Rolf Schneider: Zu Georg Trakls Gedicht „Grodek“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Grodek“ aus Georg Trakl: Gedichte. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Grodek

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

 

Sein letztes Gedicht

Dies ist das Gedicht eines siebenundzwanzigjährigen Mannes. Es ist das Gedicht eines Selbstmörders und das letzte, das er schrieb vor seinem selbstgewollten Fortgang.
Das Titelwort gibt den Namen einer Ortschaft wieder. Grodek, in polnischer Schreibung Gródek, liegt in der heutigen Sowjet-Ukraine, im ehemaligen Ost-Galizien, genau westlich der alten galizischen Kapitale Lemberg oder Lwow, fast auf der Mitte der Strecke zwischen Lemberg und der ehemaligen k.u.k. Festungsstadt Przemyśl.
Noch im August 1914 erlitten die k.u.k. Heere in Galizien schwere Niederlagen, in deren Folge der größere Teil von Ost-Galizien einschließlich Lembergs verlorenging. Der österreichische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, einer der Einpeitscher dieses Krieges, befahl eine Gegenoffensive, die von Gródek aus geführt wurde und in einer neuerlichen katastrophalen Niederlage für Österreich endete. Die Front wurde bis zu den Karpaten zurückgenommen. Nunmehr war ganz Ost-Galizien in russischer Hand.
Unter den Zeugen dieser Schlacht auf österreichischer Seite befand sich der Angehörige einer Sanitätskompanie im Range eines Medikaments-Akzessisten, der Apotheker Georg Trakl aus Salzburg. Es war sein erster Einsatz in diesem Krieg. In einer Scheune neben dem Marktplatz von Gródek mußte er nahezu hundert Schwerverletzte betreuen. Er war den Klagen, den Schreien des Schmerzes, den Bitten um Sterbehilfe allein überlassen. Einer der Verwundeten schoß sich vor Trakls Augen eine Kugel ins Gehirn. Blutiges spritzte an die Wand. Trakl, der vor solchen Eindrücken fliehen wollte, rannte ins Freie, wo in den Bäumen die Leichen hingerichteter Ukrainer hingen.
Beim weiteren Rückzug der Österreicher wurde Trakl vom Übermaß des erfahrenen Schreckens überwältigt. Er schrie plötzlich, er könne nicht weiterleben; nur mit Mühe war er an einem Selbstmord mit der Waffe zu hindern; zunächst schien es, als wolle man ihn deswegen kriegsgerichtlich verfolgen. Man besann sich anders. Man lieferte ihn ein in das Garnisonsspital Nr. 15, Abteilung 5, das ist der Psychiatrietrakt, in Krakau. Er teilte das Zimmer mit einem delirierenden Offizier. Die Diagnose der Militärärzte lautete auf Dementia praecox. Einer vermutete auch einen Fall von „Genie und Irrsinn“.
Hier im Spital erhielt Trakl Ende Oktober den Besuch eines Freundes, und bei dieser Gelegenheit, Unterbrochen durch die Schreie der Irren, las er seine zuletzt entstandenen Gedichte vor, darunter in einer ersten Fassung „Gródek“. Der Freund versuchte es, den verstörten Dichter aus der Psychiatrie zu befreien; seine Versuche blieben ohne Resultat; er reiste nach zwei Tagen wieder ab. Am 27. Oktober verfaßte Trakl noch einen Brief, dem die nunmehr endgültige Fassung von „Grodek“ beilag.
Dieses Manuskript hat sich erhalten, ein mit Bleistift beschriebenes Papier, die ersten sechs Verse in lateinischer, die restlichen in deutscher Schrift notiert. War eine Absicht dabei? Wir wissen es nicht. Am 2. November vergiftete sich Trakl mit einer Überdosis heimlich mitgeführten Kokains, am 3. November starb er. Man beerdigte ihn auf dem Rakoviczer Friedhof von Krakau, einen der tödlich Verzweifelten aus der Geschichte deutschsprachiger Literatur, darin ein Nachfahr Kleists, darin ein Vorläufer Celans.
Kennt man die Umstände seiner Entstehung, gibt das Gedicht „Grodek“ weniger Rätsel auf. Die zunächst hermetischen Metaphern, die ihren Verfasser durchaus als Schüler der französischen Symbolisten Baudelaire und Verlaine ausweisen, lassen sich ohne Mühe aufschließen. Selbst der Vers „Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain“ ist kein anonymes Bild. Wir wissen, daß Trakls leibliche Schwester Grete gemeint ist, die seine Geliebte war; die Hinweise auf diese verbotene und dunkle Beziehung sind zahlreich in Trakls Werk.
„Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz“: das will gewiß nicht nur ein aus Antike und deutscher Klassik überliefertes Bild aufnehmen das den menschlichen Geist einer Flamme vergleicht. Wenn diese Flamme jetzt mit Schmerz genährt wird, von welchen Gefühlen nährte sie sich früher? Von jenen des Rausches aus dem Verzehr von Drogen? Der Dichter Trakl war auch darin ein Schüler Baudelaires, daß er dessen süchtigen Wegen zu den künstlichen Paradiesen folgte.

Rolf Schneideraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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