Robert Gernhardt: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Auslassungen eines Märtyrers“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Auslassungen eines Märtyrers“. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Auslassungen eines Märtyrers

1
Ich zum Beispiel spiele Billard in der Bodenkammer
Wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt ist und pißt
Meine Mutter sagt jeden Tag: es ist ein Jammer
Wenn ein erwachsener Mensch so ist

2
Und so etwas sagt, wo ein anderer Mensch nicht an so etwas denkt
Bei der Wäsche, das ist schon krankhaft, so was macht ein Pornografist
Aber wie mir dieses Blattvordenmundnehmen zum Hals heraushängt
Und ich sage zu meiner Mutter: was, kann denn ich dafür, daß die Wäsche so ist!

3
Dann sagt sie: so etwas nimmt man nicht in den Mund, nur ein Schwein
Dann sage ich: ich nehme es ja nicht in den Mund
Und dem Reinen ist alles rein
Das ist doch ganz natürlich, wenn einer sein Wasser läßt, das tut doch jeder Hund

4
Aber dann weint sie natürlich und sagt: von der Wäsche! und ich brächte sie noch unter die Erde
Und der Tag werde noch kommen, wo ich sie werde mit den Nägeln auskratzen wollen
Aber dann sei es zu spät, und daß ich es noch merken werde
Was ich an ihr gehabt habe, aber das hätte ich dann früher bedenken sollen.

5
Da kannst du nur Weggehen und deine Erbitterung niederschlucken
Wenn mit solchen Waffen gekämpft wird, und rauchen bis du wieder auf der Höhe bist
Dann sollen sie eben nichts von der Wahrheit in den Katechismus drucken
Wenn man nicht sagen darf, was ist.

 

Liebe contra Wahrheit

„Du sollst Vater und Mutter ehren“, verlangt das vierte Gebot, doch scheint diese Forderung die Dichter, zumal die der Neuzeit, nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Während sie in ihren Werken die Väter bis zum Mord befehden, wird der Mutter in der Regel statt bloßer Verehrung schiere Liebe entgegengebracht, so, als habe es der Sprößling nicht mit einem Elternpaar zu tun, sondern mit zwei einander fremden, ja feindlichen Prinzipien, mit Hirn und Herz, Schwarz und Weiß, Böse und Gut. Brecht macht da eine Ausnahme: Er hadert mit seiner Mutter. Ja, seiner, da das Gedicht getrost autobiographisch gelesen werden kann: Nicht irgendein lyrisches Ich redet da, der Jungdichter Brecht sagt „Ich“, weil er das Wort in eigener Sache ergreifen muß. Sein unaufdringlich kunstvolles Plädoyer wendet sich in kreuzgereimter Alltagssprache an einen Zuhörer, den er zum Zeugen, wenn nicht zum Richter in Sachen Sohn contra Mutter aufruft: Wer hat nun recht – Berthold (der sich später Bertolt nannte) oder Sophie Brecht?
Der neunzehnjährige Sohn hat – offenbar nicht zum ersten Mal – von der Wäsche gesagt, sie „pisse“. Ein Vater hätte sich solche Ausdrucksweise brüsk verbeten, die Mutter arbeitet mit subtileren Strategien. Sie sorgt sich: Du bist krank, mein Sohn. Sie grämt sich: Du bist kein Mensch, mein Sohn. Und sie wehrt sich, indem sie den Sohn unter Tränen zum potentiellen Muttermörder stempelt:

Und der Tag werde noch kommen, wo ich sie werde mit den Nägeln auskratzen wollen.

Die Mutter klagt nicht Gehorsam ein, sondern Liebe. Wer seine Mutter liebt, unterdrückt ihr zuliebeWorte wie „pissen“. Ja, er denkt sie nicht einmal, schon gar nicht „von der Wäsche!“, wenn er nicht den Tod der Mutter riskieren will. Der Sohn hat auf den ersten Blick denkbar schlechte Karten. Muß er denn wirklich so von der Wäsche reden? Handelt es sich bei deren „Wasserlassen“ nicht lediglich um die Übertragung von Belebtem auf Lebloses, um eine Metapher also? Wiegt metaphorischer Sprachgebrauch den möglichen Tod der Mutter auf?
Im Namen der Wahrheit des Katechismus verweigert der Sohn jedwedes Blattvordenmundnehmen, doch meint er – in Wahrheit – die Wahrheit der Kunst und die Freiheit des Dichters, koste es, was es wolle, aber auch wirklich alle Worte und Bilder zu denken, zu sagen und niederzuschreiben, die dieser Kunstwahrheit dienen.
Brecht hat sein Plädoyer in eigener Sache zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, den Prozeß jedoch in weiteren Gedichten fortgeführt. 1920 starb die Mutter an Krebs, und der Sohn gedachte ihrer im achten seiner im selben Jahre veröffentlichen Psalmen, „Lied von meiner Mutter“, deren sechste und siebte Strophe lauten:

Oh, warum sagen wir das Wichtige nicht, es wäre so leicht und wir werden verdammt darum. Leichte Worte waren es, dicht hinter den Zähnen, waren herausgefallen beim Lachen, und wir ersticken daran in unserem Halse.

Jetzt ist meine Mutter gestorben, gestern, auf den Abend, am 1. Mai!
Man kann sie mit den Fingernägeln nicht mehr auskratzen!

Ein Schuldbekenntnis? Vielleicht. Aber keine Abbitte. Ein Gedicht, das zwei Jahre später entstand und sieben Jahre später die Sammlung der Hauspostille beschließen sollte, „Vom armen B. B.“, redet eine deutliche Sprache. „Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. / Meine Mutter trug mich in die Städte hinein / Als ich in ihrem Leib lag“, heißt es da, aber auch:

Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen.

Was die aus dem Schwarzwald stammende Mutter wohl dazu gesagt hätte? Vermutlich: „Von den Tannen!“

Robert Gernhardt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.1.1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00