriften antiker Texte, da Griechen und Römer noch keine Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung kannten; und sie entspricht der Praxis zeitgenössischer text messages. Schrott konzentriert seine Sprache auf gefügtes Wortmaterial. Ohne die Lektürehilfe der Satzzeichen erfordern seine Gedichte eine geschärfte Aufmerksamkeit. Aber sie erlangen auch eine gesteigerte Lesbarkeit. Denn mitunter sind mehrere grammatische Auflösungen denkbar. Ob in dem Satz „ich will sie nicht“ ein Komma zu ergänzen ist, macht einen Unterschied aufs Ganze. In der Einführung zur Anthologie Die Erfindung der Poesie, in der er sich auf eine Suche nach den Ursprüngen begab und „Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“ versammelte, spricht der Herausgeber davon, daß der Verzicht auf Großschreibung und Interpunktion „semantische und syntaktische Mehrdeutigkeit“ ermöglicht.
Wie in seiner Übertragung von Homers Ilias (2008) variiert der polyglotte Autor die Register seines Stils über eine beträchtliche Bandbreite. Das Vokabular seiner Lyrik reicht von der Sprache des Alltags („wer wen wann fickt“) über fremdsprachliche Zitate („parce que c’était un cheval qui y avait fait jaillir la source du sable avec son sabot“: „weil es ein Pferd war, das“ – wie Pegasos – „an dieser Stelle die Quelle mit seinem Huf aus dem Sand hervorsprudeln ließ“) bis zu altsprachlichen Termini (lykophos, solstitium, tessera, diurnale – Wolfslicht, Sonnenwende, Mosaikstein, Tageslohn).
In universalgelehrter Weite begegnen uns Fachbegriffe aus Kunstgeschichte, Architektur, Botanik, Zoologie, Meteorologie, Astronomie oder Mineralogie. So können Schrotts Leser von dem Wissen Gebrauch machen, daß das Wort Fayence eine Keramik bezeichnet, Vedute eine Landschaftsdarstellung, Craquele das Rißnetz an der Oberfläche alter Gemälde; daß Altan eine auf Säulen ruhende Plattform ist, Volute ein schneckenförmiges Ornament, Azurit ein Mineral, Bakelit ein Kunststoff, Kreosot ein Holzschutzmittel und Kelp Seetang, ein Barchan eine Düne und der Jakobsstab ein astronomisches Instrument; daß Salband die Grenzfläche zwischen Gang und Nebengestein in der Sprache der Bergleute bedeutet; daß Föhren Kiefern sind, Schulpen Sepiaschalen, Etesien Sommernordwinde, Kalmen dagegen Windstillen; und Mastix, Macchien, Koloquinten oder Tamarisken verschiedene Pflanzen.
Die Leitmotive hingegen sind einfach und universal: das Meer, das Licht, die Dämmerung, der Wind, der Blick, die Jagd, das Heilige und die Schrift. Man mag zu Ovids Amores zurückgehen – oder an die Hochzeit des Lichts von Albert Camus denken. Das Schreiben und das Reisen verbindet Raoul Schrott so konsequent wie Ilija Trojanow, Hans Christoph Buch oder Christoph Ransmayr, das Interesse für die Naturwissenschaften teilt er mit Gottfried Benn, Durs Grünbein oder Hans Magnus Enzensberger.
Schrotts Liebesgedichte sind zugleich auch Reisenotizen, poetische Miniaturen oder Kurzessays, szenische Beschreibungen oder Aufzeichnungen aus einem Tagebuch. Ein besonderer Reiz liegt in ihrer Mehrdimensionalität. Ihr formaler und inhaltlicher Reichtum entspricht der Vielfalt des Gesamtwerkes dieses vielseitigen Schriftstellers. Raoul Schrott verfaßte Erzählungen (Tekro, 1996; Khamsin, 2002), Novellen (Ludwig Höhnel Totenheft, 1994; Die Wüste Lop Nor, 2003), Romane (Finis Terrae, 1995; Tristan da Cunha, 2003) und einen Expeditionsbericht (Die fünfte Welt, 2007). Er veröffentlichte literarische Essays (Fragmente einer Sprache der Dichtung, 1997; Handbuch der Wolkenputzerei, 2005), wissenschaftliche Studien (Dada 21/22, 1988; Dada 15/25, 1992; Die Musen, 1997; Homers Heimat, 2008), Anthologien (Die Erfindung der Poesie, 1993; N.C. Kaser Elementar, 2007) und Übersetzungen aus zahlreichen Sprachen (Euripides, Bakchen, 1999; Derek Walcott, Mittsommer, 2000; Gilgamesh, 2001; Homer, Ilias, 2008; Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten, 2010). Alle diese Arbeitsweisen und Darstellungsformen sind in die Liebeslyrik eingegangen.

3. Modelle
In ihren Originalfassungen also waren die Gedichte mit Orts- und Zeitangaben versehen, die Raoul Schrott für den vorliegenden Band gestrichen hat: „bukarest, 23.12.00“, „teheran, 21.10.01“, „galapagos, 2.4.02“. Was bedeutet es, wenn Liebesgedichte lokalisiert und datiert werden? Womöglich zweierlei: Jede Liebe hat ihren Raum und ihre Zeit. Daten und Details beglaubigen ihre Wirklichkeit. Sie ist bedingt durch gemeinsame Erfahrungen, gefärbt durch eine besondere Wahrnehmung und begrenzt auf Augenblicke, Aufenthalte, Abschnitte. Losgelöst und ewig scheint sie nicht zu sein. Dabei haben ihre Erlebnisse und Erinnerungen eine je eigene Schönheit, die Schrott sprachmächtig feiert, und eine je eigene Sinnlichkeit, die er eindrucksvoll vorstellbar macht: als Lichtspuren oder Schattierungen auf sich liebenden Körpern, als behutsame, aber bedeutungsvolle Berührungen, welche die Freude des Augenblicks ebenso ausmachen wie Geräusche, Gerüche und Geschmackseindrücke, die es für den Liebenden immer nur einmal gibt – an einem bestimmten Ort, zu einer gewissen Zeit, mit einer einzigen Person.
Was wiederum bedeutet es, wenn Liebesgedichte mit Glossen versehen, wenn sie gewissermaßen befußnotet werden? Liebe hat ihre Zusammenhänge und Hintergründe, die der Liebende in allerlei Sprachen und Tonlagen mitteilen kann. Aber sie speist sich auch aus Vorgeschichten und Traditionen, aus Wissensbeständen und Übereinkünften, aus Gefühlsvorlagen und Affektskripten, die erst bei genauer Betrachtung sichtbar werden. Liebe ist individuell und allgemein, zauberhaft und überliefert zugleich. Die „geometrie der gefühle“, wie sie ein Gedicht von Raoul Schrott benennt, kann beides sein: berechenbar und einzigartig.
Im Band Tropen glossierte Schrott das Gedicht, das unter den Liebesgedichten den Titel „Dämmerungserscheinungen I“ trägt, mit folgenreichen Kommentaren: „Wie man merkt, sind die namen austauschbar, besagte liebschaften ebenso, wenn nur der ort derselbe bleibt, dekor für die inszenierung einer sentimentalität, die nur der tonfall erträglich macht.“ Die Gedichte sind stets an eine reale Frau gerichtet. Der Liebende kann alle in einer, alle in seiner sehen. Aber die Namen der Geliebten erfahren wir nicht („nicht einmal deinen namen kannte ich“), es bleibt beim Pronomen: „du“ oder „sie“. Die Frauen können sogar überblendet werden. Nur die ewigen Vorbilder werden benannt, deren Rolle die Partnerin oder eine hübsche Kellnerin von Zeit zu Zeit aktualisiert: die sumerische Inanna, die babylonische Ishtar, die biblische Batseba, die griechische Aphrodite oder die römische Venus; Hafiz’ Shakh-i-Nabat, Petrarcas Laura, da Vincis Mona Lisa, Shakespeares Julia oder Einsteins Mileva – „ich suchte nach dir und dich in allen“, dichtet Schrott, „deren namen ich als deinen schrieb“. Es wird, wie eine weitere Glosse provokant pointiert, „die ewig gleiche rolle nur mit anderen schauspielerinnen besetzt“.
Wie die einzelnen Gedichte glossiert werden, so sind die Gedichtbände insgesamt essayistisch gerahmt. In den Aufsätzen, die sie eröffnen und beschließen, entwickelt Raoul Schrott theoretische Modelle, auf die seine Lyrik zu beziehen ist. Der Zusammenhang, den er im Weissbuch zwischen den Begriffen der Jagd, des Heiligen und der Liebe herstellt, führt von der Tierhatz über den Opferkult und die Religion bis zu säkularen Formen der Anbetung. Es bildet sich eine anthropologische Theorie der Liebeslyrik heraus. Der homo necans ist als homo venans zugleich ein homo venerans. Wenn das, was sich entzieht und daher erjagt werden muß, abgegrenzt und tabuiert, aber auch verehrt und für heilig erklärt werden kann, dann gilt dies noch heute für potentiell jedes Objekt der Begierde. Die Faszination des Heiligen beruht darauf, daß es entrückt und geheimnisvoll zu sein scheint: „das vordergründige alles unerreichbaren ist es was einen freier / von jeher anzieht“. Liebe ist die Auseinandersetzung mit etwas, das erreichbar wirkt und unerreichbar wird: mit dem Erhabenen, dem Heiligen – und dem Scheitern.
Schrott führt seine Geliebte in einen verlassenen Tempel, wo sie die Rolle der vormaligen Göttin einzunehmen scheint („Segesta“). Eine Silvester-Party verwandelt er in einen Aphrodite-Ritus, so daß das „du“ der Anrede von der Geliebten auf die Göttin übergehen kann („Erice“). Mit dem anthropologischen Modell der Verheiligung spielen burleske Jagd-Gedichte („Wildwochen“, „Szenen der Jagd“), die sich spaßhafterweise sogar eines einschlägigen Jargons bedienen („witterung aufnehmen“, „strecke legen“, „die flinte ins korn werfen“). Indem er von der ethnographischen zur zoologischen Beobachtung wechselt, kann der Dichter feststellen, daß die „paarungsrituale“ der „spezies mensch“ nicht wesentlich anders ablaufen als das „balzen“ beim „blaufußtölpel“.
Raoul Schrotts Gedichte zeichnen nuancierte Gefühle von feinsinniger Psychologie mit leisem Humor in kunstvoller Ästhetik. Zugleich deutet er schelmisch an, daß es sich um Standardsituationen handelt. Das Wort „Liebe“ scheut er nicht. Aber er erfindet auch witzige Neologismen, wie etwa die „taschenliebe“.
Eine besondere Rolle spielt die Schrift. Immer wieder werden Schreibformen beschrieben: als sanfte Bewegung der Finger über den Rücken des Partners, als Abdruck oder Spur der Körper im Sand, als Wellenspiel an der Oberfläche des Wassers, in das man einen Stein geworfen hat. Schrott betrachtet die Welt und die Liebe gleichsam mit semiotischem Blick: den Flug eines Vogels vor Wolken und Himmel, die Formen einer Düne, die Linien des Lichts, die Ausdrücke eines Gesichts oder die Posen einer Frau: „der körper ein einziges fragezeichen“.
In mehreren Arbeiten deutet sich an, welche Rolle die Lektüre spielt („was aus den gedichten anderer stammte“) – beziehungsweise ihre modernen Alternativen („vom monochromen blau eines plattencovers“). Entsprechend häufig zitiert Schrott ausgerechnet in seiner Liebeslyrik diverse Autoren einige von ihnen selten und überraschend, andere formelhaft und ironisch: Claudius Aelianus (der als „Reiseführer“ durch die Landschaft der Leidenschaft dient), Dante (der die „ländliche Freude“ der Jagd besang), Petrarca (der die Geliebte als „weiße Hirschkuh“ beschrieb), Wilhelm Jensen (Verfasser der Novelle Gradiva), Stephen Spender („Afternoon burns upon the wires of the sea“), Eugene O’Neili (Eines langen Tages Reise in die Nacht) und Philippe Soupault (für den der Dichter als Sekretär tätig war).
Liebe ist Literatur. Liebende sind Leser. Schrotts Figuren sind sich bewußt, daß sie vorgegebenen Verläufen folgen („lieb ich dich auf’s stichwort genau“, „die stimme des bauchredners“, „jeder szene ihre trink- und theaterregel“, „das aphrodisiakum der gestik / einer einstudierten lust“), daß sie sich zwischen festgelegten Formaten bewegen („belcanto“, „melodram“, „commedia dell’ arte“, „sie kennt die posen aus allen magazinen“), daß sie nach einem bereits geschriebenen Drehbuch spielen („jedes wort zurechtgelegt / als könnte einer von uns sich seine rolle wählen“).
Von Generation zu Generation werden die Verhaltenslehren des Verlangens weitergereicht. „You kiss by th’book“, sagte Juliet zu Romeo, als sich die berühmtesten Liebenden zum ersten Mal begegnet waren. Ihren Schöpfer zitierte Elvis Presley – in einem seinerseits klassisch gewordenen love song – als „jemanden“, der das Rollenspiel des Begehrens auf den Begriff gebracht hatte: „You know, someone said that ,the world’s astage‘ and each must play a part.“ In „Persone & Personaggi VII“ beschreibt Raoul Schrott eine Phantasie, in der sich Erlebnisse mit Filmszenen, Realität mit Einbildungskraft, Naturgenuß mit Kulissenbau überlagern und die Mechanik der Inszenierung mit „windmaschine“ und „geräuschemacher“ sichtbar wird. Wenn Octavio Paz die Erotik als Metapher der Sexualität begreifen konnte und die Liebe als Metapher der Erotik, dann ist Liebesliteratur eine Übertragung dritten Grades.
Immer wieder befinden sich Kunstwerke ,im Bild‘, vor allem antike Statuen, als „wiedergänger des augenblicks“: Aglauros und ihre Schwestern Herse und Pandrosos („das kleid angehoben über dem knöchel“); der Götterbote Hermes („die farbreste auf haaren und sandalen wie lippenstiftspuren“); oder ein Werk von Praxiteles („auf den kofferaufklebern dieses ehemaligen hotels“). Die Vorbilder stehen seit Jahrhunderten bereit – und haben längst Eingang in den Alltag gefunden.
Auch Motive der Populärkultur tauchen auf in der Sprache der Liebe: Jean Seberg und Audrey Hepburn (oder auch Katharine) als projizierte Verlockungen; Dracula („ein transsylvanischer / bettgänger schlägt mir die zähne ins herz“) und James Bond („der barkeeper gottes schüttelt nicht aber er rührt: / natürlich“) als erfolgreiche Verführer. Das Objekt der Verehrung kann mit einer griechischen Göttin oder mit einer Schauspielerin besetzt werden, die Rolle des Jägers mit einem archaischen Heros oder mit einem Geheimagenten. Die Figuren können Bezugspunkte bieten, Kontraste schaffen oder zur Selbstironie einladen. Denn auch das männliche ,lyrische Ich‘ hat sich gelegentlich als Kopie karikiert. Es tritt auf als ein Narr, der um die Vergeblichkeit weiß, aber nicht aufgeben kann, auf das zu hoffen, was Niklas Luhmann „eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit“ genannt hat: „es fehlte nur noch ein schnurrbart und öl für das haar und ich hätte mein bestes getan so wie immer“. – So wie immer? Raoul Schrott gelingt es, im Ureigenen das Archetypische zu begreifen, besondere Situationen originell zu beschreiben und zugleich ihre Prototypikalität durchschaubar zu machen. Wie nur wenige ist er imstande, ebenso hingebungsvoll wie beziehungsreich, genauso lustig wie lustvoll von der Liebe zu sprechen, ohne ihr ihren Zauber zu nehmen.
Ist der Wunsch, „daß nichts schon einmal war“, eine Magie des Augenblicks oder letztlich doch eine Täuschung? Wenn eigene Emotionen von den Erfahrungen und Aussagen anderer immer schon vorweggenommen sind, ergibt sich ein merkwürdiges Paradox. Ein authentischer Ausdruck des Gefühls könnte jenseits der Sprache liegen: in ihrem Scheitern oder im Verstummen. In „Castel di Tusa“ heißt es:

wir schwiegen: um nicht zu lügen.

Mitunter mag auch eine bloße Andeutung genügen, ein ,und so weiter‘, et cetera:

das hochgesteckte haar etc. etc.

Denn was folgt, folgt uralten Mustern. Es ist alles gesagt. Und doch ist gerade in diesem Bewußtsein ein eigener Ausdruck zu finden.

da ich ihre sprache nicht zur zufriedenheit
spreche, beschränke ich mich etc. etc.

Oliver Lubrich, Nachwort

 

Raoul Schrott erforscht die Ursprünge

des Dichtens in der Antike; er übersetzte zuletzt die Großepen Gilgamesh und Ilias, ging Homers orientalischen Einflüssen nach und bereiste ferne Regionen. All diese Interessen und Erfahrungen haben sich, genau wie seine Begeisterung für die Naturwissenschaften, auch in seinen Liebesgedichten niedergeschlagen. Zugleich erzählen seine Verse spannende Geschichten von wahrer und falscher Liebe, von Eifersucht, Enttäuschung, Verlangen und Begehren.

Insel Verlag, Klappentext, 2010

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&D + ÖM + KLGIMDb +
PIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.

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