Richard Pietraß: Zu Hans Brinkmanns Gedicht „Sisyphos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Brinkmanns Gedicht „Sisyphos“. –

 

 

 

 

HANS BRINKMANN

Sisyphos

So ist das mit seinen Mühen
der schiefen Ebene. Ja,
sie ist uns geneigt, verdammt.
Und ein einziger Ausblick: am Horizont scheint
Himmel auf Erden zu sein. Er blinzelt,
keine Hand frei, die Kräfte fehlen,
flucht er, springt zur Seite, rast,
rennt hinterher, sieht die Hoffnung zu Tal fahrn.
Erst ganz unten hat er sie wieder,
Kraft für ein Lächeln. Hier ist der Punkt,
wo er weiß, er kommt übern Berg,
er walzt ihn platt, der Verrückte,
nimmt Anlauf.

 

Die Hoffnung, übern Berg zu kommen

„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ So beendet Albert Camus seine 1943 veröffentlichten Überlegungen zum Mythos von Sisyphos, in welchem er den Helden des Absurden verkörpert sieht. Daß mit diesem Handlungsmodell eine entscheidende conditio humana umschrieben ist, wird nicht zuletzt dadurch erhärtet, daß sich bis heute und, wie mir scheint, in jüngster Zeit zunehmend, Künstler, Philosophen von ihm herausgefordert fühlen, so Hans Magnus Enzensberger („Anweisung an Sisyphos“, 1957), Wolfgang Mattheuer („Der übermütige Sisyphos“ und „Sisyphos behaut den Stein“, 1973) – Sensoren gegenläufiger sozialer Systeme. Enzensberger beklagt einen „Mangel an Männern, / das Aussichtslose tuend stumm“, fordert aber zugleich dazu auf, diese Aussichtslosigkeit in Zorn zu verwandeln, den Zorn zu vermehren in der Welt, der allein – das wird nahegelegt – hier noch etwas ändern könne: durch Umsturz der Verhältnisse; Umschlag der Quantität zum qualitativen Sprung, der – schöne Hoffnung – Sisyphos von der unausgesetzten Reproduktion seiner Situation befreit.
Der von den Göttern zu ewigwährender Unterweltsfron Verurteilte wird auch uns noch zum Vehikel für die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens, in welchem jeder von uns zumindest Sisyphosanteile zu entdecken vermöchte. Pessimisten scheint es nichts anderes bereitzuhalten. Die Skala der möglichen Reaktionsmuster ist breit und bekannt: sie reicht von resignativer· (das heißt lediglich der übermacht der Verhältnisse folgender) Unterwerfung und bewußter (innerer Einsicht folgender) Subordination (Jean Améry . „… Mensch mit Würde“) bis zu passiver. Verweigerung (die Selbsttötung ihre Extremform) und aktivem Aufbegehren gegen das scheinbar Unabwendbare. Es entspräche der Erwartung, versuchten junge Individuen einer noch jungen Gesellschaftsform in stärkerem Maße jene stolzen, aufbegehrlichen Reaktionsweisen. Mattheuers Sisyphos versetzt einmal dem Stein einen Tritt („Der übermütige Sisyphos“), eine Reaktion, die – wäre nicht der Titel – verschieden ausgelegt werden könnte (Zorn, Sportgeist, Monotonieminderung), das andere Mal signalisiert er durch das symbolische Behauen (fünf Finger werden zur Faust l) des Steins die Hoffnung auf kollektive Bewältigung des individuell nicht Erzielbaren, öffnet er den Blick in eine neue Denkebene, über der das Sternwort Solidarität leuchtet…
Hans Brinkmann – und darin besteht seine Leistung – weist in seinem Gedicht „Sisyphos“. (1980) der überwindenden Hoffnung eine Chance hinzu: die der Dauer. Sie besteht, ganz im Bilde bleibend, in der vermuteten Erkenntnis – und die Strafarbeit ist ja auf lange, lange gedacht – den Berg der Mühsal arbeitend abzuflachen, abzutragen, wortwörtlich abzuarbeiten. Dies mag dem einzelnen, mag. Generationen wenig tröstlich sein. Dennoch nimmt es der Arbeit, den Sisyphoscharakter. Die Aufgabe wird menschheitlich. Fortschritt,“ wenn auch unmerklich schleichend, scheint möglich – ausreichender Grund, Anlauf zu nehmen.
Der reimlose, freirhythmische Gedichttext bleibt ganz beim tradierten Vorgang. Er zeigt Sisyphos bei der Arbeit, wenngleich in leichter Distanz, die Raum läßt für Betrachtung und Autorkommentar. Dreimal (1., 4. und 9. Zeile) wird die Überraschungskraft des Zeilenbruchs genutzt. überzeugender als Volker Brauns behauptendes „Die Ebene ist wieder ein Berg“ gelingt es Brinkmann, die prinzipielle Identität von Berg und Ebene zu formulieren, indem er, zusätzlich eine Wendung Brechts nutzend, von den „Mühen / der schiefen Ebene“ spricht. Der delikate Einsatz des Wortes „geneigt“ suggeriert, daß Geneigtheit nicht nur Geschenk, Zuneigung, sondern zugleich Aufgabe, Herausforderung bedeutet. Brinkmann – bei aller gedanklichen Durchdringung seines Themas – vertraut, und hier sehe ich ihn als Vetter Uwe Greßmanns und Volker Brauns, den Geschenken der Sprache. Innerhalb der eigenen Generation steht er damit in einer Reihe mit Bert Papenfuß und dem noch unbekannten Dieter Schulze, die wie er begriffen haben, daß Dichtung nicht nur sprachbedingt, sondern auch sprachbezogen ist. Das läßt ihn erkennen, daß am Horizont (welch Pikanterie!) „Himmel auf Erden“ ist, und mit dem Stein sehen wir Sisyphos’ „Hoffnung zu Tal fahrn“. Den Tiefpunkt macht Brinkmann zum Punkt ihrer Erneuerung. Von da kann es, sehr einleuchtend, nur noch aufwärts gehen.
Den kühnen Ansatz des plattzuwalzenden Berges hatte ich, ich bekenne es, zunächst nicht verstanden weil – den Massenverhältnissen von Stein und Mensch entsprechend – ich Sisyphos plattgewalzt herauslesen zu müssen glaubte. Da mich dies nicht befriedigte, gab ich dem Autor den sprachbezogenen, doch wegführenden Rat, so zu enden:

Hier ist der Punkt,
wo er weiß, er kommt übern Berg,
der ihn überkommt.

Richard Pietraß, neue deutsche literatur, Heft 7, Juli 1980

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