Robert Zenke: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Einen jener klassischen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Einen jener klassischen“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. 

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Einen jener klassischen 

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

 

Der Augenblick der Sensibilität 

Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Einen jener klassischen“ gehört zu einer Gruppe von Gedichten, die zwischen 1970 und 1974 geschrieben und zu dem Band Westwärts 1 & 2 zusammengestellt worden sind. Sie knüpfen an ein Programm für Lyrik an, das Brinkmann 1968/69 ,formuliert‘ hat – in seinem Gedichtband Die Piloten, aber vor allem in seinem Essay zu den von ihm übersetzten Gedichten Frank O’Haras und in seinem Nachwort zur Anthologie ACID – Neue amerikanische Szene.
Die Anthologie ACID, in der Brinkmann mit Ralf-Rainer Rygulla die amerikanische Underground-Kultur der sechziger Jahre beispielhaft vorstellte, war als Kampfansage gedacht gegen einen „total blinden Begriffsfetischismus“ der politischen „Avantgarde“, gegen die Lustfeindlichkeit und Unsinnlichkeit „überanstrengter Reflexion“, gegen eine „die Spontaneität künstlerischer Tätigkeit“ manipulierende dialektische Methode. Die Kampfansage wurde auch so verstanden in einer Zeit, die im Zeichen der kritischen Reflexion, der Weiterentwicklung politischer Theorie und Praxis stand. Martin Walser führte stellvertretend den Gegenangriff; er sah in den Verkündern dieser „neuesten Stimmung“ Hersteller von „Bewußtseinspräparaten“ für einen möglichen Faschismus. So wurde verstellt, was dieser subjektive und private Bruch mit der alten „Angst-Szene“ Kultur – ein solcher Bruch war ACID in erster Linie – für Brinkmann und sein Schreiben bedeutete.
Die Überlegenheit der marktunabhängigen Underground-Literatur und -Kultur über die westeuropäische, vor allem deutsche Literatur besteht für Brinkmann zunächst darin, daß sie keine „alteingenisteten, verinnerlichten“ Vorprogrammierungen und Vorurteile sprengen muß, wenn sie sich auf Gegenwart einläßt: Ihr Stoff liege da, müsse nur aufgehoben werden; das Nächstliegende, das unmittelbar Greifbare, alles könne „die Absprungbasis“ für Literatur sein. Bei uns dagegen verhinderten der „Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter“ herrschender Ausdrucksformen und „die vorhandenen Reflexionsbarrieren“ ein Empfinden und Vorstellen dessen, was für den einzelnen erfahrbare und erfahrene Welt sei. Brinkmanns Stoßrichtung geht also gegen abstrakte, bilderlose, unsinnliche Muster, in denen das Leben eingekapselt ist. Kritisiert wird einerseits eine Literatur, für die es Sachen nur in Form von Wörtern gibt und für die ein im Grunde verdinglichtes Sprachmaterial allenfalls Konstellationen bilden kann; andererseits eine Literatur, die die ,Idee‘ des Menschen vor den Menschen stellt und das Individuelle zurücknimmt im Interesse gesellschaftlicher Forderungen und Inhalte. In beiden Fällen, sagt Brinkmann, stelle sich das Ich tot. Nötig sei „Dasein, einfach nur: Dasein“ – wie z.B. in der Lyrik Frank O’Haras. O’Hara gehe in der alltäglich-gewöhnlichen Umwelt New York nicht als Autor umher, der das Erfahrene umstilisiert „zum bloßen Beleg für irgendetwas“ oder im Sinne einer „höheren“ Absicht und Idee, sondern als ein physisch und psychisch Beteiligter, der das, was sich ihm im Augenblick anbietet, direkt annimmt und verbindet mit der gegenwärtigen psychischen Disposition:

Die Schlagzeile vom Zusammenbruch der Filmschauspielerin Lana Turner […] ist Teil dieses einen Tags, Teil der in diesem Augenblick vorhandenen Emotion des Autors, der eilig herumläuft. […]

 Eine derartige „neue Sensibilität“ will nicht verleugnen, daß, was immer das Subjekt „sammelt“, „Oberfläche“ ist. Soll heißen: das Ich greift die Dinge zuerst einmal so auf, wie sie sich exponieren, ohne sie ihrer Eigenart zu entkleiden, ohne sie auf Funktionen hin „durchschauen“ zu wollen, ohne durch eine besondere Sehweise Wesenhaftes herauszufiltern; es beläßt ihnen selbst ihre Trivialität und Banalität. Aber die „Oberfläche“ sendet zugleich Reize, denen sich das Ich aussetzt „wie zum ersten Mal“, durch die es sozusagen überrascht wird. Gleichzeitig werden sie nur empfangen, wenn Erleben und Sentiment dafür disponiert sind, wenn sich das Ich öffnen, als betroffen erfahren kann. Dadurch entsteht im Gedicht keine Verdoppelung der „Oberfläche“ oder eine bloße Abhängigkeit von Objektreizen; das empfindende und wahrnehmende Subjekt ist vielmehr Teil seiner Funde, die nur so, wie sie in den Text gelangt sind, von ihm gemacht werden konnten. Diese durchaus subjektiv geprägte Sensibilität für die „Oberfläche“, an deren „Stromkreis“ sich das Ich wie beschrieben anschließt, setzt allerdings eine möglichst weitgehende Abkehr von einer poetischen Kunstsprache voraus, einer symbolischen, metaphorischen, dekorierenden, überhöhenden, und die Öffnung zu einer die Umwelt nicht absorbierenden „rohen, unartifiziellen Formulierung“ (Nicolas Born).
Brinkmanns O’Hara-Lektüre enthält noch einen wichtigen Aspekt, der in der Notiz zum Gedichtband Die Piloten deutlicher wiederkehrt. Er skizziert eine Theorie des kreativen Augenblicks. O’Haras Ich ist jetzt und jetzt mitten in seiner Umwelt, mit ihr verschränkt in einer „punktuellen Situation“, Brinkmann nimmt den Gedanken in seiner Notiz auf und präzisiert:

Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts mehr steht scheinbar isolierte Schnittpunkte.

Der „snap-shot“ ist demnach die in einem zufälligen Ausschnitt („isolierte Schnittpunkte“) erstarrte, an sich konfuse „Oberfläche“; „auf der Rückseite ist nichts“, wie Brinkmann genauer in seinem O’Hara-Essay sagt. Das heißt zweierlei: einerseits, daß es keine Hierarchie der Bilder gibt (Ledanff, S. 253); andererseits auch, daß die alltägliche ,Wirklichkeit‘ nicht mehr als Ganzes erfaßbar, nur im jeweiligen Moment registrierbar ist. Das je einzelne wird nun hier und jetzt unmittelbar, spontan aufgenommen, wenn die „Empfindlichkeit“ dafür da ist, wenn es fasziniert. Ist das der Fall, erfährt sich das Ich im Snap-shot zugleich sinnlich deutlich. Damit hat Rolf Dieter Brinkmann das Verhältnis zwischen Auslöser und Gedicht beschrieben… So weit die Theorie, jetzt die poetische Praxis.
„Einen jener klassischen“ – der Titel hält hin durch Aussparung, macht noch keinen Sinn, spannt die Erwartung. Der Leser gerät gleich in den Sog eines die Zeile überspringenden offenbar ausholenden Satzes und stellt sich auf Vorläufiges ein. Zugleich hebt ein Rhythmus an, der schwer und bedeutend voranschreitet bis zu dem auftaktlos und im gleichmäßigen Wechsel von betonter und unbetonter Silbe vorgetragenen „schwarzen Tangos“ – womit zwar das erwartete Objekt bestimmt ist, nicht aber seine offensichtliche Merkwürdigkeit für das Ich, das hier emphatisch spricht. Noch spricht; denn abrupt wechselt die Tonlage, wird lakonisch-sachlich. Das Ich schiebt ,Erklärungen‘ ein, zögernd und um Genauigkeit bemüht; es notiert die Daten seines mit dem Ohr wahrgenommenen Fundes, Ort und Zeit, scheinbar Belangloses, möchte der Leser voreilig urteilen: in Köln Ende August nach Ladenschluß aus der Wirtschaft eines Griechen. Aber einmal scheint durch, wie beteiligt das Ich ist: Der Sommer sei „schon / ganz verstaubt“ (2f.), also nicht nur staubig von langer Hitze, sondern abgelebt oder mit einem Brinkmann-Wort:

abgewrackt.

Derart hinhaltend, Erwartungen aufbauend und zugleich irritierend wiederholt das Ich in einer Satzbewegung, was in einem Augenblick beinahe wie ein Wunder erfahren wurde. Wie ein „Wunder“ (7)? Eher wie ein Wunderwerk, das den öden Alltag blitzartig mit einem Glanz aufhellt. Brinkmann konkretisiert und verstärkt das Außerordentliche noch dadurch, daß das Ich den Tango in einer ihm unmittelbaren, scheinbar vertrauten Umgebung wahrgenommen hat, „in dieser Straße“ (10). Aber in ihr funktionierte das Ich nur, war seine Umwelterfahrung offenbar ausgehöhlt. In ihr, „die niemand liebt und atemlos / macht; beim Hindurchgehen“ (11f.), schien es nur zu passieren, ohne zu begegnen, innezuhalten, ohne bei sich, ohne wahrhaft heimisch zu sein; sich entfremdet durchhetzte es diese Straße. Hier nun trifft der Tango den Eilenden unvorbereitet und ruft etwas in ihm ab wie zum ersten Mal. Dies wird allerdings nur in seiner Wirkung auf das Ich benannt, genauer: in seiner entlastenden und befreienden Wirkung. Das Ich erfährt sich gleichsam überrascht in seiner ,Empfindlichkeit‘, wird sich sinnlich deutlich, sieht sich herausgenommen aus dem laufenden Verkehr, in dem es atemlos zirkulierte, atmet auf und erlebt die unerwartete Ruhe, „eine Pause in dieser Straße“ (10), wie eine eigene Totalität. Das alles geschieht aber nur „für einen Moment“ (7, 8, 9).
Für einen Moment – das heißt zunächst, daß der schwarze Tango plötzlich „da“ ist, einfach „da“ ohne Rückkoppelung an einen zeitlich voraufgegangenen Moment und ohne ideellen Zusammenhang mit anderen Dingen; daß er wie ein Snap-shot ist, von der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar, als wäre der Tango noch nie zu hören gewesen, fixiert und damit herausgelöst aus einem nur in seiner Konfusion erfahrbaren Alltag. Deshalb evoziert Brinkmann den Tango am Anfang seines Gedichtes in einem so eindrücklichen Ton. Für einen Moment – das heißt nun auch, daß das Ich durch seine Wahrnehmung ,aktualisiert‘ wird im Jetzt, gebannt im Augenblick seiner Hörerfahrung und für sich allein ist in einer ,punktuellen Situation‘, in einer „Pause“ in dieser Straße, die ihr eigenes Tempo hat. Aber der Moment ist bedroht durch das Fortschreiten der Zeit, kann nicht „verweilen“, transzendieren zu einem Ganzen wie etwa bei Goethe. Augenblick reiht sich an Augenblick als kleinste Erlebniseinheit und damit herausgeschnitten Ding an Ding, ohne daß ein Zusammenhang, eine Synthese gestiftet werden kann. Das schärft den Nerv für das Enteilende, Vergängliche des Moments, in dem die Wahrnehmung da und das Ich sich deutlich ist. Und das Ich muß festhalten im Notat, was flüchtig ist und sonst verloren:

Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch
(12–16). 

Peter Handke notiert in seinen Notizenfragmenten zur Laudatio anläßlich des Petrarca-Preises für Brinkmann 1975:

Heimat: kein Zustand, keine Offerte, sondern Zufall, Sekunden.

Das trifft gerade auf das Gedicht „Einen jener klassischen“ zu. Es stellt diese „Sekunde“ dar, in der das Ich ganz bei sich ist, in sich ruht, aufatmet, für einen Augenblick herausgehoben, nicht entfremdet in einem hektischen Großstadtalltag: einen Glücksmoment. Das Subjekt ist nicht verdrängt, kann sich behaupten in einer gesteigerten Sensibilität, sprengt das in der Straße ,eingekapselte Leben‘ auf und ist da. Doch diese Individuation geschieht im Stadium einer besonderen Empfänglichkeit, zufällig ausgelöst durch den Tango, für den das Ich zur Zeit ein Ohr hat und so sein eigenes Gesicht erkennt. Das ist ein schöner Lebensmoment, aber ein flüchtiger, keine ,Offerte‘ für den Feierabend nach Ladenschluß; zu schwer lastet die „verfluchte dunstige Abgestorbenheit Kölns“. Brinkmann verstärkt die zufällige Intensität des Daseins noch dadurch, daß er sie in Opposition setzt zu der abgelebten Öde, in der das Ich sich dennoch für einen Moment findet, in Opposition zu dem metaphorischen Beziehungsgeflecht aus „ganz verstaubt“, „Abgestorbenheit“, „verlöschen“. Und indem er dies tut, weist er nachdrücklich darauf hin, daß der Glücksmoment, in dem das Ich sich in seiner Sensibilität erfährt, immer wieder absorbiert wird von der toten und gespenstischen, lebensfeindlichen alltäglichen Großstadt. Darin steckt sicherlich auch Kritik am Alltagsleben (Ledanff, S. 252), vor allem jedoch Rebellion gegen die Subjektverdrängung und ein Appell zu einer die ,Wirklichkeit‘ aufbrechenden sinnlichen Wahrnehmung.
„Ich / schrieb das schnell auf“: Das Gedicht „ist“ natürlich nicht, wie nicht zuletzt das Präteritum zeigt, der Augenblick der ästhetischen Erfahrung des die Straße passierenden Ich. Es wiederholt im Bewußtsein des schreibenden Autors die Ekstase des überraschenden Moments, indem es die Zufälligkeit, Spontaneität und Intensität der Wahrnehmung in die Struktur des Gedichts übersetzt – in jenem vorangestellten, emphatisch herausgehobenen Fund, dem klassischen schwarzen Tango, der so unerhört ist, daß sich das Subjekt seiner durch knappe, abgebrochene, gleichsam vortastende Bestimmungen vergewissern muß. Aber das Gedicht übersetzt eben. Und bei aller Evokation, die den unerwarteten Wahrnehmungsmoment erneuert, fällt doch die Kontrolle des Schreibenden auf, man denke z.B. an das dreifache anaphorische, insistierende „für einen Moment“ oder die hergestellten metaphorischen Bezüge. Hier reflektiert jemand über den Snap-shot, diesen zufälligen Ausschnitt aus einer unendlichen Bildkette, aus ewigen Vorgängen und Bewegungen, in dem sich das Ich als für den Augenblick sinnlich aufnahmebereit erkennt. Hier macht sich jemand etwas klar, ordnet ein, stellt Zusammenhänge her und schließt so das Gedicht. Er bewahrt zwar den Moment, aber er hebt auch zugleich das Transitorische auf. Deshalb hat Rolf Dieter Brinkmann andere Gedichte, Gedichte wie „Westwärts“, „Sonntagsgedicht“ oder „Roma di Notte“, konsequent geöffnet, hat er die Augenblickswahrnehmung aus ihrer funktionalen Vermittlung gelöst und das so isolierte Wirklichkeitsfragment, das für sich ganz gegenwärtig ist, simultan gesetzt, auch typographisch. Der Augenblick ist hier nicht mehr ein besonderer, umgrenzter; sondern entspricht disparaten Ding- und Vorstellungszusammenhängen, die einfach da sind jetzt und jetzt, ohne daß das Ich im Mittelpunkt steht, so als könne es noch eine Einheit stiften, die orientiert. Doch das ist ein neues Kapitel der Poetik in Rolf Dieter Brinkmanns lyrischem Werk. 

1

Thomas Zenke, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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