Roman Bucheli: Alexander Xaver Gwerder Untersuchungen zur Lyrik

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Roman Bucheli: Alexander Xaver Gwerder Untersuchungen zur Lyrik

Bucheli-Alexander Xaver Gwerder Untersuchungen zur Lyrik

I ANNÄHERUNGEN

I.1 Rezeptionsgeschichte
Bereits die erste Rezension – von Karl Krolow zum Gedichtband Blauer Eisenhut – wollte in Gwerders Gedichten eine Herkunft von Gottfried Benn festgestellt haben.1 Seither ist der Schatten dem Werk von Alexander Xaver Gwerder gefolgt, und kaum ein Kritiker war noch, der sich danach den Hinweis auf Gwerders Abhängigkeit von Gottfried Benn erlassen mochte.2 Und obgleich Karl Krolow in seiner wohlwollenden Kritik und mit der Feststellung der literarischen Verwandtschaft Gwerder Ehre erwiesen hatte, konnte die Einschätzung nicht ohne Folge bleiben für die literaturkritische Rezeption des solcherart Gelobten.3 Nicht das geringste Verdienst ist es deshalb von Dieter Fringelis Dissertation, richtiggestellt zu haben, wie und wann Benns Einfluss Gwerder erreicht hat.4 Doch so wenig Fringelis Darstellung Gwerders Eigenart und Eigenständigkeit gegenüber Benn abzugrenzen vermag, so wenig war mit Karl Krolows Hinweis gewonnen. Nichts war damit über Gwerders Texte gesagt, dafür musste vieles hinter dem übermächtigen Schatten verblassen, doch vielen Kritikern ersparte es fortan den genauen Blick auf die Gedichte, denen gewiss andere als nur – aber auch – bennsche Töne abzuhören waren. Die frühe Zuordnung klärte keines der unzugänglichen Sprachbilder, doch sie nahm ihnen die Brisanz mit dem Ausweis ihres Vorläufers und enthob die Kritiker der Auseinandersetzung mit dem neuen Idiom. Das mag denn auch mit ein Grund sein dafür, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu Gwerders Werk noch keine Studie, die diesen Namen auch verdienen würde, mit einlässlichen Analysen und Interpretationen vorliegt. Nur zu oft beschränken sich die ihm gewidmeten Aufsätze und Artikel auf das Wiederholen von Gemeinplätzen und auf metaphorisches Paraphrasieren seiner Sprachbilder. Doch während solche Essays noch immerhin eine Annäherung an Gwerders Sprachwelt versprechen, sind anderseits die oft Biographie und Werk durcheinanderwirbelnden Arbeiten kaum geeignet, Licht in die dunklen Sprachwolken zu tragen, vielmehr werden diese noch zusätzlich verdunkelnd überhöht. Die unkritische Durchmischung von Literatursoziologie und Literaturkritik5 scheint hier nicht weniger als die eigene Verlegenheit vor einer die aussersprachlichen Bezüge negierenden Sprache verbergen zu wollen, indem der entlegenste und doch zugänglichste der referentiellen Bezüge hereingeholt wird.

Die fast nur durch Zeitungs- und Zeitschriftenartikel dokumentierte Rezeptionsgeschichte lässt sich zeitlich in zwei Phasen unterteilen. Da ist zunächst die zeitgenössische Literaturkritik, die – abgesehen von einer böswilligen Glosse in einer Zürcher Lokalzeitung – mit (soweit absehbar) drei Rezensionen auf die zu Lebzeiten einzige selbständige Buchpublikation Gwerders reagierte. Zur gemeinsam mit Rudolf Scharpf in losen Blättern realisierten Publikation Die Begegnung erschien ferner eine Rezension von Wolfgang Bächler. Unmittelbar daran schliesst sich die Auseinandersetzung mit den von Hans Rudolf Hilty und Frau Trudy Federli-Gwerder nach dem plötzlichen Tod aus dem Nachlass veröffentlichten Texte an. Die Veröffentlichungen erfolgten zunächst in loser Folge vor allem in Hiltys Literaturzeitschrift hortulus, danach in Buchausgaben im Zürcher Arche Verlag. Die bemerkenswerte Präsenz in den Feuilletons der Schweizer Zeitungen der fünfziger Jahre verdankt Gwerders Werk nicht nur dem vorauseilenden Ruf des tragischen Dichters, vielmehr äussert sich darin eine durchaus nüchterne Wertschätzung einiger Redaktoren (allen voran Werner Weber von der Neuen Zürcher Zeitung, Max Rychner und Erwin Jaeckle von der Tat). Sie verdankt sich aber auch den fortwährenden Bemühungen von Gwerders Witwe und H.R. Hilty um den literarischen Nachlass, dem ein kleiner Kreis von Leserinnen und Lesern gewiss war.

Die allmählich schwindende Wirkung der Nachlasspublikationen in den späten sechziger Jahren beschliesst diese erste Phase der Rezeption, die von einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit den publizierten Texten geprägt war. Die verblassende Aktualität ist aber auch Ausdruck einer gewandelten literarischen Landschaft, in der Gwerders teils jegliche Anschaulichkeit einbüssenden Sprachwolken noch unzugänglicher wirken und kaum mehr Anklang finden. Hier setzt denn auch eine stärkere Gewichtung gesellschaftskritischer Aspekte in Gwerders Werk ein. Gwerder wird in der öffentlichen Einschätzung von einem hochpoetischen zu einem hochpolitischen, radikalen Autor.6 Dennoch findet Gwerder auch in dieser Zeit immer wieder Eingang in die Kulturteile hiesiger und ausländischer Zeitungen und Zeitschriften. Ein Hinweis mithin dass Gwerder, nicht wie andere vergessene Autorinnen und Autoren, nie ganz aus dem Blick geraten ist, dass deshalb das Feld für eine Wiederentdeckung nicht erst bereitet werden musste.

Das Erscheinen von Dieter Fringelis Dissertation im Jahr 1970 markiert in der Rezeptionsgeschichte einen Wendepunkt. Gwerders Werk wird endgültig für die Literaturwissenschaft und vor allem für die Literaturgeschichte entdeckt. Seine Biographie findet Eingang in die neueren Lexika,7 seine Texte erscheinen in Anthologien,8 sein Werk wird zu einem festen Bestandteil der Schweizer Literaturgeschichte.9 Damit war auch der Weg bereitet für eine von Roger Perret betreute Neuauflage seiner Werke unter Einschluss seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Mit einer kritischen Edition der Texte wie auch der Tagebücher und erhaltenen Briefwechsel wird fortan nicht nur eine Auseinandersetzung auf einer gesicherten und umfangreicheren Textgrundlage möglich sein, hinfällig wird damit auch die kaum verlässliche und wohl eigenen Zielen dienende Zitatcollage aus Briefen und Inedita in Fringelis Dissertation. Die längst überfällige Edition erfüllt damit ein Desiderat sowohl des breiten Publikums wie der Literaturwissenschaft. Die Erwartungen auf die angekündigte Werkausgabe wurden mit dem sehr schönen, 1991 vorgelegten Auswahlband Wäldertraum zusätzlich angeregt, in dem neben bereits veröffentlichten auch bisher unveröffentlichte Gedichte ediert wurden, und der in der Presse ein nachhaltiges und wohlwollendes Echo gefunden hat.

Neben diesen zeitlichen Phasen des auf- und absteigenden Publikumsinteresses lassen sich auch rezeptionsästhetisch unterschiedliche Akzentuierungen wahrnehmen. Auf die im Werk selbst angelegte Spaltung – häufig entlang der Grenzlinie zwischen Prosa und Lyrik – in politisch-gesellschaftliche und autonom-poetische Aspekte, die entsprechend unterschiedlich gewichtende Einschätzungen zuliess, wurde bereits hingewiesen. Ein übriges, hier aber meist von den Rezipienten selbst hinzugetragenes Dilemma stellen die biographischen Deutungsmuster dar, wobei häufig ungewiss bleibt, ob denn nun mit dem Leben das Werk oder ob das Leben mit dem Werk geklärt und gedeutet werden soll. Dazu beigetragen haben freilich auch ein von unbewältigten Konflikten beherrschtes Leben, Gwerders früher Selbstmord sowie ein daran sich anschliessender Mythos vom Poète maudit. Genau diese mangelnde Trennschärfe zwischen biographischen und autonom-poetischen Aspekten mit dem Anspruch der wechselseitigen Klärung prägt Dieter Fringelis Dissertation Optik der Trauer. Obgleich kritische Stimmen zu dieser Untersuchung nicht gefehlt hatten, beeinflusste sie die weitere Wahrnehmung eindringlich – ja musste sie in ihrem Sinne verstärken, da Fringelis in unkritischer Weise extensiv aus Nachlassbeständen zitiert und dem Publikum bis dahin nur gerüchteweise bekannte Aspekte von Gwerders Persönlichkeit und Leben erschliesst. Diese das Werk verklärende, aber auch einen unvoreingenommenen Zugang verstellende, Innenansicht behauptete inskünftig in den meisten Beiträgen ein Übergewicht zu Lasten sprach- und textanalytischer Untersuchungen. Dieses Ungleichgewicht setzt sich bis in die Rezensionen zur jüngsten Publikation Wäldertraum fort. Da in dieser Untersuchung der textanalytische Aspekt im Vordergrund steht, berücksichtigt der folgende Durchgang durch die Beiträge zum Werk von Alexander Xaver Gwerder vornehmlich die textkritischen Auseinandersetzungen und zeigt die Schwerpunkte der bisherigen Gwerder-Lektüre in diesem Bereich auf.

Zu Gwerders wichtigsten Interpreten gehören – neben Dieter Fringeli, der mit seiner Monographie und seinen zahlreichen Essays wie kein anderer seit den sechziger Jahren sich um das Werk von Gwerder bemüht hat – Werner Weber, Bernhard Böschenstein, Karl Krolow und nicht zuletzt auch Hans Rudolf Hilty. Nicht selten waren es gerade die kritischsten Stimmen – Weber und Böschenstein –, die Entscheidendes zum Verständnis der Texte beitrugen, mithin auch Gelungenes von Unbeholfenem, Epigonales von Eigenem zu trennen vermochten.

Früh wurde auf Konstanten in Gwerders Lyrik hingewiesen, auf dominante Motivgruppen, auf rekurrente formale Charakteristiken. Genannt wurden das an Benn sich orientierende assoziative Verketten von Wörtern und Gedankensplittern,10 die Konvergenz von verdunkelter Sprache und verdunkelter Lebenswelt,11 die monologische Struktur seiner Gedichte deren Rede aber gleichwohl immer wieder an ein Du sich richte,12 die Neigung der lyrischen Rede hin zum Unsagbaren und zum Verstummen.13

Dass Gwerder anderseits fast nur als Lyriker wahrgenommen wurde dass die von ihm erschienene Prosa fast unbemerkt an der Literaturkritik vorbeigegangen ist, hat sicherlich auch mit der Editionsgeschichte zu tun.14 Die Prosatexte sind zu einem Zeitpunkt15 aus dem Nachlass erschienen, als Gwerders Lyrik bereits von einem stillen Nachruhm erfasst worden war. Die Form und die teils wechselnde Qualität der meist kurzen Prosastücke taten ein übriges.16 Einige wenige gelungene Prosaskizzen von expressionistischer Dichte, die ein bemerkenswertes, aber noch kaum gereiftes Erzähltalent erahnen lassen, stehen einer überwiegenden Zahl poetologischer und essayistischer Texte von fragwürdiger Qualität gegenüber. Diese leiden an ihrer formalen wie inhaltlichen Überspanntheit, sowohl wo es um Gesellschaftskritik wie um ästhetische Fragen geht, die an pure Banalität grenzt und wohl leichter verdaulich wäre, würde sie sich nicht mit so gravitätischem Ernst blasieren. Dass Erwin Jaeckle sich anderseits weigerte, Gwerders Invektiven gegen Armee und bürgerliche Gesellschaft im Feuilleton der Tat zu publizieren, kann nicht verwundern. Gwerder hat, das ist unbestritten, an dieser Welt und an ihrer Gesellschaft gelitten und ist an ihr zerbrochen. An scharfzüngiger Eloquenz aber hat es ihm gefehlt, das Zeug zum radikalen Gesellschaftskritiker hatte er nicht. Zu bedauern ist indessen, dass für die aus dem Nachlass veröffentlichte Prosa in Möglich, dass es gewittern wird keine rigorosere Auswahl getroffen wurde. Gwerders fraglose Qualitäten lagen nicht im Pamphlet, nicht in der polemischen Glosse und auch nicht im poetologischen Essay (dazu war er schlicht auch zu jung, zu sehr noch verstrickt in innerer Zerrissenheit). Sie kommen vielmehr da zum Vorschein, wo er seinen Verletzungen, wo er den oft schmerzlichen Berührungspunkten seiner Innenwelten mit einem unversöhnlichen Aussen authentische Form und Gestalt zu geben vermochte. Die lyrische Kurzform war seinem Schreibanlass daher angemessener – dass ihm auch die Kurzprosa Gelegenheit zu unverstelltem Ausdruck gab, das beweisen die gelungenen Texte hinlänglich. Gewiss hätte eine konsequenter ausscheidende Editionspraxis – gar in Verbindung mit Gedichten eine gegenseitige Spiegelung und Durchdringung ermöglichend – Gwerders Prosatexte angemessener zur Geltung gebracht. Vielleicht wären sie dann, in einem anderen, lyrischen Zusammenhang, auf ein grösseres Interesse gestossen.

Eine weitere Defizienz ist in der Gwerder-Rezeption bis auf spärliche Ausnahmen festzustellen. Zahlreiche Artikel befassen sich mit dominanten Motivgruppen und arbeiten auf eine Dechiffrierung der oft komplexen Bildlichkeit hin. Eine weitere starke Gruppe von Beiträgen versucht im Ausweis formaler Konstanten eine literaturgeschichtliche Zuordnung. Kaum ein Beitrag aber unternimmt den Versuch, die beiden Komplexe zu verbinden und auf ein eklektizistisches Verfahren hinzuweisen, wo spätromantische Bildlichkeit mit formalen Elementen der frühen Moderne sich verbindet und die Figur der gebrochenen Existenz bis ins sprachliche Material hinein sich fortschreibt. Werner Webers Rezension zum Nachlassband Dämmerklee bewegt sich genau diesen Bruchlinien in Gwerders Sprache entlang. In einer tiefsinnigen Interpretation zum Gedicht „Strom“, die zunächst der rhythmischen Bewegung folgt, sodann die Koordination mit dem Lautmaterial aufweist und schliesslich die Bildlichkeit des Textes in die Sprachbewegung zurückführt, gelingt Weber eine Würdigung von Gwerders Lyrik, die noch deren Begrenztheiten als unausgeschöpftes, aber doch verlorenes Potential auszumessen und offenzulegen versteht.

Das Wort ist das ,papierene Schiff‘ auf dem Urwort. Es ist ein Gleichnis. Es gleicht jenem nur; es ist es nicht selbst. An dieser Pflicht, sich im Gleichnis zu genügen, verzweifelt Gwerder. Er drangt in ringender Kadenz auf die Wortleere hin. (Werner Weber, Neue Zürcher Zeitung, 25. Juni 1955)

Ein ähnliches Verfahren der bewusst aufgesuchten Nähe zum Text, in der jedes Wort nach seinem spezifischen Gewicht und Gehalt befragt wird, wo die Distanz metaphorisierender Nonchalance im Umgang mit Gwerders Texten einer geradezu mikroskopischen Betrachtung weicht, praktiziert Weber in seiner Rezension zu Land über Dächer:

Das Gedicht beim Wort nehmen. Da kommen die Nieten zum Vorschein. Auf Distanz sieht fast alles gut aus. Schluss mit der Distanz; der Sprache auf den Leib. Dann wird von Gwerders Lyrik nicht viel bleiben. Aber das Wenige ganz. (Werner Weber, Neue Zürcher Zeitung, 8. August 1959)

Wie auf dem Seziertisch gerät das Gedicht „Monolog“ unter Webers kritisches Messer. Auch wenn sich gelegentlich Widerspruch regt und man ihm auf seinem Weg der Sektion nur unwillig folgt, so legt er doch in den wenigen Versen beispielhaft die, aus seiner Sicht, atemberaubende Nähe von Banalität und Tiefsinn in Gwerders Lyrik offen. Ehrlicher, aber auch unbestechlicher als Werner Weber in diesen Rezensionen lässt sich ein Leser kaum denken.

Ähnlich unerbittlich hat sich Bernhard Böschenstein in seinem, in der 1981 von Klaus Weissenberger herausgegebenen Übersicht Die deutsche Lyrik. 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel erschienenen Beitrag mit Gwerder befasst. Allein der Umstand, dass Böschenstein in einem derart prominenten Rahmen sich ausführlich mit Gwerder befasst, wenn auch unter dem Vorzeichen des Symptomatischen für Entstehungsort und Entstehungszeit,17 legt stellvertretend Zeugnis ab für das hohe Mass an Anerkennung und Wertschätzung, das die Schweizer Literaturkritik Gwerder postum entgegengebracht hat und bringt. Dabei verfährt Böschenstein keineswegs zimperlich:

Wie bei Rimbaud wird Autobiographisches fast berichthaft in die (…) Traumfabriksprache eingesetzt, wobei Benns späte Saloppheiten ständig dem Wortschatz der Überhöhung mit Fragezeichen, Gedankenstrichen, Punkten, Enjambements zusetzen. Kulturfetzen werden als klischeehafte Relikte in manierierter Stabreimmagie ausgespuckt und zu schattenhaften Wracks entkräftet. (Böschenstein 1981, S. 208f.)

Böschensteins Blick auf Gwerders Werk lässt sich vom Sprachfuror nicht beirren und nennt die Dinge bei ihrem Namen. Seine Hinweise auf die Sprachgebärde, die das Entfernte und Fremde unvermittelt neben die Alltagserfahrung rückt, die Bruchstücke eines enzyklopädischen Vokabulars durcheinanderwirbelt und so die Unbehaustheit in dieser Welt dokumentiert, kommen dem Werk näher und beschreiben konziser und genauer die Eigenheiten von Gwerders Schaffen als jene Interpreten, die ihre eigene Betroffenheit eher als das Werk rezensieren. Ebenso sind seine Gedanken zur sprachlichen Vereinfachung und Reduktion der letzten Gedichte Gwerders wertvoll im Hinblick auf die Betrachtung des Gesamtwerks und dessen Entwicklung. In der Nachlasspublikation Dämmerklee glaubt Böschenstein die Spuren einer „nachromantischen Diktion“ zu lesen, die Gwerder zwar auf den Höhepunkt seiner Lyrik führte, ihn aber gleichzeitig zum „Zeugen schweizerischer Verspätung“ prägte.18

Hier erfüllt sich das Formgesetz der spät gefundenen Identität mit sich selber: die Vereinfachung entspringt einer vorausgegangenen letzten Erprobung untilgbarer Gegensätze zum Leben der andern. Die Krankheit zum Tode machte den totalen Verzicht auf alle Spannung noch möglicher Hoffnung notwendig. (Ebd., S. 210)

Wiederum nur einem Gedicht – wohl aber einem der besten – widmet sich ein im Rahmen der Frankfurter Anthologie 1989 erschienener Beitrag von Peter von Matt. Zweifellos zählt der Artikel zum Schönsten und Tiefsinnigsten, was zu Gwerder geschrieben worden ist. Ungeachtet seiner Kürze vermittelt er einen Einblick in die Sprach- und Bildwelt dieses einen Gedichts („Ich geh unter lauter Schatten“), gleichzeitig aber führt er hin zu den herausragendsten Motiven in Gwerders Lyrik. Von Matt weist auf eine Nähe hin, die nicht den Stachel des Epigonalen und Verspäteten in sich trägt, die vielmehr vorausweist und Gwerder als Vorläufer erscheinen lässt. Gemeint ist eine Nähe zu Ingeborg Bachmann:

Verwandt ist die Bildlichkeit, verwandt die Freiheit im Setzen der Metaphern, verwandt die langsam wachsende Verzweiflung.19

Was von Matt zu den Bildern schreibt – die von Schatten bewohnten Wälder –, was er in knappen Andeutungen vom Formalen sagt – die Wiederholungen und das Rondohafte –, ist wegweisend für den Zugang zum gesamten Werk Gwerders:

In dem Gedicht: einem der letzten des Autors, überlagern sich seelische und mythische Unterwelt. Vergils schwarze, von den Schatten bewohnte Wälder am Acheron und das Unbewusste im Sinn der modernen Psychologie, wo sich fängt, „was wir längst vergessen hatten“, stiften gleicherweise die Bildlichkeit der Verse. Nur entwächst diese rasch der Eindeutigkeit jener Vorstellungen und damit aller logisch schlüssigen Deutung. (…) Alles bewegt sich und bleibt am Ort. Man geht und regt sich nicht vom Fleck. Das ist die Natur der Unterwelt. Oder: die Natur der Welt in den Augen der Verzweiflung. Deshalb die Wiederholungen. Sie zeigen, dass nichts sich verändert. Sie machen das Gedicht leicht, zu einem Rondo fast, und gefährlich suggestiv. (von Matt 1989, S. 234)

Die jüngsten Beiträge – Besprechungen zum Auswahlband Wäldertraum von 1991 – zeichnen sich wieder aus durch die verführerische metaphorische Unschärfe und Weitläufigkeit. Meist fehlt ihnen der genaue Blick auf das Sprachgeschehen, nur selten gelingen neue, eigene Wahrnehmungen. „Kein Wunder, dass er, nach seinem Tod, zum legendären Vorbild ganzer Lyrikergenerationen wurde“ – so Pia Reinacher in der Basler Zeitung vom 20. September 1991, und Hansjörg Schneider meint gar in der Weltwoche vom 10. Oktober 1991: „Er selber ist ein ,Traumgetier‘ (…)“ und:

Eine lyrische Explosion bis zum Ende.20

Schliesslich lässt sich Dieter Fringeli in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18./19. Januar 1992 wie folgt vernehmen:

Gwerder ist derjenige, der das Chaos betritt und nicht mehr zurückkommt – denn verwandelt hat er’s nicht.

Soweit der aktuellste Stand der Literaturkritik in Sachen Alexander Xaver Gwerder.

Auf eine aussergewöhnliche Form der Auseinandersetzung mit Gwerders Werk bleibt zum Schluss noch hinzuweisen: Karl Krolows „Elegien auf den Tod eines jungen Dichters“,21 die als Anhang im Nachlassband Land über Dächer im Jahr 1959 erschienen sind,22 können hier auch als Dokument der Rezeptionsgeschichte aufgefasst werden. Karl Krolow gehörte zu den wenigen Dichter-Freunden Gwerders, die noch zu Lebzeiten auf sein Talent aufmerksam machten und ihn zu fördern versuchten.

Die beiden Elegien sind nach Art einer Fuge komponiert, ihre Leitmotive durchkreuzen den Text, werden zum Teil wörtlich wiederholt, teils auch variiert. Sie geben dem Text das Gepräge einer Totenklage, in der zwischen die epischen Abschnitte des Gedenkens und Erinnerns eine fast schon wortlose Trauer einbricht. Die erste Elegie umfasst in epischer Breite noch einmal das Wirken des verstorbenen Dichters. Sie erinnert an das Schreiben aus dem Abseits („Hinter dem und allem dein Mund“), an die zeitlebens gefährdete Existenz, an die kaum hörbare und schon verstummende Stimme („Hinter dem und allem dein hektischer Schatten“). Sie fragt nach dem was bleibt, nach dem „Weiterleben unter vielem“, und gibt sich eine Antwort, halb Trost und halb schon wieder Frage:

Vielleicht bleibt weniger als das und dennoch etwas.

Die zweite Elegie, wesentlich kürzer und lyrisch verdichtet, lässt aus der Klage auch eine Anklage heraushören. Sie hebt noch einmal mit der Erinnerung an die Rede des verstorbenen Freundes an:

Die Nachtigall in deinem Kopfe schweigt.

Die Klage schreibt sich fort im Eingeständnis der Schwäche solcher Erinnerung:

Ihr Wesen – verletzlicher als Echo aus dem Winde –
Hält sich noch eine Zeitlang im Gedächtnis
Der Stille wie in einem unsichtbaren Käfig.

Die Elegie endet im Ton der Anklage:

Du hast den unbekannten Vogel umgebracht.

Die Elegien greifen unverkennbar Motive und Figuren auf, die für Gwerders Schaffen kennzeichnend sind. Doch nicht mimetische Schmiegsamkeit äussert sich in Krolows Klage: sie erinnert an einen Ton und an eine Rede, ohne zu kopieren noch zu kommentieren. In dieser Gebärde legt sie ohne falsches Pathos ein ergreifendes Zeugnis von Gwerders Hinterlassenschaft ab. Die erste Elegie setzt ein mit einem fast ins Unerträgliche gespannten Vordergrund, durchbrochen nur vom anaphorisch wiederkehrenden „hinter dem“, um erst nach zwanzig Versen zu diesem Verschütteten vorzustossen Diese Verse ziehen die mühsame Wegspur zu Gwerders Gedichten nach, deren Ort genau dieses Abseits, dieses fast schon jenseitig Hintergründige ist. Sie stehen im Schatten der Alltagswelt und sind doch ganz an diese gebunden. Und wie in Gwerders Gedichten nur selten ein Ganzes in den Blick gelangt, vieles aber in synekdochischer Verkürzung erscheint, so kreist auch Krolows Elegie um die Gestalt des verstorbenen Dichters und um seine Rede im Nachzeichnen der Spuren des Schwindens und Verstummens. Vom Verstorbenen ist die Rede immer nur in metaphorischen und metonymischen Verschiebungen. „Dein hektischer Schatten“ heisst es „zunächst, dann spricht die Elegie von den dünnen Lippen der Ewigkeit“ und zuletzt vom „Gesicht – halbiert vom Umsonst“. In der Gebärde des Sprechens wird das Du aufgesucht, aber dieses Sprechen steht bereits im Zeichen des Verstummens. Noch sind es „Laute von drüben“, doch darin lässt sich der prekäre und gefährdete Bestand vermerken. Als „verschlungenes Lispeln“ und als „Raunen“ ist die Rede schon ganz in ein esoterisches Idiom abgesunken, das nur noch wenigen Ohren vertraut sein kann. Auf dieses Raunen und auf diese Rede „von drüben“ hielt Gwerders Lyrik als auf ihre Grenze zu.

I.2 Literarisches Umfeld
Mit einer literarischen Hinterlassenschaft sich beschäftigen heisst immer auch zu bedenken, aus welcher lebensgeschichtlichen Situation heraus dieses Werk entstanden ist, aber auch zu berücksichtigen, an welche literaturgeschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen das Schaffen gebunden war. Dies scheint hier um so tunlicher, als die Literaturkritik in ihrer Gwerder-Rezeption immer wieder epigonale, biographische oder politische Vereinnahmungen durchblicken liess. Eine Standortbestimmung sollte dazu beitragen, die Virulenz einseitiger Beanspruchungen zu entschärfen und Raum zu schaffen für eine unbefangenere Sicht. Von einem tragisch gescheiterten Dichter zu sprechen ist weder sinnvoll noch aufschlussreich, solange dieses Scheitern nicht im Werk selber nachzulesen ist. Das Werk aber enthält beides: das Gelingen und das Scheitern. Eine Lektüre muss dieses Idiom zunächst erlernen, zwar eingedenk aller biographischen Bedingtheiten und die literarischen Anklänge mithörend, aber nicht diese können Massstab sein. Im Werk liegt ein Idiolekt23 geborgen – darauf wird zu hören sein.24 Auch wo das letztlich immer subjektiv gehaltene Urteil Anspruch und Realisierung auseinanderklaffen sieht, müssen noch im Scheitern Eigenheiten und Begrenztheiten von Gwerders Lyrik aufgesucht werden. Nicht um ein primär bewertendes Scheiden kann es sich daher handeln. Im Scheitern wie im Gelingen gilt es, der Handschrift Gwerders nachzugehen und dieses wie jenes an der implizit formulierten Poetik zu messen.

Gwerders Biographie bleibt im folgenden weitgehend ausgeklammert. Ich halte es indessen für sinnvoll, an zwei lebensgeschichtliche Umstände zu erinnern, die für die Werkbetrachtung zwar nicht massgeblich sein können, aber doch von einigem Belang sind.

Gwerder stammt aus einer Arbeiterfamilie und hat selber ein der Schriftlichkeit gewidmetes Handwerk gelernt. Weder seine Herkunft noch seine Ausbildung waren daher dazu angetan, seine künstlerischen Talente zu fördern. Vielmehr galten sie als suspekt und mussten also unterdrückt werden. Es spricht für Gwerders schöpferischen Impetus, dass er seine Neigung nicht leugnen wollte. Aber er setzte sich so in dauernden Widerspruch zu seiner Herkunft und Umgebung. Auch die (unfreiwillige) Berufswahl stand ganz im Zeichen dieser unbewältigten Ambivalenz, die den Keim existentieller Gefährdungen in sich trug. Kunstmaler hätte er werden wollen. Die Lehre im Druckereigewerbe erstickte den Wunsch, wenn auch nicht die Neigung, und lenkte den schöpferischen Umgang mit Sprache in eine gesellschaftlich sanktionierte Form. Der Leidensdruck der späteren Jahre aus dieser konfliktreichen Situation, wo die kreativen Impulse täglich im professionellen Umgang mit den Zeichen anderer unterdrückt werden mussten, ist (um es mit einem spekulativen Einschlag zu sagen) nur der manifeste Ausdruck einer tiefer liegenden Fremdheit und Unbehaustheit. Dennoch ist zu bedenken, dass Gwerder gerade durch die Vermittlung eines Arbeitskollegen seine ersten Gedichte im Feuilleton der Tat veröffentlichen konnte. Überdies erschien seine erste Buchpublikation Blauer Eisenhut im Magnus-Verlag seines Arbeitgebers. So hat es Gwerder an Förderern und interessierten Zeitgenossen nicht gefehlt, doch es fehlten ihm die begleitenden Lehrer. Gwerder lebte gegenüber seinen Förderern – oft aus dem akademischen Kreis – in der Befangenheit (in die sich auch Misstrauen mischte) des Autodidakten. Was er konnte, hatte er sich selber angeeignet – genauer: angelesen. Die Einsamkeit und das Ungebundene dieser Lektüre lässt sich an Gwerders Werk unmittelbar ablesen. Vieles aus diesen Büchern, die ihm die Lehrer ersetzen mussten, aber auch kritische Begleiter nicht sein konnten, ging fast umweglos in seine Texte ein. Fragmente dieser Lektüre erscheinen dann als entlegene Versatzstücke angelesenen Bildungsgutes und gerinnen zu kunstvoll montierten Textbausteinen. Doch daran lässt sich die Schwierigkeit von Gwerders Lebens- und Schaffensweise ermessen: ohne Verbindung zu einer stimulierenden, inspirierenden, aber auch korrigierend eingreifenden Umgebung kreiert Gwerder seine Sprachwelten und seine Poetik aus eigener Schaffenskraft, oft aber auch aus unvermittelter Anschauung. Dieses Spannungsverhältnis zeichnet sich nicht selten als ungelöste Ambivalenz in seinem Werk, ja bis in einzelne Texte ab.

Ein Zweites gilt es zu bedenken: Gwerder ist bei seinem Selbstmord erst 29 Jahre alt. Zwar steht er im Erwerbsleben, ist Familienvater, aber in seiner psychischen Konstitution noch kaum gefestigt, dafür immer umgetrieben von einem selbstzerstörerischen Furor gegen gesellschaftliche Zwänge. Seine Auflehnung eskalierte mit den regelmässig wiederkehrenden militärischen Marschbefehlen und steigerte sich im Herbst 1952 zur lebensbedrohlichen Ausweglosigkeit. Von da war es zum Selbstmord nur noch ein letzter verzweifelter Schritt. Gwerders im eigentlichen Sinn produktive Schaffenszeit beschränkte sich auf seine letzten vier Lebensjahre von 1949 bis 1952. Daher ist bei der Lektüre seiner Texte nie aus den Augen zu verlieren, dass man es hier mit einem Autor zu schaffen hat, dem die Zeit nicht gereicht hat, weder in seiner Lyrik noch in seinem Leben seine Anlagen auszubilden und zu entwickeln. Die lyrischen Eruptionen entstanden nicht auf dem Boden einer gefestigten Persönlichkeit, sondern entstammten einer psychisch wie ästhetisch durch die mannigfaltigsten Eindrücke und Fährnisse, Abgründe und Aussichten aufgewühlten und erschütterten Landschaft. Dieser Hinweis kann nichts beschönigen und nur wenig erklären, er soll nur daran erinnern, dass das vorliegende, zweifellos in Teilen einem hohen künstlerischen Anspruch genügende Werk das eines Lyrikers in statu nascendi ist. Es wird darin sowohl das Suchen nach Formen und Inhalten wie anderseits die Unruhe eines von Widrigkeiten umgetriebenen, ruhelosen Geistes nachzulesen sein.

In Gwerders Werk vereinigen sich die unterschiedlichsten literarischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Herkunft gewisser Motivgruppen in Gwerders Lyrik von Rilke und Trakl ist unverkennbar, seine Prosatexte stehen deutlich unter dem Einfluss von Nietzsche und Benn. Dennoch ist über aller Ähnlichkeit nicht zu verkennen, dass es sich bei den Anleihen um kreative Anverwandlungen handelt. Die grundlegende Ambivalenz, die Gwerders Werk charakterisiert, sowie der Bruch, der sich durch seine Texte zieht, zeichnen sich ab am Auseinanderklaffen von Inhalt und Form. Gwerder vollzieht den Traditionsbruch im, nicht mit dem Text. Das macht den Text zum Ort des Aufeinanderprallens, zur Bruchstelle. Die Literaturkritik hat dem Vorgang den Namen Deautomatisierung gegeben. Während Inhalte und Motive, Chiffren und Metaphern häufig Anleihen im expressionistischen und nachromantischen Umkreis aufnehmen, weisen die vorherrschenden Formen in eine ganz andere Richtung. Sprachskeptische Prägungen dominieren die Texte, eine dissonante Komposition stellt sich quer zu den anschaulichen Bildern, das mimetische Verfahren auf der inhaltlichen Ebene wird von formalen Elementen (Fragmentierung, Montage, Inkohärenz der Bilder etc.) wirkungsvoll durchkreuzt. Gwerders gelegentlich überbordende Metaphorik trägt ein ungebrochenes Vertrauen in die expressiven Möglichkeiten der Sprache zur Schau. Fast alles wird ihr zugemutet, was an bis ins Groteske verzerrten Bildern denkbar ist („Wolkenwürfe“, Wä 26; „Bug deiner Küste Tröstung“, Wä 28). Das verträgt sich nur schlecht mit der von Gwerder teils implizit, teils explizit formulierten Sprachskepsis, die in ihrer letzten Konsequenz (und nicht selten wird bei Gwerder das Sprechen bis über diese Grenze hinausgetrieben) die lyrischen Subjekte verstummen lässt. Das ist dann indessen nicht als Rückzug der Rede vor dem Unsagbaren zu deuten. Das Verstummen im Gedicht trägt nicht die Signatur des Vergeblichen, es ist das Komplement der im überfrachteten Sprachbild bereits über eine andere Grenze hinausgeschriebenen Rede. Unter diesem Blickwinkel erscheinen dann die Gwerderschen Wortkaskaden und die sprachlichen Verknappungen und Verdichtungen in einigen der späten Gedichte als zwei unterschiedliche Phänomene derselben Grundhaltung.

Diese Konvergenz zweier grundlegend verschiedener Tendenzen macht auf Gwerders randständige Situation aufmerksam, auf sein Wirken in einem literarischen Vakuum, das er mit Eigenem kaum und mit Fremdem nur bruchstückhaft anreichern konnte. Anregungen holte er sich, wo sie zu holen waren: in einer Lektüre, die durch die unterschiedlichsten Strömungen der Zwischenkriegszeit geprägt war.25 Die zeitgenössische Schweizer Literatur dagegen hatte sich noch nicht aus ihrer Befangenheit im Réduit-Gedanken und Landi-Geist gelöst und gab daher einen denkbar schlechten Nährboden für Gwerders ungestüme Entwicklung ab. Neues vermochte sich hierzulande kaum zu artikulieren. Was anderseits von der deutschen Literatur in die Schweiz gelangen konnte, stand ganz im Zeichen der Ruinenlandschaft. In diesen, vom Überholten gesättigten Raum hinein schrieb Gwerder seine Texte, aber es blieb – trotz Förderung durch Freunde – ein einsames Schreiben. Erst nach seinem Tod begann sich allmählich eine neue Lyrikergeneration zu artikulieren, mit der auch seine Sprache und seine Bilder sich zu entwickeln vermocht hatten.

Das Vakuum,26 in das Gwerder mit seinen Sprachschöpfungen, mit seinem bisweilen ungehemmten und ungezügelten Wortschwall vorzustossen versuchte breitete sich an der Bruchstelle der deutschen Nachkriegsliteratur aus. Die literarische Landschaft am Ende der 40er Jahre verflüchtigte sich, soweit es sich um überlieferte Formen handelte, anderseits waren die Konturen des Neuen noch zu wenig ausgeprägt, als dass sie dem drängenden Form- und Ausdruckswillen Gwerders hätten Orientierung und Widerstand bieten können. Ohne sich auf eine bestimmte Jahreszahl festlegen zu wollen, liesse sich gerade Gwerders im engeren Sinn produktive Zeit von 1949 bis 1952 als jene Phase der modernen deutschen Literatur bestimmen, in welcher das Naturgedicht – zu welchem die Lyrik nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, während und nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges Zuflucht nahm – verabschiedet wurde. An dessen Stelle trat ein rasanter Aufbruch der lyrischen Formen und Motive.27 Doch erst der Einbruch der veränderten und mithin existentiell bedrohlich gewordenen und ihrerseits bedrohten Lebenswelten in den lyrischen Gesichtskreis führte zur unwiderruflichen Preisgabe des mimetischen Abbildungsanspruchs. Die Literatur – und im besonderen die Lyrik – wird zum Ort der Befreiung und Loslösung aus der Anschaulichkeit, aber auch zum Ort des Rückzugs in den Monolog. Das Gedicht wird sich selbst zum wichtigsten Gegenstand. Die Besinnung auf das Gewicht der Worte verdrängt die anschaulichen Gegenstände aus der Gedichtrede. Der drohende Weltverlust aber schlägt zurück auf das Medium der Mahnung. Der Verlust der Mimesis lässt einen hohl klingenden Sprachkörper zurück, der – ist es Agonie oder Selbstbehauptung? – mit sich selbst ins Gespräch kommt. Mit dem Wegfall der Dinge gerät die Rede in ein gefährliches Vakuum. Es droht auch ein Sprachverlust. Das Sprechen über Sprache gerät zur Schwundstufe der Rede doch diese bleibt Reflex der conditio humana: Sprachnot als Ausdruck von Lebensmüdigkeit und Lebensüberdruss in einer zunehmend sinnlosen Welt.28 Der literarische Aufbruch der frühen fünfziger Jahre markiert eine negative Korrelation mit dem gesellschaftlichen Aufbruch, dessen Optimismus sich in der zeitgenössischen Literatur als wie in einem Hohlspiegel bricht und als sozialer wie literarischer Pessimismus und Skeptizismus zurückgeworfen wird. Vieles davon klingt in Gwerders Texten an, manches in noch unsicheren Formen und oft in ungeschliffenen Bildern. Gerade dieses Vorläufige und Unfertige seiner Gedichte geben ihnen auch ein dokumentarisches Ansehen. Zwar treten fast gleichzeitig mit Gwerder so gewichtige Namen entweder erneut wie Günter Eich, Karl Krolow, Nelly Sachs, Ernst Meister und Hans Arp oder erstmals wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger in Erscheinung. Die wenigsten dieser Stimmen aber dringen bis zu Gwerder vor: einige mag er in der Zeitung Die Tat, die in ihrem Literaturteil, zwischen 1939 und 1962 unter der Führung von Max Rychner, dem aktuellsten Literaturgeschehen immer wieder breiten Raum gewährte, wahrgenommen haben. Doch im Frühjahr 1952, als an der Tagung der Gruppe 47 diese neuen Stimmen zu vernehmen waren und fast ohne Ankündigung eine Wende herbeiführten,29 hatte sich Gwerder bereits in eine fatale Ausweglosigkeit verbissen. Um einiges träger entwickelte sich das literarische Geschehen in der Schweiz wo die traditionellen Formen bis weit in die fünfziger Jahre hinein vorherrschten und wo selbst von den jüngeren Autorinnen und Autoren (z.B. Erika Burkart, Kuno Raeber, Urs Oberlin) noch kaum neue Impulse ausgingen. Hier musste Gwerder das ganze Gewicht seiner – auch literarischen – Isolation voll zu spüren bekommen. Gwerder blieb in seiner Lektüre auf die Zeit nach der Jahrhundertwende und auf die Zwischenkriegszeit fixiert. Selbst die von ihm als Erleuchtung gefeierten Statischen Gedichte von Gottfried Benn (erschienen 1948) müssen heute als Vorkriegsreminiszenz gelten. Sie stehen nicht für das Neue ein. Doch so sehr Gwerder sich auch am Bestehenden orientierte, in seinen Gedichten warf er sich der Zeit voraus. So schrieb er sich aus seiner isolierten Lebenssituation in eine literarische Isolation hinein. Wie befangen er im Umgang mit seiner Umgebung war und wie schwer sich diese mit ihm tat, dafür mag stellvertretend eine Erinnerung Erwin Jaeckles an die Zürcher Freitagsrunde im Café Odeon sprechen zu der man Gwerder eingeladen hatte:.

Trotz unserer freundschaftlichen Bindungen lag allen daran, den Stammtisch offen zu halten. Wir waren jederzeit begierig, andere Menschen kennen zu lernen. So brachte ich etwa Alexander Xaver Gwerder mit, dessen frühe Gedichte wir, ihn zu bestätigen, veröffentlichten. Gwerder haderte mit seinem Lebensschicksal. Er stand unter dem Bann der Prosa Benns, und seine Arbeiten, so sehr sie sich auch anlehnten, gaben zu schönsten Hoffnungen Anlass. „Ganz grad steht in der Lyrik Alexander Xaver Gwerders nur weniges“, schrieb zwar Werner Weber, doch hielten wir unsere menschliche Verpflichtung für gegeben. Gwerder setzte sich, von der Redeflut Walther Meiers eingeschüchtert, recht still an unseren Tisch. Zudem hielt er uns für verkappte Militaristen. (…) Er entzog sich in seine chagallschen Farbwunder, die bittere Kritik seiner ,Ausdruckswelt‘, die Nachklänge der Statischen Gedichte Benns, wurde zum Grenzgänger unserer Vorzeit der ,Militärdämmerung‘. (…) So sprach Gwerder über Max Rychner und mich das Verdikt aus; er wollte dem Kampf, den er witterte, seinerseits den Kampf ansagen. Gwerder wurde fortan an unserem Tisch nur noch einmal – im Bedauern aller – genannt. Er ging verschattet durch seine Wälder „voll von Traumgetier“ in den Tod. (Jaeckle 1975, S. 56f.)

Aus Gwerders Perspektive zeigten sich die Dinge naturgemäss in einem etwas anderen Licht:

Ich sehe immer mehr die Seltenheit ein von denen, für die Dichten auch Leben bedeutet; ja, nach einigen genügenden Einblicken in den hiesigen Literaturbetrieb darf ich feststellen: ich hielt viel zu viel von seinen Vertretern. Auch was ,Rang und Namen‘ hat, ist nur eine besser ,gestellte‘ Figur des gesellschaftlichen Schachspiels… Ich verstehe so wenig die Sprache nach Erwerb zu drehen, wie aus mündlichen Spiegelfechtereien Gewinn zu ziehen. Und… in Kaffeehäusern und Redaktionsstuben sind noch nie wesentliche Werke entstanden. (Aus einem Brief an E.M. Dürrenberger, 3. September 1951, zitiert nach Fringeli 1970, S. 25.)

Dabei ist zu bedenken, dass Jaeckles Erinnerungen aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts geschrieben sind, allein schon das verbietet eine zu weitgehende Interpretation der gegenseitigen Einschätzung. Dennoch ist in Jaeckles Darstellung einerseits der etwas herablassende, paternalistische Ton nicht zu überhören, der, so möchte man ihm zugute halten, nicht seinen damaligen Gefühlen entsprach, wohl aber eher in die erinnernde Distanz sich einschlich. Anderseits wird offenkundig, dass weder er noch die übrigen Teilnehmer in der Lage waren, den „Grenzgänger“ Gwerder aus seiner selbstgewählten Isolation zu befreien oder sein Vertrauen zu gewinnen und ihn in seinem Grenzort aufzusuchen. Seine „chagallschen Farbwunder“ werden als Fluchtpunkte, jedoch nicht als genuine Ausdrucksmittel wahrgenommen. Demgegenüber bestätigen Gwerders unmittelbar im Anschluss an die Begegnung aufgeschriebenen Äusserungen die vollkommen reziproke Wahrnehmung. Die Ablehnung seitens Gwerders ist total und apodiktisch. Er lässt kein gutes Haar am literarischen Betrieb, von seinem vernichtenden Urteil bleiben nicht einmal seine Gönner verschont: er wittert hinter allem und jedem eine militärische Verschwörung. Literarisch Erfolgreiche sind ihm suspekt, die Schweizer Literaturszene klingt ihm nach „Schrebergartengeflüster, garniert mit Vergissmeinnicht“ (Mö 66). Doch das waren bereits Rückzugsgefechte desjenigen, der seine Hoffnungen auf Anerkennung längst aufgegeben hatte, der den Aufenthalt im Elfenbeinturm zum Programm erklärt hatte:

(…) die Zeit schien mir verflucht, und notwendig das Abseits, das Lichtjahre zwischen innen und aussen legt.30

I.3 Selbstkommentar
Gegensätzliches und Widersprüchliches geben Gwerders Werk an vielen Stellen die Prägung des Zerrissenen und Gebrochenen. Ein Augenschein genügt, um diese Bruchstellen am Inhaltlichen festzumachen. Doch die Risse gehen tiefer. Sie gehören zur Grundstruktur des lyrischen Werks. Gwerder ist sich dieser Konstellation bewusst. Seine brieflichen Kommentare zum Werk geben hinlänglich Zeugnis sowohl von seiner Absicht wie von seiner Angst, Anstoss zu erregen. Gwerder spürt die Entfremdung und das Unzeitgemässe in seinem Schreiben und schreckt davor zurück. Er ahnt, dass er in der literarischen Gegenwart querliegt, und fürchtet, für verrückt erklärt zu werden.31 Doch das Querliegende geht quer durch sein Werk hindurch. Gwerders Selbsteinschätzung, er müsse Anstoss erregen, hat sich dem Werk eingeschrieben: es erregt Anstoss durch seine unaufhörliche Polarisierung. Das Skandalon liegt im Werk selbst. Es ist sich selbst Anstoss und Ablehnung, Entwerfen und Verwerfen in Permanenz. Rede und Gegenrede haben sich im Werk verselbständigt. Das lässt sich am Inhaltlichen ablesen, vielmehr aber noch dem Formalen und dem Sprachgestus. Das Sprachgeschehen ist immer vom Zweifel umgeben, das Fragliche – die zur Frage werdende Form – treibt einen Keil in die Rede. Gwerders Texte sind von der Ambivalenz als wie von einer Grundstruktur durchzogen. Die üppigen Bildwucherungen dokumentieren ein fast unbegrenztes Vertrauen in die mimetischen Abbildungskompetenzen der Sprache. Anderseits stellen sich diesem bildhaften Sprechen auf inhaltlicher Ebene ein tiefes Misstrauen und eine unverhohlene Sprachskepsis gegenüber, die der zweckrationalen Rede jegliche kommunikative, vermittelnde und darstellende Funktion absprechen. Aufgabe der Dichtung – so Gwerder – müsse dagegen die Restituierung und Freilegung einer Sprache von Urwörtern sein. Ähnliche gegenläufige Tendenzen sind weiterhin zu beobachten im Auseinanderklaffen von oppulenter Bildsprache einerseits und dem Verlust an Anschaulichkeit sowie diskursiver Nachvollziehbarkeit solcher Bildkomplexe anderseits. Der in manchen Texten vorherrschende Redetaumel, wo mit fast unerschöpflichen Bild- und Lautassoziationen das Sprechen pausenlos in atemberaubendem Rhythmus vorangetrieben wird, lässt gleichzeitig die Aussagekraft und offenkundig auch die Bereitschaft zum eigentlichen Sagen einem Nullpunkt zustreben. So konvergieren zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen – unermüdliches Sprechen bei gleichzeitig schwindender Diskursivität – zu einer übergeordneten Ausrichtung der Rede. Sie kommt in den Neigungswinkel des allmählichen Verstummens zu liegen. Das gebrochene Sprechen lässt sich aber auch an ganz offen gegen Eigenheiten ablesen. Die Bruchlinie zwischen Avantgarde und Tradition – an deren Schnittstelle Gwerder sich literarisch entfaltete – hat sich in seinen Texten festgeschrieben. Dass sich Gwerder über diese Ambiguität im klaren war, dass er sie produktiv als Literarisierung des Traditionsbruchs in seine Texte aufnahm, ist nicht zu verkennen. Häufig bewahren sich die Gedichte eine Transparenz auf diesen hintergründigen Subtext, sei es in einer gebrochenen Nähe zu einem überkommenen Formenschatz und zu einer verblassenden Bildlichkeit, sei es durch eine verfremdende Anlehnung an die abgegriffene Alltagssprache. Die Funktion solcher Verfremdungen und Metamorphosen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Avantgarde ist nicht zu übersehen: sie heisst Deautomatisierung und soll hindeuten auf sprachliches Geschehen. Das Gedicht rückt sich selber – als Sprachgeschehen – in den Blickpunkt. Inhalte und Formen werden zum Vorwand, um über anderes zu sprechen. In diesem anderen finden sich dann die selbstreflexive Gebärde und das Verstummen und Verschweigen als komplementäre Bewegungen. Diesem wie jenem sind Hinweise eingeschrieben auf Ausgelassenes, aber Mitgemeintes. An einigen ausgewählten Gedichten, die eine solche lyrische Praxis exemplarisch ausüben, sollen im folgenden die selbstkommentierenden und poetologischen Anteile ausformuliert werden. In einer zusätzlichen Reflexion zu den poetologischen Essays im Prosawerk wird dieser implizite Selbstkommentar mit einer Diskussion expliziter Programmvorgaben ergänzt. Angestrebt wird eine Sensibilisierung der Lektüre für die kommentierende Stimme des empirischen Autors.32 Es kann nicht darum gehen, einen Verstehens- und Deutungshorizont für die bevorstehenden Textanalysen zu schaffen. Es soll im Gegenteil versucht werden, dem Zirkel der Selbstbestätigung der im Text eingelegten impliziten Verstehensanweisungen zu entrinnen.

Das Gedicht „Ebenbild“ (Dä 34)33 nennt in seiner Überschrift ein Programm. Gemeint ist das Programm der traditionellen Dichtung mit dem Anspruch, im Text ein mimetisches Abbild einer aussersprachlichen Wirklichkeit hervorbringen. Doch das „Ebenbild“ ist mehr als nur ein Abbild.34 Das Gedicht will aufs Ganze. Es soll authentische Nachschöpfung der Vorlage sein. Die vollkommene Übereinstimmung zwischen den Zeichen und ihrer Referenz wird angestrebt. Soweit die Forderung der Überschrift. Das Gedicht spricht vom Misslingen solcher zur Übereinstimmung zu bringenden Abbildung. Bedeutsam ist nun nicht vor allem die Tatsache, dass das „Ebenbild“ scheitert. Interessieren müsste die Art und Weise, wie dieses Scheitern dargestellt und inszeniert wird, interessieren müssten allenfalls die Gründe dieses Scheiterns und die Folgen für das Schreiben, soweit sie dem Text zu entnehmen sind. Das Gedicht hat paradoxe Konsequenzen: was lässt oder sieht der Autor scheitern, wenn er dennoch schreibt, und wie verträgt es sich mit dem Gedanken, dass das Scheitern von der Unmöglichkeit des Abbildens spricht und dennoch vom Scheitern als von einem Abzubildenden handelt, mithin verneint, was es selbst vollzieht.35

EBENBIID

Ich suchte, vor sich Nacht genaht
nach meinem Ebenbild –
Mein letzter Schritt am Abgrund trat
auf den zerbrochnen Schild.

Ich sucht’ auf edlem Trümmerstück
vergeblich nach dem Reim –
Und liess dann Schild und Nacht zurück…
Nun find’ ich nicht mehr heim.

Das Gedicht36 gibt sich ganz leicht, ist fast schwerelos und ist doch gebrochen. Die mit einem Auslassungszeichen markierten Periodenenden am Schluss des zweiten und sechsten Verses erzwingen eine Sprechpause. Die Zäsuren unterbrechen den gleichmässigen Redefluss, vollends gebrochen wird er am Schluss des vorletzten Verses, in die Gedankenpunkte mündend. Das stumme Zeichen markiert die Öffnung ins Unbestimmte und Ungenannte. Nach einer inhaltlichen Entsprechung für diese formale Öffnung, die als ein Abreissen und Abbrechen der Rede empfunden wird, muss das Gedicht befragt werden. Beide Strophen formulieren eine Suche, zunächst nach „meinem Ebenbild“, sodann nach „dem Reim“. Zweimal ist es das Tun des lyrischen Ich und zweimal ist es in einen Zusammenhang gestellt: „vor sich Nacht genaht“ heisst es in der ersten Strophe und „auf edlem Trümmerstück“ in der zweiten. Das gibt Hinweise auf Gefährdungen. „Nacht“ wie „Trümmerstück“ erschweren die Suche und verzögern das Wiedererkennen. Die syntaktischen und lexikalischen Analogien zeigen an, dass die Suche „nach meinem Ebenbild“ und die Suche „nach dem Reim“ ein Gleiches sind. Das Ich ist ein zur Sprache sich Drängendes, „vergeblich“ suchend „nach meinem Ebenbild“ und „nach dem Reim“. Das gesuchte Ebenbild ist der gesuchte Reim. Der freilich ist ein Ebenbild in der Sprache, ist Rede, die sich selbst ähnlich wird. Die Suche „auf edlem Trümmerstück“ allegorisiert die Sprache zu einem archäologischen Bruchstück. Die Sprache hat ihre Abbildfunktion verloren, sie ist Fragment und Spur einer ehemals intakten Ordnung. Das Gedicht kulminiert in der Feststellung des Weltverlusts. In einer Welt, in der das Ich sich nicht mehr abbilden und die Sprache sich nicht mehr ähnlich werden kann, ist auch nicht heimisch zu werden. „Nun find’ ich nicht mehr heim.“ Der Tempuswechsel zum letzten Vers gibt dem Gedicht eine weitere Bruchstelle und lässt es in die Gegenwart als äussersten Grenzwert einer Vorzeit, in der Abbildung noch als möglich galt, münden. Die vergebliche Suche nach dem Gleichklang im Reim illustriert den Verlust an Vertrautheit und macht die Entfremdung sicht- und hörbar. Im Reim auf „Reim“ erfährt das mimetische Verfahren gerade noch seine Schwundstufe. Der verlorene Reim ist wie ein abhanden gekommener Schlüssel, der das Sprechen hätte vertraut und verlässlich werden lassen. Das Gedicht spricht von einer verlorenen Übereinstimmung zwischen Sprache und Welt sowie der Sprache mit sich selbst. Doch das Gedicht nimmt eine paradoxe Wendung: die Klage über den Verlust holt das Verlorene herein. Das Gedicht spricht vom Scheitern des lyrischen Sprechens – gemeint ist das Sprechen, das Übereinstimmung herstellt. Die Überwindung dieses Verlusts müsste in ein neues, ganz einfaches Sprechen münden. Vollziehen würde es sich freilich in einer Trümmerlandschaft, in der auf Dauer nicht mehr heimisch zu werden ist. In eigentümlichem Gegensatz steht die im Inhaltlichen sich niederschlagende Dissonanz und Dissoziation der Erfahrungs- und Sprachwelt zur „optischen“, äusseren Schlichtheit des Gedichts. Die Klage über die vergebliche Suche nach dem Ebenbild und nach dem Reim gibt ein Programm zu erkennen. Geglückte Rede ist nur möglich um den Preis der Entfremdung. Das Gedicht hebt sie nicht auf, sondern verinnerlicht den Bruch und macht sich das Bruchstück zu eigen.

Ein Gedicht mit ähnlicher Thematik steht unter dem Titel „Dich –“37 (Wä 72).38 Es evoziert das Bild einer unzulänglichen Sprache und weist gleichzeitig mit einer paradoxen Gebärde in einen utopischen Zeit- und Sprachraum, wo die mimetische Kraft der Sprache sich erneuern könnte:

DICH –

Ich muss eine Welt erfinden
um ein wenig deine Gestalt
mit Feuern zu umzünden,
eh sie sich ins Dunkel krallt.

Ich fürchte, nicht zu genügen,
auch mit Mond und Stern.
Mit allen Wortgefügen
wärst du noch immer fern.

Ich muss dich einfach haben
innig und ohne Wort –
Nehmen in Rosentagen:
Einmal. Für immer. Fort.

Die Rede vom Ich in „Ebenbild“ ist der Beschwörung eines Du gewichen. Auch hier berichtet das Gedicht von Versuchen, das Du in der Sprache dingfest zu machen, die Ferne mit „Wortgefügen“ zu überwinden. Und ebenso wie in „Ebenbild“ wird hier das Scheitern solchen Bestrebens inszeniert wird der Sprache nicht zugetraut, das Trennende und die Distanz zu überwinden. Erst die Zuflucht zum sprachlosen Handeln verspricht den Zugang, den die Sprache nicht mehr gewährleistet. Was ist mit dieser Gestalt, dass „sie sich ins Dunkel krallt“, wenn es nicht gelingt, sie „mit Feuern zu umzünden“. Was ist weiter mit ihr, dass selbst „mit allen Wortgefügen“ die Ferne nicht zu überwinden ist, dass sie sich aber dennoch nehmen lässt – „innig und ohne Wort“ –, in einem utopischen Vorstellungsraum freilich. Denn geschehen tut es nicht, nur die Absicht erklärt sich:

Ich muss dich einfach haben,
(…)
Nehmen in Rosentagen:

Man könnte dafür halten, das Gedicht sei eine Liebesklage und spreche vom alten Topos der Unsagbarkeit dieser Liebe. Die Liebesklage soll, wenn schon nicht die Trennung aufheben, dann doch gültiger Ersatz für Handlung sein. Die Klage über die Unzulänglichkeit der Sprache wäre daher nur Teil der Rhetorik der Liebesklage. Die Handlung der Vollzug dieser Liebe, – „Einmal. Für immer. Fort.“ –, aber wäre in einen utopischen Raum gerückt. Sie hätte nur in der Rede Bestand.

Es bleibt daher die Rede in ihrer evokativen Kraft im Mittelpunkt des Gedichtgeschehens. Es scheint ein Subtext in die oberflächliche Textur hineinverwoben zu sein. Wie in „Ebenbild“, wo die Suche „nach meinem Ebenbild“ und die Suche „nach dem Reim“ nach etwas Gleichem und also nach gültiger Rede gingen, kann auch hier, im pausierenden „Dich –“, die Anrufung des Gedichts mitgehört werden. Das lyrische Ich bietet alles Denkbare an Worten und Welt auf, um dem Gestalt zu geben, was ohnehin schon Gestalt ist. Die Suche geht wieder nach dem gültigen Abbild. Diesem liegt – unerreichbar „fern“, „ins Dunkel (ge)krallt“ – ein Urbild, ein Urtext voraus. Die Rede vom Unsagbaren meint sich selbst. Der Topos der Unsagbarkeit ist nicht Teil der Liebesrhetorik. Aber die Liebesklage, mithin das unüberwindbare Getrenntsein der Liebenden, steht als Allegorie für die Sprachnot. Der Schlussvers der letzten Strophe bietet einen Anklang an jenen der zweiten Strophe: nach „(…) immer fern“ endet der Vers hier „(…) immer. Fort.“ Das Getrenntsein setzt sich um in Bewegung des Entfernens. Die Ferne steht zwischen „Wortgefügen“ und „Dich –“, mithin zwischen Abbild und Abgebildetem. In „Wortgefügen“ aber ist ein polemischer Ton mitzuhören. Wenn im pausierenden „Dich –“ das Gedicht selber angesprochen ist, dann setzt sich dieses als kunstvolle Fügung von Worten auch in Widerspruch zu „Wortgefügen“. Gemeint ist dann nicht mehr nur die Kluft zwischen Abbild und Abgebildetem. Die polemische Pointe treibt dann die Ferne zwischen gefügten und gedichteten Worten hervor. Das Dichten gerät nun aber in den Sog einer wortlosen Performanz („innig und ohne Wort –“). Es vollzieht sich in der Pause, die der Überschrift bereits als Leerstelle eingeschrieben war, und die nun als „in Rosentagen“ ein utopisches Gepräge erhält:

Einmal. Für immer. Fort.

Das Gedicht als geglückte Rede sei nur ephemeres Sprechen, kein Verweilen in der Sprache. Die Ferne zum vorausliegenden Urwort sei bleibendes Unbehaustsein im Sprechen und nur handelnd für Augenblicke zu durchbrechen, aber nicht zu überwinden.

Ein Karl Krolow zugeeignetes Gedicht macht in seiner Überschrift auf seinen poetologischen Gehalt aufmerksam:

MOMENT POÉTIQUE

Mit Bildern nicht zu sagen –,
fern, ach so traubenkühl,
nah: Dächer, Brücken ragen
schwarz aus Olivenpfühl…

Welch Zittern, welch Errichten
von Zelten im Samun –,
ein Vers dann, ein Vernichten
–: Verbirg es, schweige nun –
(Wä 29)

Zu bedenken ist die Polysemie in „moment“, das sowohl den zeitlichen Augenblick wie auch das Moment der physikalischen Kraftübertragung oder -einwirkung bezeichnen kann. Die Wendung verleiht dem poetischen Geschehen den doppelten Aspekt des Augenblicklichen und Ephemeren sowie den des handelnden Vollzugs. Das Gedicht erweckt wiederum den Anschein des Einfachen und fast Schwerelosen, und erst bei genauerem Hinhören wird man zahlreicher Anklänge und Wortechos gewahr, die im Text ein Netz von hintergründigen Bezügen wirken lassen. Das lyrische Sprechen erscheint hier als beständiges Oszillieren zwischen dem eben noch Gesagten und dem Verstummen. Wiederum ist es das Bild der Ferne, in das die Sprachklage gefasst wird. In Vers 2 erscheint das entscheidende Wort in Spitzenstellung: „fern“ (statt Wort möchte man es fast lieber noch Buchstabenfolge nennen, denn die Klangqualität ist entscheidend und wird im Gedicht immer neu aufgenommen). Ihm folgt, erläuternd und kommentierend, in Opposition dazu und doch nicht neutralisierend:

ach so traubenkühl,
nah:

Die Ferne ist hier nicht ein Mass räumlicher Distanz, denn auch die Nähe steht in ihrer Reichweite. Eine Befindlichkeit wird von dieser Ferne umschrieben: „so traubenkühl“. Darin ist alles aufgehoben, was im Sagen verfehlt wird. Es muss ein Bild der innersten Geborgenheit sein, das in diesem „traubenkühl“ festgehalten wird. In der befremdlichen Kattachrese klingt an, woran es den folgenden Zeilen gebricht: sie stehen alle in einer lebensfeindlichen Umwelt. „Schwarz“, „Olivenpfühl“, „Zittern“, „Samun“ und „Vernichten“ sind Chiffren für die Gefährdungen der Rede. Die unzugängliche Metapher „traubenkühl“ umschreibt das faszinierend Unzugängliche. Sie ist das Unzugängliche und ist die Ferne. Sie fasst das Sprachlose in eine Chiffre, für die in der Lebenswelt keine Entsprechung besteht. Das Ferne als das Unerreichbare ist das mit Bildern nicht zu Sagende: das „es“ aus dem letzten Vers.

„Fern“, so wurde gesagt, sei ein entscheidendes Wort: das Gedicht ist von diesem Klang wie auf Stützen getragen, denn fast leitmotivisch klingt die Buchstabengruppe immer wieder an: „Bildern“ – „fern“ – „Zittern“ – „Vers“ – „Vernichten“ – „Verbirg“. Fast unbemerkt schiebt sich „Vers“ in diese Reihe und gibt der Ferne ihr eigentliches Ansehen. Da wird dann offenkundig, dass in der unzugänglichen Ferne der Vers gemeint sei und in diesem ein Jenseits dessen, was mit Bildern gerade noch zu sagen sei: viel mehr als ein Aufflackern, ein zittriges „Errichten / von Zelten im Samun“, ein Aufragen von Geborgenheit im Wüstensturm und ein neuerliches Versinken ist es nicht. Es ist im Wort „traubenkühl“, der Chiffre dieses Jenseits, aufgehoben. Im „es“ des Schlussverses aber bleibt ein zu Verbergendes zurück – etwas, worüber sich schweigen lässt: „–: Verbirg es, schweige nun –“. Der Vers ist ganz von Pausen umgeben, als würde die Aufforderung an den Vers selber gehen.39 Aber ist damit nicht auch etwas über dieses Es ausgesagt, muss doch, worüber man schweigen kann, immerhin auch sein. So wäre dann der „Moment poétique“ das augenblickliche Aussprechen, dem das Verstummen unfehlbar folgt. Eine Rede müsste das sein, die sich gerade im Verschweigen bewährt. Das wäre dann die paradoxe Wendung dieser Rede – die sich im Schweigen zwar vielleicht nicht erfüllt, aber doch immerhin bergen und bewahren lässt. Klingt da nicht auch die Geborgenheit an, von der in „traubenkühl“ andeutungsweise und verschwiegen die Rede war. Hier müsste sie sich erfüllen.

Die Rede vom Schweigen und Verstummen, von der Unmöglichkeit des Sagens und der Unzulänglichkeit der Worte durchzieht leitmotivisch Gwerders gesamtes Werk. Die Bilder und Chiffren aus diesem Umkreis aber weisen auf ein Paradox hin: das Verstummen ist zugleich Schwundstufe der gescheiterten Rede – und Erfüllungshorizont der geglückten Rede. Beide Ausrichtungen dieses Sprechens sind in „Moment poétique“ gegenwärtig, wo das eben noch Gesagte mit der Aufforderung zum Schweigen (eigentlich Verschweigen, in Anlehnung an „Verbirg es“) kontrastiert, wo gar eine Entwicklung von jenem zu diesem angedeutet wird. Doch die Figur der paradoxen Gegenüberstellung und Annäherung holt ein Drittes herein. Es kam in „Moment poétique“ in den Blick als jenes „es“, das es zu verbergen galt, und das dort als Surrogat jenes einen Verses noch Bestand hatte – aber nur Bestand haben konnte als im Verschweigen Geborgenes. So ist vom Vers gerade noch als von einem Ausgebliebenen, als von einer Lücke die Rede.

Der flüchtige und nicht ins Wort zu bannende Gehalt dieses „es“ zieht sich auch durch das Gedicht „Strom“ (Wä 86). Dort ist es der „Strom, der Ungeheures spricht“, über dem „des Urworts Donnern“ zu vernehmen ist. Diese urwüchsige Sprache bleibt aber auch hier unzugänglich und ist in unablässiger Bewegung dem Zugriff kognitiven Verstehens entzogen. Sie ist dem Verstehen immer schon um das Flüchtige und Unfassliche ihrer Gestalt voraus. Dennoch entsteht hier eine Ahnung, weshalb die Rede immer wieder im Schweigen Zuflucht sucht. Das Schweigen verspricht die Übereinstimmung mit dem Urwort, verspricht Überwindung der Ferne und des Getrenntseins. Die von Verstummen zurückgelassene Lücke kompensiert den Mangel dieser Rede im Öffnen eines Resonanzraums für das Urwort. Jedes Gedicht ist Annäherung an dieses Urwort. Doch so lange das Gedicht noch spricht, schweigt „es“, und erst wo das Gedicht verstummt, vermag jenes im Nachhall noch mitzuklingen. Das Gedicht ist die asymptotische Annäherung an dieses Urwort. „Einklang“ (Wä 91) – im Titel wiederum das Motiv der Übereinstimmung evozierend – weist auf eine solche Gedankenfigur hin:

Mit einem Worte wird die Welt erneuert.

So beginnt das Gedicht und setzt Massstäbe. Grenzenlos ist hier das Vertrauen in diese Sprache oder vielmehr in dies eine Wort, nachdem Gedicht für Gedicht dem Zweifel an der Sprache zugearbeitet wurde.40 Doch der Gedichtanfang lässt Obertöne mitklingen: um Welterneuerung geht es. Am Anfang dieser Welt schon stand das Wort – so will es die Genesis. Eines Wortes nur bedarf es zur Welterneuerung – ein Wort nur, aber es müsste das richtige sein. Es müsste mit jenem in „Einklang“ sein, das dieser Welt als Schöpfungsrede voranging.

Deutlicher als in den selbstkommentierenden Anteilen der Lyrik gelangen in den poetologischen Essays auch explizit programmatische Ansprüche zum Ausdruck. Darin halten sich Hinweise auf das künstlerische Selbstverständnis verborgen, denen im folgenden nachzugehen ist.

In „Sprache heute“ (GgM 65–67) schreibt Gwerder von den „,Sprechbesessenen‘, die man die Dichter nennt“:

Sie haben wohl ihre Zelte unter uns, aber nicht mehr –; (…) ihre Liebe wie ihr Leid schaffen ihnen Distanz.

Gwerder spricht hier, so darf vermutet werden, auch von sich selbst, wenngleich in der dritten Person. Die Rede in der dritten Person ist die Signatur des Zwiespalts gleichzeitiger Nähe und Ferne zu sich selbst. Sie spricht von der Entfremdung dessen, der sein Leben in einer Doppelrolle zu bestehen hat, immer im Konflikt zwischen aufreibender Pflicht und zur Flucht drängender Neigung. Das Schreiben wird in dieser Auseinandersetzung zu einer Form des Weltverzichts. Von den Gedichten heisst es im gleichen Text: „Es sind Monologe.“ (GgM 66) Gwerder beansprucht hier eine eminent selbstreflexive Funktion für die ästhetische Rede. Es manifestiert sich darin, dass für Gwerder die Dichtung in ihrer selbstreflexiven Ausrichtung eine radikale Absage an die Zweckrationalität der Sprache formuliert:

Ihr [der Dichter, RB] Ausdruck will kein anderes Zeugnis ablegen, als das für seinen Augenblick massgebende, als für die mögliche Vollkommenheit der Sprache –: er zielt nicht auf einen Zweck ausserhalb seiner! (GgM 66f.)

Diese Besinnung auf das „Urwort“ (GgM 65), die eine Erfüllung der Sprache nicht in einem ausserhalb ihrer selbst Liegenden aufsucht, sondern eine Selbsterfüllung der Sprache im Sprechen intendiert, vollzieht einen performativen Weltrückzug.

Der Ort dieser Weltflucht ist im polemischen Text „Dreizehn Meter über der Strasse“41 (Mö 57–60) weltanschaulich und poetologisch gefasst:

Homo mediocre, was hab ich mit dir zu schaffen? Dreizehn Meter über der Strasse: das ist ein hübsches Stück; das kühlt und befreit das Denkorgan von der verstockten Schwüle des Mitmachens.
„Individualanarchist“, ruft mir einer herauf. Ich stelle mich taub: „Wie bitte?“ Aber bereits biegt seine Kolonne um die Ecke; der Ruf hätte ihn beinahe aus der Reihe tanzen lassen. Individualanarchist: keine schlechte Idee; manchmal äussert sich die Wut der Sklaven ganz
brauchbar. (Mö 59)

Die Aussage ist trotz polemischer Schärfe ein ernstzunehmendes Zeugnis für Gwerders Selbsteinschätzung. Er meint es so, wie er es sagt. Das beschriebene Ich ist vereinzelt, hebt sich heraus aus dem Durchschnitt der Welt und bewegt sich über den Niederungen der Weltzwänge. Das Ich hat mit dieser Mittelmässigkeit nichts zu schaffen, ist „befreit (…) von der verstockten Schwüle des Mitmachens“, stellt sich „taub“ (auch eine Form der selbstgewählten Emigration in ein Innen) und das Schimpfwort, „die Wut der Sklaven“, ist ihm Balsam und Bestätigung. Die Textstelle operiert mit gezielten Oppositionen, um die Trennung von Ich und Du, dem „homo mediocre“, hervorzutreiben. Den Chiffren der abgründigen Befangenheit stehen Jene des befreiten Ich gegenüber. „Individualanarchist“ steht in struktureller Analogie neben „homo mediocre“, „Schwüle des Mitmachens“ neben „das kühlt und befreit“ und in „ruft mir einer herauf“ wird mit dem Kontrast zwischen persönlichem und unpersönlichem Pronomen der Unterschied zwischen Individualität und Mittelmass der anderen polemisch zugespitzt.

Auf ein unscheinbares Detail bleibt hinzuweisen: Im Satz „Aber bereits biegt seine Kolonne um die Ecke; der Ruf hätte ihn beinahe aus der Reihe tanzen lassen.“ lässt Gwerder den auf den Aussenseiter schimpfenden „homo mediocre“ seinerseits fast aus seiner Rolle fallen. Dass dies in einem Rufen geschieht, weist zurück auf das Ich, denn auch jenes bestimmt seinen Ort des Abseitsstehens als in einem Sagen geschehend:

Leben im fremdher nicht Erreichbaren, im nur mir, jetzt und hier Möglichen: im Schaffen, im Erschaffen, im Artefakt. Überstehen im schöpferischen Augenblick. (Mö 60, nicht kursiv i.O.)

Damit gelangt eine fatale Konvergenz von Leben und Kunst in den Blick, die dem Aussenseiter das „Überstehen“ und Bestehen ermöglichen soll, die aber das Abseits auch zur unabdingbaren Voraussetzung des Kunstschaffens stilisiert. Die Konvergenz von Leben und Dichtung – als Ethos der Kunst über eine lange Tradition verfügend – zwingt das Sagen in die Übereinstimmung mit dem Sein, an deren Verfehlung das lyrische Ich, wie vorgängig dargestellt wurde, zerbricht, die aber gerade in diesen poetologischen Texten immer wieder eingefordert wird. Im Text unter der bezeichnenden Überschrift „Kunst und Leben“ setzt Gwerder den Gedanken fort:

Verwandlung und Übereinstimmung sind die beiden gewichtigen Teilkräfte des zur Gestalt werdenden Wortes. Der Verwandlung steht einerseits die ganze grosse Sprache zur Verfügung, und anderseits erfordert die Übereinstimmung den ganzen Menschen. (Mö 61)

Von einer Verwandlung in die „Übereinstimmung mit sich selber“ ist weiterhin die Rede und vom „Wagnis einer eigenen Welt“. Die Situation des Dichters sei daher nur ein Sonderfall der Existenz schlechthin, da der Wunsch, „dass die Welt mit ihm übereinstimme“, auf dem Weg über die Sprache erfüllt werden soll. Wiederum lassen sich aus diesen mehr skizzierten als verbindlich ausformulierten Gedanken sehr genaue Vorstellungen von der Poetizität der Sprache herauslesen. So geht es denn im Gedicht nicht um mimetische Abbildung von Welt, vielmehr dupliziert das Gedicht den Schöpfungsakt, indem ein Aussen (ein Signifikant) mit einem Innen (ein Signifikat) in Übereinstimmung zu bringen sei. Damit verlagert sich die Mimesis aus der Referenz ins Zeichen hinein, was dem ewigen Skandalon der Sprache, der Arbitrarität der Zeichen, die Restitution motivierter „Urworte“ entgegensetzt. Auch daran mag Gwerder gedacht haben, als er – in einem anderen Zusammenhang – Benns Spracherneuerung (und stillschweigend seine eigene) empathisch rechtfertigte:

Wenn ein Dichter beispielsweise von einer Blume nicht sagte, sie dufte süss, – sondern für diesen Duft ein Adjektiv fände, welches mit ihm nichts mehr zu tun hätte, aber die Sinne des Lesers so zu stimmen vermöchte, wie der wirkliche Duft der Blume sie stimmt? (Mö 70)42

Der Preisgabe der mimetischen Weltabbildung entspricht auf der Seite der Rezeption eine interpretative Offenheit, die nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen ist:

Und wer Gedichte wirklich zu lesen vermag, der weiss, dass er daran nicht mit seinem Verstand rührt, sondern damit in sich selber an eine vielleicht arg verschüttete Quelle gelangt. (Mö 61)

Die auf der Seite der Rezeption genannte Quelle ist das genaue Komplement der sinnlich statt kognitiv erfahrenen Sprache. Es kann daher nicht erstaunen, dass Gwerder sodann von allen möglichen formalen Bestimmungsgründen der Poetizität gerade das rhythmische Element als zentrales herausgreift. Der Hinweis unterstreicht das eben Dargelegte, dass im Gedicht nicht Welt abgebildet werde, sondern eine Sprachwelt zu schöpfen sei.

Das gute Gedicht ist höchste Freiheit innerhalb einer geistigen Ordnung. (Mö 62)

Diese „geistige Ordnung“ finde ihren versprachlichten Ausdruck im rhythmischen Messen, im rhythmischen Mass des Gedichts. „Dieses Mass“ sei im Gedicht „wie jene eine Möglichkeit“ angelegt, die es als dessen „rhythmische(r) Keim“ zu entfalten gelte. (kursiv i.O.) In diesem Entfalten ihres Keims erhält die Gedichtrede ein Eigengewicht, welches das Sprechen aus aussersprachlichen Bezügen löst und in innersprachliche setzt.43 Gwerder aber stellt nun dieses Ausfalten des Sprachlichen in den engsten der möglichen Bezüge, in das Sein des Dichters:

Was uns als Begabung gegeben ist, bedeutet im Gedicht den rhythmischen Keim, dessen Entfalten nun aber eng mit der Entfaltung des Dichters, seinen Einsichten und seinen Bestrebungen zusammenfällt. (Mö 62)

Damit konvergiert die Genese des Dichters mit jener des Gedichts – und mit jedem neuen Gedicht hat der Dichter sich dieser Nähe neu zu versichern. Was hier noch sehr unspezifisch mit „Begabung“ angedeutet wird, erfährt im Text „Die Echtheit im Gedicht“ (Mö 63–65) eine entschieden philosophische Wendung, wenn es heisst, dass wahrhaftes Schreiben „ohne souveräne Sprachbegabung, ohne den drängenden Daimon. (Mö 63, Hervorhebung von mir) undenkbar sei.44 Mit der Anrufung des „Daimon“ gerät das Schreiben in den Sog einer platonischen Anamnesis. Das Schreiben ist dann nicht mehr gewollter Ausdruck eines Bewusstseins, sondern geschieht unter einem inneren Zwang. Für diesen Zwang zur Entfaltung eines unabweisbaren Wesenskerns ist seit Goethe die Chiffre des „Daimon“ geläufig.45 Die Verpflichtung auf die Entwicklung „nach dem Gesetz, wonach du angetreten“ (Goethe), steht für Gwerder nicht in Frage. Das heisst freilich in Gwerders Lesart, dass Dichtung vor allen Dingen geschieht: als Ausfaltung der – in der Sprache und im Dichter – immer schon vorhandenen Anlage.

Schliesslich mutet sich Gwerder das Unsagbare zu sagen zu und formuliert, was „zum Unerlässlichen des echten Gedichtes gehört“ (Mö 65): „Gedichte sollen Kristallisationsprodukte sein“ („Kristall!“ hiess es zuvor, Mö 64). Gwerder schreckte offensichtlich vor der Ambivalenz dieses Kompositums nicht zurück. Aber das unsägliche Wort mag für ihn genau das bezeichnen, was er im Auge hat: jene sonderbare Verbindung von Geschehenlassen und Geschehenmachen, die das Dichten in einer kaum erträglichen Schwebe hält („zwischen dem Willen zum Ausdruck und der Nötigung durch das Gefühl„ heisst es in „Vor den Blättern Rudolf Scharpfs“, Mö 72). „Darin enthalten ist dann gleichermassen das äusserliche Moment der Sichtbarkeit, wie dessen Transfiguration mittels genuiner Möglichkeiten; unterwegs durch die Stauungen des Innerpersönlichen.“ (Mö 65) Mit dem drängenden „Daimon“ also müsste jenes Aussen, von dem oben als von einem Signifikanten die Rede war, mit jenem Innen, als dessen Signifikat, in Übereinstimmung zu bringen sein.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

– I Annäherungen

I.1 Rezeptionsgeschichte
I.2 Literarisches Umfeld
I.3 Selbstkommentar

 

– II Metaphorik

II.1 Metaphern der Verdunklung
II.2 Verdunkelte Metaphern
II.3 „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City“ – Präludium

 

– III Eine lyrische Topographie

III.1 „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City“ – Der erste Satz
III.2 Eine verschattete Welt
III.3 Sprache am Abgrund
III.4 Verspätungen

 

– IV Selbstgespräch

IV.1 Letzte Verse
IV.2 Die Rede im Konjunktiv
IV.3 Die Rede hören

 

– V Der freie Vers

V.1 „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City„ – Der zweite Satz
V.2 Die Versgrenze
aaa 2.1 Beschwerte Verse – „Nachthirsch“
aaa 2.2 Zerschnittene Verse – „Réveille“

 

– VI Spuren der Erinnerung – Vergessen und Erinnern

VI.l „im Sarkophag des Vergessens…“
VI.2 Erinnerung als Katharsis
2.1 Die hereinbrechende Erinnerung – „November am Fenster“
2.2 Die zitierte Erinnerung – „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City’“ – Schluss
VI.3 Das „Sonnensagen“ der Erinnerung – „November“

 

– VII Naturlyrik – Zwischen Nähe und Ferne

VII.l „lieblich zweifelhaft“
VII.2 Nature morte- „Blauer Eisenhut“
VII.3 Dies irae – „Monsun“
VII.4 Revisionen – „September-Bucht“

 

– Statt eines Schlußworts

 

– Anhang „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City“ ( vollständiger Text)

 

– Bibliographie

I. Alexander Xaver Gwerder

Verwendete Textausgaben und Siglen
A: Selbständige Publikationen
B: Unselbständige Publikationen
C: Sekundärliteratur
C.l: Monographien
C.2: Rezensionen und Artikel
C.3: Literatur-Lexika
C.4: Literaturgeschichte
D: Anthologien
E: Übersetzungen
F: Vertonungen

II. Allgemeine Literatur

– Lebenslauf

 

Vorwort

Gewiss, das Gedicht – das Gedicht heute – zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden – Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.46

So sprach Paul Celan zu seinen Zuhörern in Darmstadt, anlässlich der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises, nur acht Jahre nach dem Tod Alexander Xaver Gwerders. Celan sprach in eigener Sache, aber seine Sache war auch die von anderen. So mag er denn auch Gwerders Fürsprecher gewesen sein, der damals schon verstummt war. Denn auch Gwerder schrieb – wie damals wohl nur die wenigsten, nachdem sie die Sprache wieder gefunden hatten – unter dem Vorzeichen des Verstummens. Und doch hatte seine Rede an der Grenze und von Grenzen bereits eine Tradition. Sie fügte sich in die Trümmerlandschaft Europas der späten vierziger Jahre. Diese Epiphanie des Zerfalls aber war aus Literatur und Kunst seit den Expressionisten schon nicht mehr wegzudenken. Dort war der spätere Zusammenbruch vorweggenommen. Alexander Xaver Gwerder stand ganz im Bann dieser Erbschaft.

In seinem unlängst in einer Literaturzeitschrift erschienenen Spiegelkabinett „Rückblicke auf das fragmentarische Universum der modernen Poesie“ hält Eberhard Ostermann fest, dass „das Fragmentarische (…) geradezu zum Signum literarischer Modernität geworden“ ist.47 Werner Wunderlich und Felix Philipp Ingold ihrerseits bestätigen diesen Befund im Vorwort zum Sammelband Fragen nach dem Autor und geben dem Sachverhalt eine spezifische Nuance.48 „Das Interesse verschiebt sich vom Werkganzen und von der Werkmitte auf das Stück-Werk sowie auf dessen innere und äussere Grenzen. Die Grenze, der Rand, entstanden als Bruch- oder Schnittstelle, wird zum dominanten strukturbildenden Ort, von dem her das Werk nicht nur seine Gestalt, sondern auch seinen Sinn gewinnt.“49 Und in seiner 1989 publizierten Dissertation hält Otto Lorenz50 fest, dass „Schweigen in der Dichtung (…) ein Hauptcharakteristikum der literarischen Moderne“ sei, fügt indessen einschränkend hinzu, es sei als solches „kein spezifisch modernes Phänomen“.51 Diese drei Publikationen jüngeren und jüngsten Datums umreissen mit den Motivkreisen ,Fragment‘, ,Grenze‘ und ,Schweigen‘ das thematische Spektrum der vorliegenden Studie. Wenn freilich in den hier vorgelegten Untersuchungen mit Nachdruck die Phänomene der fragmentarischen Rede, der Rede an der Grenze und der im Schweigen abbrechenden Rede in ihrer Vielfalt ausgebreitet und zu deuten versucht werden, so geschieht das immer in der Absicht, in der stummen Lücke ein Verschwiegenes und Ausgespartes namhaft zu machen. Die in stumme Zeichen ausufernde Gedichtrede treibt nicht auf eine nicht mehr zu artikulierende Stille zu. Die Stille ist die unartikulierte Pause zwischen den ausgesprochenen Worten und wird so zum Räsonanzraum des Verschwiegenen. Der Lektüre obliegt es, diese Pausen zu artikulieren.52 Das Verstummen kann nicht als ein Zaudern der Rede vor dem Unnennbaren gedeutet werden. Es manifestiert sich darin vielmehr der Mut zur Lücke und zur Ellipse als willentlich unterbrochener Denotation. Das Schweigen gilt daher auch nicht primär als Ausdruck des Sprachverlusts. Es vollzieht sich in verschiedenen Formen immer in und neben der Rede, sei es im pausierenden Reden oder im Thematisieren des Verstummens.

Bevor der Fragenkreis der vorliegenden Untersuchung umrissen wird, möchte ich einige Erwägungen voranschicken, die Begleitumstände dieser Arbeit betreffen und in gewisser Hinsicht deren Grenzen abstecken. Zunächst ist zu bedenken, dass gleichzeitig mit dieser Dissertation im Limmat Verlag vom Literaturwissenschaftler Roger Perret eine Werkausgabe vorbereitet wird, die Alexander Xaver Gwerders literarischen Nachlass in einer textkritischen Edition zugänglich machen soll. Nun haben der Verlag und der Herausgeber auf meine Anfragen sehr bereitwillig Auskunft gegeben und mir auch soweit dies erforderlich und möglich war, Einblick in den Nachlass gewährt. Allein einen systematischen Zugang zu fordern schien weder für meine Bedürfnisse zweckmässig, noch wäre dies dem Herausgeber zumutbar gewesen. So habe ich denn versucht, meine Darstellung in der Hauptsache auf die in „Wäldertraum“ in einer sorgfältigen Ausgabe edierten Texte zu beschränken. Wo dennoch Materialien aus dem Nachlass herangezogen wurden, geschah dies zur Berichtigung von Texteingriffen der Herausgeber früherer Editionen und an einigen Stellen für die Dokumentation der Textentstehung. Diese Rückgriffe auf den Nachlass wurden aber zur Wahrung der Transparenz auf das Notwendigste beschränkt, daher sollte auch der Nachvollzug meiner Ausführungen auf der heute verfügbaren Textgrundlage gewährleistet sein. Ein zweites ist zu bedenken. Zwar liegt mit Dieter Fringelis Dissertation bereits eine ausführliche Monographie zu Werk und Leben Alexander Xaver Gwerders vor.53 Freilich war Fringeli in seiner Arbeit von einem ganz anderen, biographischen Erkenntnisinteresse geleitet, und setzte er seine Schwerpunkte in Bereichen, die von der vorliegenden Studie bewusst ausgeschlossen bleiben. Das von Fringeli entworfene, mit zahllosen lebensgeschichtlichen Reminiszenzen und Textbruchstücken gestützte Bild konnte daher für meine Arbeit an den Texten keine Orientierungshilfen und Wegmarken bieten. Abgesehen von dieser einen umfangreicheren Arbeit gibt es zahlreiche Essays und Artikel verschiedenster Autorinnen und Autoren,54 die aber kaum feste Konturen in der Gwerder-Rezeption erkennen lassen. Die vorliegende Dissertation bearbeitet daher gewissermassen ein Brachland. Es schien mir aus diesem Grund sowohl angemessen wie unumgänglich, das Werk vorerst einmal ganz unbefangen auszuschreiten und abzuhören. Das ist eine Arbeit im unwegsamen Gelände, wie unter Bedingungen der Verdunklung. Die eine wie die andere Voraussetzung brachten es mit sich, dass meine Arbeitsweise keine systematische sein konnte. Die Untersuchungen halten sich an Einzeltexte, ohne der Versuchung nachzugeben, den Texten mit einem ordnenden Gefüge zu Leibe zu rücken oder mit blindem Zugriff aufs Ganze die Textanalyse abzukürzen. Allein der thematische Fokus wird einen Zusammenhang gewähren können.

Einem einführenden Kapitel (I.1 – I.3) mit einem Aufriss zu den rezeptions-, literatur- und lebensgeschichtlichen sowie den poetologischen Voraussetzungen folgen zwei Kapitel mit Erörterungen von allgemeinen Aspekten in Gwerders Werk. Im Mittelpunkt dieser Kapitel stehen Fragen der Bildschöpfung sowohl in formaler (II.1 – II.3) wie in inhaltlicher Hinsicht (III.1 – III.4). Nach diesen propädeutischen Kapiteln werden in mehreren Durchgängen mit je unterschiedlicher Gewichtung von inhaltlichen Aspekten die Phänomene der aussparenden Redeweisen umrissen und im Rahmen der untersuchten Texte gedeutet. Der Formenkreis der elliptischen und fragmentarischen Rede wird zunächst in einer Darstellung der im Selbstgespräch verharrenden Gedichte aufgenommen (IV.1 – IV.3). Dem folgt ein Abschnitt, der die Phänomene der aufgebrochenen und zerbrechenden Formen der lyrisch gebundenen Rede untersucht (V.1 – V.2). Die abschliessenden zwei Kapitel stellen die Figuren der Absenz in ihren Mittelpunkt. Dabei handelt es sich einerseits um Aspekte der erinnernden und erinnerten Rede (VI.1 – VI.3) sowie anderseits um die Spuren des in der Rede Ausgesparten und Getilgten in Gedichten, die in der verblassenden Tradition der Naturlyrik stehen (VII.1 – VII.4). Um den Gang der Untersuchung zusätzlich in eine Kontinuität einzubinden, wird das epische Zyklusgedicht „Ein Abend, eine Strasse und ein Mittag in der City“ in mehreren, rhapsodisch eingestreuten Reprisen und unter dem jeweiligen thematisierten Schwerpunkt besprochen. In diesen immer wieder neu ansetzenden Durchgängen durch das lyrische Werk Alexander Xaver Gwerders wird sich auch eine immer präzisere Vorstellung vom Gesamtwerk einstellen, ohne dass indessen, wie gesagt, der systematische Zugriff auf dieses Ganze in Anspruch genommen wird. Schliesslich bleibt anzufügen, dass aus Gründen der thematischen und literaturkritischen Gewichtung das vergleichsweise bescheidene Prosawerk bis auf einige wenige Ausnahmen aus der Studie ausgeklammert worden ist.

Die Formen elliptischer Schreibweisen sind mannigfaltig und brauchen für die Zwecke dieser Studie nicht typisiert zu werden. Als Aussparungen in der Rede und im Unterschied zu dieser werden sie hier stumme oder schweigende Lücken genannt. Es handelt sich dabei nicht einfach um bedeutungslose Nullpositionen oder Leerstellen wie etwa das der Rede vorangehende und ihr folgende Schweigen. Dieses ist phänomenologisch nur noch als Grenzzeichen des Übergangs wahrzunehmen und heuristisch – wo es nicht ausdrücklich namhaft wird – nicht mehr zu verwerten. In Frage stehen hier die innerhalb oder am Rand der Rede kenntlich gemachten Pausen oder Lücken. Dies kann geschehen im Weg über syntaktische oder semantische Ellipsen oder im Einfügen von Gedankenstrichen und -punkten, die dem Sprachfluss eine Zäsur aufzwingen. Und nicht zuletzt wird das Schweigen und Verstummen, das Abbrechen der Rede und das ungehört verhallende Reden in den Gedichten auf der inhaltlichen Ebene immer wieder thematisiert. Nach Lorenz’ an Charles S. Peirce orientierten Terminologie beansprucht das so oder anders kenntlich gemachte Schweigen im Text „den Status eines indexikalischen Zeichens,55 Für die Zeichenfunktion von Indizes gibt es in Gwerders Werk ein Paradigma: der Schatten. Er ist – abgesehen vom idealtypischen Schattenriss – weder Abbild noch Repräsentation, er ist nur stummer Hinweis auf eine in ihm nicht erreichbare Gegenwart.56 Der Schatten ist die stumme Signatur der Lücke, die ihre Ergänzung einfordert und einklagt.57 Wo Otto Lorenz freilich neben der elliptischen Rede in signifikantem Mass immer auch deiktische Redeweisen auftreten sieht und daraus schliesst, dass das Verschwiegene über die hinweisenden Redeformen zu erschliessen sei, und wo er jenes Verschwiegene in intertextuellen Bezügen und poetologischen Selbstkommentaren aufspürt, ohne deren heuristischen Status zu klären, da bewegt sich seine Arbeit auf unsicherem Grund. Diesem drohenden Zirkel der Selbstbestätigung versuche ich zu entgehen, indem ich mich auf Formen der elliptischen Rede konzentriere, denen unabweisbare Indizes auf das in ihnen Verschwiegene eingeschrieben sind. Da ist es dann nicht mehr in das Belieben oder das esoterische Einverständnis des Lesers oder der Leserin gestellt, einen verborgenen Zusammenhang mit einem ungenannt Mitgemeinten herzustellen, vielmehr zwingt sich die Ergänzung der Lektüre auf, wenn anders der Text nicht stumm bleiben soll. Am eindringlichsten und ohne Umwege manifestiert sich dieser „Unvollständigkeitssog“58 der aussparenden Rede in der rhetorischen Figur der Synekdoche und der syntaktischen Ellipse. Ihnen ist die Absenz des Eigentlichen am deutlichsten eingeschrieben, und gleichzeitig sind hier die Spuren des vorausgesetzten, aber verschwiegenen Ganzen am verlässlichsten nachzulesen. Diese Figuren der verkürzenden Rede machen die Lücke als Index des darin unterschlagenen Ganzen kenntlich und entwickeln gegenüber ihrem semantischen Kontext einen Sog. Die Lücke ist daher nicht einfach stumm, und ihre Nullposition bleibt nicht einfach leer, sondern kann im Umweg über den Kontext als Absenz expliziert und vergegenwärtigt werden.59 Die Lücke erhält als Hinweis auf das Ausgesparte den Status eines bedeutungstragenden Zeichens. Wenn daher für die Synekdoche gilt, dass der Teil pars pro toto für ein anderes, Abwesendes einsteht, doch nicht um jenes Ganze, sondern um die Absenz des Ganzen zu meinen, dann gilt dies in Analogie auch für alle anderen Formen der aussparenden Rede. Und es gilt nicht zuletzt für die widersprüchlichste Form der in Gwerders Werk praktizierten elliptischen Rede: die Wortkaskaden. Diese Spracheruptionen verschweigen im unausgesetzten Redeschwall das Sagbare und verdunkeln in unkontrollierten Sprachwolken das Gemeinte. In dieser radikalsten Form der um eine verschwiegene Mitte taumelnden Rede ist das vom Sagen Ausgesparte schon fast nicht mehr zu nennen. Da bleibt dann oft nur der ernüchternde Hinweis auf die Defizienz dieser Rede, die als Ausweis der Verweigerung sinnhaltigen Sagens gerade noch einen Grenzwert an Bedeutung vermittelt.60 Zwischen der synekdochischen Figur und dem Redetaumel als Extremwerte erschliessbarer Textlücken finden sich in Gwerders Werk die unterschiedlichsten Signale des Verschwiegenen. Nicht dem Schweigen und dessen Formen im Text gilt daher die Aufmerksamkeit, sondern dem in den Textlücken und den Redefragmenten Unterschlagenen, dem was die Rede mitmeint, aber schon nicht mehr nennt, nur noch in einer stummen Gebärde als dessen Spur ausweist.61Die Spur ist wie der Schatten die stumme Präsenz des bereits nicht mehr Anwesenden.62 Sie weist als Indiz auf das Vorübergegangene hin, ohne dieses zu sein. Sie ist die vergegenwärtigte Absenz. Sie ist das Zeichen des Mangels an Anwesenheit, an Ganzheit, und doch zeugt sie, wie schwach die Spur auch immer sei, vom Vorübergegangenen. Sie instruiert die Leserin und den Leser, aber sie bedeutet nicht selber, denn erst die gelesene Spur, und das heisst dann, die Vergegenwärtigung des Vergangenen, dessen, was die Spur hinterlassen hat, wird bedeutsam. „Die authentische Spur (…) stört die Ordnung der Welt. Sie ist eine Doppelbelichtung.63 Die Spur ist ein intentionslos hinterlassenes Zeichen und vermag daher nur noch den Verlust an Gegenwart und Ganzheit anzuzeigen. In ihr ist die Ordnung gestört, weil nicht mehr ist, wovon sie noch Abdruck ist was sich in ihr in Erinnerung hält. Lücke und Hohlraum sind die vom Vorübergegangenen hinterlassenen Spuren. Die rhetorischen Figuren in der Rede sind die Spuren einer vorübergegangenen Präsenz. Sie stören die Ordnung der Rede, in der Ellipse deutlicher als in der Metapher. Aber hier wie dort ist im Text eine Spur hinterlassen, die auf ein im Gesagten Verschwiegenes weist.

Die vorliegende Studie möchte an Karl Krolows Klage in der zweiten der „Elegien auf den Tod eines jungen Dichters“ anknüpfen: „Du hast den unbekannten Vogel umgebracht.“ (LüD 45) Das von Krolow im Schlussvers beklagte Verstummen sehe ich als Grundzug dem Sprachgeschehen sehr vieler von Gwerders Texten eingeschrieben. Sein Werk kreist in „ringender Kadenz“64 um eine wortlose Mitte und steht ganz im Bann der Wortleere, der es sich eruptiv zu entreissen hat. Die bewusste Einschränkung auf den Formenkreis der elliptischen Redeweisen geschieht in Anerkennung der Bedeutsamkeit dieser Figuren in Gwerders Werk. Sie ist aber auch beschützender Reflex im unbegleiteten Gang durch diese verdunkelte Schattenwelt, in der ein konziser thematischer Rahmen die fehlenden Navigationshilfen ersetzen muss.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Fakten und Vermutungen zu Alexander Xaver Gwerder + Gutenberg

Nachrufe auf Alexander Xaver Gwerder:

Wolfgang Bächler: Wir haben einen Freund verloren
Die Literatur, 15.10.1952

K.F. Ertel: Wer kümmert sich um den Nachlass?
Neue Literarische Welt, 25.11.1952

Zum 10. Todestag von Alexander Xaver Gwerder:

Peter Jokostra: Wir werden immer miteinander sein
Deutsche Zeitung, 13.9.1962

Zum 15. Todestag von Alexander Xaver Gwerder:

Dieter Fringeli: Gesänge gegen die Masse
Der kleine Bund, 15.9.1967

Zum 50. Geburtstag von Alexander Xaver Gwerder:

Martin Kraft: „Trost aus Trümmern“
Der Landbote, 2.3.1973

Zum 30. Todestag von Alexander Xaver Gwerder:

Dieter Fringeli: Der Zweifel an der Schweiz
Basler Zeitung, 14.9.1982

 

Alexander Xaver Gwerder 4 Movie1 Full.

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