Robert Gernhardt: Zu Erich Kästners Gedicht „Das letzte Kapitel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Kästners Gedicht „Das letzte Kapitel“. –

 

 

 

 

ERICH KÄSTNER

Das letzte Kapitel

Am 12. Juli des Jahres 2003
lief folgender Funkspruch rund um die Erde:
daß ein Bombengeschwader der Luftpolizei
die gesamte Menschheit ausrotten werde.

Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest,
daß der Plan, endgültig Frieden zu stiften,
sich gar nicht anders verwirklichen läßt,
als alle Beteiligten zu vergiften.

Zu fliehen, wurde erklärt, habe keinen Zweck.
Nicht eine Seele dürfe am Leben bleiben.
Das neue Giftgas krieche in jedes Versteck.
Man habe nicht einmal nötig, sich selbst zu entleiben.

Am 13. Juli flogen von Boston eintausend
mit Gas und Bazillen beladene Flugzeuge fort
und vollbrachten, rund um den Globus sausend,
den von der Weltregierung befohlenen Mord.

Die Menschen krochen winselnd unter die Betten.
Sie stürzten in ihre Keller und in den Wald.
Das Gift hing gelb wie Wolken über den Städten.
Millionen Leichen lagen auf dem Asphalt.

Jeder dachte, er könne dem Tod entgehen.
Keiner entging dem Tod, und die Welt wurde leer.
Das Gift war überall. Es schlich wie auf Zehen.
Es lief die Wüsten entlang. Und es schwamm übers Meer.

Die Menschen lagen gebündelt wie faulende Garben.
Andre hingen wie Puppen zum Fenster heraus.
Die Tiere im Zoo schrien schrecklich, bevor sie starben.
Und langsam löschten die großen Hochöfen aus.

Dampfer schwankten im Meer, beladen mit Toten.
Und weder Weinen noch Lachen war mehr auf der Welt.
Die Flugzeuge irrten, mit tausend toten Piloten,
unter dem Himmel und sanken brennend ins Feld.

Jetzt hatte die Menschheit endlich erreicht, was sie wollte.
Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human.
Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte,
völlig beruhigt, ihre bekannte elliptische Bahn.

 

Ende schlecht, alles gut

– Erich Kästners Weltuntergang. –

Heute, am Samstag, dem 12. Juli des Jahres 2003, beginnt das letzte Kapitel der Menschheitsgeschichte, und wir können sagen: Wir werden dabeigewesen sein. Ein Funkspruch wird den Anfang machen, ausgesandt von der Weltregierung. Er wird uns mitteilen, daß wir im Interesse des Weltfriedens am morgigen Sonntag alle werden sterben müssen. An diesem 13. Juli dann werden eintausend Flugzeuge der Luftpolizei mit Hilfe von Massenvernichtungsmitteln alles Leben von der Erde tilgen, und es wird niemand übrigbleiben, uns von diesem Todeskampf zu berichten:

Keiner entging dem Tod und die Welt wurde leer.

Was tun? Ein, zwei, viele Apfelbäumchen pflanzen? Ich weiß einen besseren Vorschlag. Schauen wir uns die triste Botschaft und ihren Überbringer doch einmal genauer an: Sind die überhaupt vertrauenswürdig? Da sind Zweifel erlaubt.
Beim ersten Lesen vermag das katastrophale Szenario noch Bedenken zu übertönen. Leben wir nicht alle mit der seit archaischen Zeiten tiefverwurzelten Gewißheit, daß uns, dem Menschengeschlecht, irgendwann die Rechnung für unsere verfehlte Lebensweise präsentiert werden wird? Eine Zweitlektüre aber offenbart einen verdammten Bruch in der Logik: Der ganze Weltuntergang wird ja im Präteritum erzählt! Einer muß demnach überlebt haben. Wie reimt sich das auf „Keiner entging dem Tod“? Natürlich gar nicht, es sei denn, man unterstellte ein lyrisches Ich, dem kein Gift der Welt etwas anzuhaben vermag. Doch weshalb erhebt es die Stimme, wo doch niemand mehr zu hören kann?
Halten wir uns also lieber an den Lyriker selbst, den bei Abfassung des Gedichts einunddreißigjährigen Erich Kästner. Der legt 1930 nach Herz auf Taille und Lärm im Spiegel seinen dritten, ungewohnt düsteren Gedichtband vor: Ein Mann gibt Auskunft. Im vorletzten Gedicht dieser Sammlung wirft er eine Frage auf:

Und wie immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
„Herr Kästner, wo bleibt das Positive?“
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

In weiteren sieben Strophen macht er sich auf die Suche, ohne Erfolg:

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich’s hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?

„Das letzte Kapitel“ beschließt die Sammlung, ein Gedicht, das auch als Antwort auf die Frage „Herr Kästner, wo bleibt das Negative?“ gelesen werden kann. Davon nun weiß Kästner eine Menge aufzutischen, wobei er sich einige aparte Zutaten hat einfallen lassen: Er verlegt die endgültige Ausrottung der Menschheit auf einen Zeitpunkt, der seinen eigenen Lebenshorizont deutlich übersteigt, er reimt das böse Ende hübsch kreuzgereimt zusammen, und er bricht mit dem Futur, in welchem Prophezeiungen üblicherweise vorgebracht werden:

Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel, denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.

So spricht Gott im ersten Buch Moses, Kapitel sechs, und hätte er nicht ein Wohlgefallen an Noah gefunden, dann wäre das letzte Kapitel bereits viel früher geschrieben worden. So aber konnte sich Kästner den subtilen Scherz erlauben, rückblickend vom Ende der Menschheit zu berichten – der Rest freilich ist nicht so lustig.
Wie mögen Kästners Zeitgenossen „Das letzte Kapitel“ gelesen haben? Kurt Tucholsky, der Ein Mann gibt Auskunft kurz nach Erscheinen in der Weltbühne eingehend und eindringlich besprochen hat, erwähnt mehrere der Gedichte des Bandes, auch „das unsereinem aufs Fell geschriebene Gedicht ,Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner‘“. Zum „Letzten Kapitel“ findet er keine Worte. Weil’s noch so weit weg war?
Zeit vergeht, und als Eva Demski das Gedicht am 13. Oktober 2001 in der Frankfurter Anthologie vorstellte, war nicht nur die Frist bis zum 13. Juli 2003 schon erheblich zusammengeschmolzen, da hatte auch vor allem ein Vorgang den Blick auf das Gedicht entscheidend verändert:

Die jüngsten Ereignisse haben den Staub von diesen Zeilen gefegt, und die Katastrophenbilder des Gedichts können nicht mehr als Metaphern gelesen werden.

Bei den „jüngsten Ereignissen“ denkt Eva Demski selbstredend zuerst an den 11. September, dann aber auch an Öko-Fanatiker, „die die Abschaffung des Menschengeschlechts zur Rettung der Natur für geboten halten“.
Was aber verbindet all jene, denen jedes Mittel genehm ist, sofern es nur dem einen, dem großen, dem alles rechtfertigenden Ziel dient? Es ist der totalitäre Terrorismus, der sich in der Wahl seiner Ausrottungsmethoden je länger, desto enger dem Kästnerschen Endzeit-Szenario angeglichen hat: Sind sie uns nicht allesamt schrecklich vertraut, diese fliegenden Selbstmordkommandos mit ihren biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen? Selbst daß der finale Flug ausgerechnet in Boston gestartet wird, bewirkt einen gewissen Wiedererkennungseffekt.
Kein Zweifel – Kästners Visionen sind zum Teil von der Wirklichkeit eingeholt worden, und Kästner-Lesern ist das nicht entgangen. Das Gedicht, höre ich, wurde der Redaktion dieser Zeitung in den letzten Monaten ungewöhnlich häufig zugeschickt, unverlangt und unaufgefordert. Weshalb? Ich vermute, als Botschaft. Ihr Inhalt: Da sagt’s mal einer!
Aber was sagt er eigentlich, der Kästner? Hat er wirklich bereits vor Jahrzehnten Totalitarismus und Terrorismus angeprangert? War er nicht vielmehr im tiefsten Grunde seines Herzens davon überzeugt, die Menschheit habe kein besseres Ende verdient?
„Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben“, heißt es im Gedicht von der Frage nach dem Positiven. Und in einer makabren Ballade, in „Maskenball im Hochgebirge“, läßt Kästner alle Gäste eines Berghotels verrückt werden und nachts über die Hänge rasen. Nicht ohne Folgen:

Das Gebirge machte böse Miene.
Das Gebirge wollte seine Ruh.
Und mit einer mittleren Lawine
deckte es die blöde Bande zu.

Hat dieses Ende nicht eine verfluchte Ähnlichkeit mit dem der Erde, die endlich still und zufrieden, „völlig beruhigt“, ihre bekannte Bahn rollt? Und steckt hinter solch finaler Ruhestiftung letztlich nicht noch immer ER, der zu Zeiten Noahs schon einmal das letzte Kapitel geplant und eingeleitet hatte? Nur ER kann vom Weltuntergang in der Vergangenheitsform reden, da allein ER außerhalb der Bedingtheiten von Zeit und Raum steht. Ja, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als ob ER im „Letzten Kapitel“ sein Inkognito fast überdeutlich lüftet: ERich KästnER.

Robert Gernhardt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.7.2003

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