Rolf Schneider: Zu Sarah Kirschs Gedicht „Im Juni“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Im Juni“ aus dem Band Sarah Kirsch: Rückenwind. –

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

Im Juni

Gott mit uns! Der Herr Pastor
Sah Rübezahl ähnlich und fuhr wie der Teufel.
Überholte die vornehmsten Wagen, indem er
Sich an die Stoßstangen hängte und wild übersprang.
Weißen Haares glaubte ich die Stadt zu erreichen, da begann
Die Gegend lieblich zu werden; manche Allee
Aus Linden Kastanien, ein und der andere Weiher
Zeigten sich her; die blaue Chaussee
Ward ein buckliges hüpfendes Schlänglein.
Wie leicht mir der Mut war. Ich grüßte ein schönes
Zweifarbnes Pferd auf der Weide, mein Kind
Zählte an fünfhundert Bäume. Der Pastor
Sagte, was glauben bedeutet, so fuhrn wir
Hin auf die Insel, wo Caspar David
Einst in die Kreide gestiegen war. In grüner
Dann blauer Farbe lag nun das Meer
Mit Muscheln und zitterndem See-Stern zu Füßen.
Ich saß auf einem Wegstein und sah
Die dunkle, die weggleitende Sonne, dich
Auf der anderen Seite der Welt. Ich schlief
Und fror die ganze Nacht. Der Pastor aus Dranske
Las in der Schrift von Jakob und Rahel.

 

Zwischen Aufgang und Untergang

Jemand reist mit seinem Kind ans Meer; es ist nichts Außergewöhnliches. Straßen werden benutzt, Bäume gehen vorbei, ein weidendes Pferd gerät ins Bild, schließlich das Ziel: zweifarbenes Wasser, Sonnenuntergang, Muscheln, ein Seestern. Es ist nichts Außergewöhnliches? Am Steuer des Wagens sitzt ein geschwindigkeitsbesessener Pfarrer, langhaarig, langbärtig; beim Rasen meditiert er über sein ureigenes Geschäft, den Glauben. Der Zielort ist Dranske. Das liegt am nordwestlichen Rand der Insel Rügen, und die Insel Rügen liegt weit östlich der Darßer Schwelle, wo das Ostsee-Wasser ausgesüßt ist und keinen Seestern mehr leben läßt.
Die Verfasserin, als sie mit Vornamen noch Ingrid hieß, war eine Studentin der Biologie. Sie wird sich gerade in diesem ihrem Fach keine unbedachten Freiheiten einräumen. Der „zitternde See-Stern“ ist freilich auch kein maritimer Stachelhäuter, sondern, ausgewiesen schon durch die Schreibweise, ein optisches Zeichen und ein metaphorisches Zeichen außerdem: es will Verheißung, Verzückung, Unerreichbarkeit assoziieren, auf dem Untergrund von ozeanischer Kälte. Und die Sonne, Urheberin solcher Reflexe und Reflexionen, wandelt sich alsbald in ein menschliches Du:

auf der anderen Seite der Welt

Dieses Gedicht erzählt in Wahrheit von Liebe, von Trennung, von Sehnsüchten. Der beschriebene Ortswechsel ist gleichermaßen Suche und Flucht. Die Erinnerung an Caspar David Friedrich soll nicht bloß denen, die den Ort Dranske auf Landkarten nicht finden, die Orientierung erleichtern; es wird auch an ein bestimmtes Bild erinnert, das manieristischste dieses Malers, es zeigt ihn gemeinsam mit seiner Braut. Stubbenkammer, Ort dieser Verlobten, befindet sich auf der Dranske genau gegenüberliegenden Seite der Insel Rügen. Die ist nun Osten gegenüber jenem Westen, wo das Du und die Sonne entgleiten. Dem Verlöbnis des romantischen Malers antwortet die Gedichtzeile einer, die eine ganze Nacht hindurch frierend liegt. Dem aber antwortet die Erinnerung an Rahel und Jakob, an die rührendste Liebesgeschichte des Alten Testaments. Sie handelt von Sehnsüchten und von Trennung. Sie endet glücklich. Aber die Bibel ist ein Mythos und weit fort von der Gegenwart.
„Im Juni“ stammt aus dem Bande Rückenwind der Sarah Kirsch. Es steht in der zweiten Abteilung des Bandes, die fast durchweg Liebeslyrik enthält: verstellte und unverstellte, Strophen der Glückseligkeit, des Verlustes, der Trauer, angesiedelt in Topographien, die können auch städtisch sein oder auch mediterran. Vorspruch ist dieser Zweizeiler:

Freundbruder aus Wolfsland wir wollen
Unsere Blicke anzünden an etwas glauben

Dazu ist „Im Juni“ fast schon wieder der Abgesang. Glauben wird zu einem Thema, das ein Pfarrer beim Autofahren abhandelt, womit wohl auch gemeint ist: vorübergehend und endlich wie jegliche Fahrt.
Zwei Seiten vor diesem Gedicht steht eines, das heißt „Ende Mai“, und schon die Titel korrespondieren miteinander. „Ende Mai“ schließt mit diesen Versen:

Wenn mein Leib
Meine nicht berechenbare Seele sich aus den Stäben
Der Längen- und Breitengrade endlich befreit hat.

Glauben ist eine Dimension der irdischen Liebe, auch jener himmlischen, die Religion heißt; es ist eine Dimension jeder menschlichen Entscheidung. Glauben, wer wüßte es denn nicht, kann genährt und beschworen und gestärkt werden; man kann ihn auch zerstören, er kann vergehen. Zwischen Aufgang und Untergang der Sonne, das sind Osten und Westen, liegen die Stäbe der Meridiane: unsichtbar oder aus Stahl und Beton.
Sarah Kirsch hat sich aus ihnen befreit, einen Augenblick lang. Sie hat sich in andere begeben. Vielleicht holen Kälte und Traurigkeit sie dort nicht mehr ein.

Rolf Schneider, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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