Rose Ausländer: Hinter allen Worten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rose Ausländer: Hinter allen Worten

Ausländer-Hinter allen Worten

HUNDERTWASSER

Rotgrüne Fahrt durch
Lichttunnel saust die
immaterielle Zeit

Räder Fische Übergangslinien
Mit Röntgenaugen
nimm deine Welt
wahr

Spiralen im Kreislauf
verschiebbarer Schienen
Was dreht sich um
alles
in allem ein
zäher gezähmter Fluß

Ins Haus führt ein Weg
in die rätselhaft
dingfeste Ordnung

 

 

 

Nachwort 

Daß eine Frau, deren Leben von den brutalen Verletzungen dieses Jahrhunderts entstellt wurde: Emigration, Holocaust, Heimatverlust auf immer, eine Frau, deren Alter von der Einsamkeit der Krankheit nicht verschont ist, schreiben kann „Mein Atem heißt jetzt“, „Die Vergangenheit hat mich gedichtet / ich habe die Zukunft geerbt // Mein Atem heißt jetzt“ mag wie ein Wunder erscheinen. Andere, die ihr vorausgegangen sind, Nelly Sachs und Paul Celan, sind den Verfolgern nicht entronnen, obgleich auch sie die Verfolger zum Schweigen zu bringen versucht haben mit der Gebärde des Wortes, mit der Wünschelrute der Erinnerung.
Erklären läßt sich das Trost-Wunder nicht, auch Rose Ausländers Auseinandersetzung mit der Lehre Buddhas hat keine Beweiskraft, denn Suchen und Finden bedingen einander. Wir dürfen also von einer Kraft sprechen, die sie in sich hat einwurzeln lassen, die Kraft, die in der langen Leidensgeschichte ihres Volkes gewachsen ist, die wir im Chassidismus finden, in der Heiterkeit des Elends im Stetel, in der chassidischen Musik, in der reichen literarischen Überlieferung.
Anders als Nelly Sachs setzt sich Rose Ausländer mit der Überlieferung nicht auseinander, da sie sie in der Geburtsstadt am Pruth wie selbstverständlich mit aufgenommen hat, während Nelly Sachs, in Berlin geboren, das grausame Scheitern der jüdischen Emanzipation erst überwinden mußte, ehe sie, zutiefst aufgewühlt, die jüdische Diaspora als ihre eigene Geschichte erfuhr.
Daß das Schwere und daß die Schwere leicht werden können, ist Gnade – so deuten wir Christen solche Erfahrung. Doch der Hiob der jüdischen Überlieferung erfährt ähnlich Gnade.
Es muß also wohl zu den Trost-Wundern der Menschheit gehören, daß das Wissen von der eigenen Vergänglichkeit das Wissen von Grausamkeit, von Elend überlagert. Daß das Wissen von der eigenen Vergänglichkeit die eigene Erfahrung in die Irrealität des Traums hinüberspiegelt:

Ich weiß nur daß ich
Menschen liebe
Berge Gärten das Meer

weiß nur daß viele Tote
in mir wohnen

Ich trinke meine Augenblicke
weiß nur
es ist das Zeitspiel
Aufundab.

Und doch heißt es gleich im nächsten Gedicht:

Sich selber betrügen
sich einreden
diese Wirrwarrwelt
sei in Ordnung

Ich höre hungernde Kinder
weinen

Ich sehe Soldaten
fallen

Ich fühle
das Herz der Erde
sich krümmen.

Ohne die letzte Strophe wäre die Wahrnehmung fast läppisch, das sehen wir ja alle, täglich, auf dem Bildschirm, kaum noch fähig aufzubrüllen. Aber wenn „das Herz der Erde sich“ krümmt, ist die Ordnung gestört, hilft kein Aufbrüllen mehr, wird Widerstand zur Makulatur – oder für Rose Ausländer vielleicht nicht mehr nachzuvollziehen, denn „Der Schmerz ist der Baum der / bittere Früchte trägt“ („Das Vergangene“) und „Kein Engel / verrät“ die Spur der Auferstandenen, die ihren Tod überwunden haben.
Die Leichtigkeit der Schwere, dieses Trostwunder ist ein Abschiedsglück, ein sich im Benennen noch einmal der eigenen, der allgemeinen Erfahrungen Vergewissern. So kann denn auch das Gedicht „Jenseits des Bug“, in dem sie die Judenvertreibung in den Schnee- und Hungertod beschreibt, neben „Nizza“ und „Venedig“ und „Winona, Minnesota (USA)“ stehen, den Stationen der Heimatlosigkeit, der Emigration. Die Narben des Erlebten sind ineinander verwachsen, sie schmerzen nicht mehr, fast können sie wohltun:

Ein Buchenblatt
wie aus dem Wald
meiner Heimatstadt
fliegt in mein Zimmer

Es kam
mich zu trösten

Jene junge Zeit
ein Gedankenort
da wohnen die verlorenen
Freunde und Berge

Feines Geäder
eine Widmung
für mich.

Und doch auch dies noch:

wenn ich bedenke
es gibt die Worte
wir
schön
zusammen

Ich möchte sie mit dir teilen.

Die Leichtigkeit, das Verstummen der Wunden, die Unvorstellbarkeit von Wut und Haß, das Leise der Trauer machen Rose Ausländers Gedichte so zugänglich, und sie sind doch nicht austauschbar. Die Biographie hat ihre Schattenspur in die Erinnerung eingegraben, und es ist die Biographie, die sich im Gedicht darstellt: „In meinen Tiefträumen weint die Erde Blut“ und „Die Vergangenheit / hat mich gedichtet / ich habe die Zukunft geerbt // Mein Atem heißt jetzt“.
Und weil es so ist, kann sie wahrnehmen, ohne die Biographie zu verraten: „Diese weißen / Stirnen der Berge“, die Sonne, die nachmittags ins Zimmer kommt, die grüne Erde und die dunkelbraune Erde des Todes, den Duft der Narzissen, das große Schauspiel, wenn Pappeln die spitzen Köpfe schütteln und die Fische und die Suche nach den vierblättrigen Kleeblättern, aber auch die Menschen, die lebenden, die schemenhaft bleiben, und die Toten, denen sie Gestalt gibt, wie in dem strengen Gedicht, das sie „Droste“ nennt, wie das Gedicht „Hundertwasser“, dessen Farben und Zeichen sie deutet, wie „Emanuel Romano“ und „HAP Grieshaber“, der ihr wie die Droste und wie Pablo Neruda nahe ist.
Aber auch fast einfache Sprüche gelingen ihr, gefilterte Erfahrung, die sie weitergibt. „Sag nicht / du bist fertig // Schatten machen dich bang // Aber vergiß nicht, es gibt ja das Licht“ und, aus gleicher Stimmung:

Zähl nicht die Stunden: Sie zählen sich selber
zum Jahr
zur winzigen Ewigkeit
deines Aufenthalts hier

Dieser rollende Hauch.

Notierungen. Einfälle.
Aber so ist ja ihr Ort:

Drei Mahlzeiten
das Bett
dann und wann eine Stimme

Briefe
die mich zum Himmel
beben

Dort wirbeln
leuchtende Welten

Ein Abglanz
fällt auch auf mich.

Ihr Ort: das Altersheim, das Bett, die „Zelle aus Eisen und Gold“, Abschiedserfahrung über Jahre hin, das Weggleiten der Wirklichkeit und das Trost-Wunder, davon schreiben zu können.
Anlaß, dankbar zu sein – vielleicht. Weil das, was sie mitteilt, ja nachvollziehbar scheint, wenn die Verluste eines Lebens aufgerechnet werden.
Und doch mehr: Anlaß, die Kraft zu begreifen, die noch in der Geduld gegenwärtig ist.

Ingeborg Drewitz, Nachwort

Editorische Notiz 

Einverständnis war die zweite Publikation Rose Ausländers in der Pfaffenweiler Presse. Es handelte sich aber um die erste Originalveröffentlichung in diesem Verlag; der früher dort erschienene Band Es ist alles anders war ein Nachdruck von Texten aus dem Buch Gesammelte Gedichte. Fünf weitere bibliophile Gedichtbände erschienen in den folgenden Jahren in Pfaffenweiler.
Zum letzten Mal betreute Berndt Mosblech die Herausgabe eines Buches von Rose Ausländer. Er wählte die Texte wiederum aus der Vielzahl der vorhandenen Manuskripte aus, und Rose Ausländer gab ihren Gedichten vor der Publikation den „letzten Schliff“.
Die Originalausgabe erreichte zwei Auflagen, und bereits im Dezember 1982 erschien die Taschenbuchausgabe Mutterland / Einverständnis, die eine erfreulich hohe Auflage erreicht hat.
1981 begann mit dem Erscheinen des Buches Mein Atem heißt jetzt die Zusammenarbeit Rose Ausländers mit dem S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main. Mein Atem heißt jetzt wurde mit 11.000 verkauften Hardcover-Exemplaren ein für Lyrik ungewöhnlich erfolgreiches Buch. Diese Gedichte festigen endgültig die Einschätzung, daß Rose Ausländer eine der bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache in unserem Jahrhundert ist. 

Helmut Braun, Januar 1991

 

Der Band enthält Gedichte

von Rose Ausländer aus den Jahren 1980 und 1981. Sie wurden zum großen Teil in den Bänden Einverständnis und Mein Atem heißt jetzt veröffentlicht. Diese lyrischen Arbeiten entstanden mithin in einer Zeit, in der Rose Ausländer nach langen Jahren endlich die Anerkennung einer großen Öffentlichkeit zuteil wurde. Es gelingt der Dichterin, ihr Leben, das von den brutalen Verletzungen dieses Jahrhunderts entstellt wurde, ohne Beschönigung, aber auch ohne Bitterkeit in Verse von karger Pracht zu bringen. „Zähl nicht die Stunden“, heißt es in einem ihrer Gedichte, „Sie zählen sich selbst / zum Jahr / zur winzigen Ewigkeit / deines Aufenthalts hier / Dieser rollende Hauch.“ In ihrem Nachwort schreibt Ingeborg Drewitz: „Die Leichtigkeit, das Verstummen der Wunden, das Leise der Trauer sind es, die Rose Ausländers Gedichte so zugänglich machen.“

Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1992

 

Leidenröslein

Sich an allen Ecken
wundstossen
und ganz bleiben

Rose Ausländers Wörter sind wie Kerzen im Wind der blutigen Vergangenheit, sie brennen in uns und geben uns diese Kraft zum Überleben, zum Weiterleben, sie wollen einfach nicht aussterben. Rosalie Scherzer, keines Mädchen der Bukowina, kannte das Lied vom Tod und erlebte zahlreiche Todesfugen, aber sie kam immer wieder ans Licht, trotz Shoah und Exil, trotz Krankheit und Isolierung. Ihr sanftes Schreiben ist wie Balsam auf wundes Herz. Im Regenbogen ihrer Träume findet die Dichterin die Allianz zwischen Mensch und Gott wieder. Sie dichtet uns wach. Sie verklärt unseren Alltag. Ihre Stimme gehört zu den wichtigsten ihrer Zeit.

Sabine Aussenac, amazon.de, 26.5.2005

 

„… in die richtige Belichtung und Perspektive rücken“

– Zum poetologischen Diskurs zwischen Rose Ausländer und Peter Jokostra. –

Der Briefwechsel zwischen Rose Ausländer und Peter Jokostra1 zeichnet sich dadurch aus, dass eine Lyrikerin den Briefdialog mit einem Literaturagenten (Herausgeber und Literaturkritiker) aufnimmt, der selbst als Poet und Prosaist schriftstellerisch tätig ist. Die Diskursebene ist einerseits symmetrisch, weil beide Lyrik schreiben und sich Ihre Wertschätzungen entsprechend austauschen.
Zum anderen ist die Beziehungsstruktur komplementär, weil Rose Ausländer vom Urteil und der Akzeptanz des Literaturkritikers Jokostra abhängig ist, der die deutsch-jüdische Exilantin im Literaturbetrieb vermitteln und ihre Gedichte in Anthologien aufnehmen bzw. rezensieren soll. In der Rolle als Heimatvertriebener und nach der DDR-Zeit als „Republikflüchtiger“ besteht von Seiten Peter Jokostras Aufmerksamkeitsmotivation, als Lyrikkonkurrent könnte eifersüchtige Vorsicht angesagt sein. Wie diese Beziehungsstruktur den poetologischen Diskurs prägt und wie sich vor allem die Kompetenzrhetorik der sich profilierenden Dichterin gegenüber dem zunehmend psychisch labilen Schriftstellerkollegen in einen Freundschafts-Dialog einbettet und legitimiert, wird zu klären sein. Es werden autortypische, beziehungspsychologische, typologische und zeitspezifische (literaturgeschichtliche) Aspekte einbezogen. 

Sehr geehrter Herr Dr. Jokostra!   [18. April 1963]

Ich habe erfahren, dass Sie eine Anthologie von Liebesgedichten vorbereiten.
In der Anlage darf ich Ihnen 6 zu verschiedenen Zeiten entstandene Gedichte vorlegen. Hoffentlich kommt das eine oder andere fuer Ihre Anthologie in Frage.
Ihren Bescheid erwartend, bin ich mit ergebenen Gruessen
2

Ihre Rose Ausländer [handschriftlich]  

Sachlich, förmlich, höflich, knapp beginnt eine heimatlose,3 in Deutschland unbekannte Schriftstellerin mit einem ihr bisher unbekannten Literaturagenten einen Briefwechsel, in dem sie sich nicht einmal ausdrücklich auf eine persönliche Referenz4 beruft. Auf amerikanischer Schreibmaschine geschrieben notiert Rose Ausländer aus ihrem New Yorker Exil als P.S. hinzu: „Ich werde voraussichtlich am 20. Mai ausziehen und fuer laengere Zeit verreisen. Meine provisorische Postadresse nach dem 20. Mai ist:“ – es folgt eine Freundesadresse. 

Lieber Pjotr, [Jahreswechsel 1980/81] 

schöne Feiertage, gute Gesundheit und viel Erfreuliches in 1981 wünscht Dir und den Deinen
Eure Rose 

Sehr oft fliegen meine Gedanken zu Euch. Hoffentlich höre ich bald Gutes von Euch. (Mir geht es gesundheitlich schlecht.) Darf ich Deine Besprechung über „Ein Stück weiter“ und „Einverständnis“ erwarten? R. A. 

Anlage Gedichte „Jahresring 1980“ 

Dieser ebenso kurze und knappe Gruß, auf deutscher Schreibtastatur geschrieben und verfasst in Rose Ausländers Schreibwerkstatt, ihrer Bettwohnung im Düsseldorfer Altenheim der jüdischen Gemeinde (Nelly Sachs Haus), kennzeichnet das Ende eines über 17 Jahre dauernden Briefwechsels. Was hat sich zwischen dem 18. April 1963, der ersten Anfrage aus New York, und dem Gruß zum Jahreswechsel 1980/1981 aus Düsseldorf,5 ereignet? Schon der Vergleich der beiden den Dialog begrenzenden Briefe zeigt seitens der Lyrikerin Auffälligkeiten: Die förmliche Anrede Lieber Herr Doktor Jokostra6 hat sich zum persönlichen Lieber Pjotr generiert. Der Freund bleibt als Literaturkritiker angefragt, aber auch die familiäre An- und Zusprache ist der Brieffreundin wichtig. Die Not der unbekannten Poetin 1963 bezog sich auf die Bitte, Gedichte in Anthologien bzw. Zeitschriften zu veröffentlichen oder dies zu vermitteln. Ihre Bitte als veröffentlichte Autorin zu Briefwechselende betrifft erwünschte Rezensionen zu gleich zwei ihrer neu erschienenen Lyrikbände. Als Briefbeilage kann die mittlerweile mehrfach preisgekrönte Lyrikerin mit einem Belegexemplar der literarisch einschlägigen Zeitschrift Jahresring von 1980 aufwarten. Peter Jokostras Antwort auf die den Briefwechsel initiierende Anfrage Rose Ausländers erfolgte bereits knapp einen Monat später am 13.5.1963: 

Sehr verehrte gnädige Frau, 

heute möchte ich Ihnen sagen, dass mich Ihre Gedichte sehr angesprochen haben. Sie kommen aus einer mir vertrauten Vorstellungswelt und Bewu[ss]tseinslage. Ich habe für meine im Limes Verlag 1964 erscheinende Anthologie moderner Liebeslyrik folgende Titel vorgesehen:
Bis an den Nagelmond / Im Labyrinth / Entfremdung
Von vielen Lyrikern konnte ich nur ein oder zwei Gedichte auswählen, da ich von einer Fülle von Liebesgedichten geradezu zerniert
7 worden bin, eine Fülle, die den projektierten Umfang weit übersteigt.
Mit allen guten Wünschen für Ihr Leben und weiteres Schaffen herzlich Ihr P. J. Jokostra
 

Der aus Polen heimatvertriebene und aus der DDR geflüchtete, in Linz am Rhein sesshaft gewordene Lyriker, Prosaist, Herausgeber und Rezensent Peter Jokostra schreibt, soweit überliefert, am 18.8.1980 seinen letzten zweiseitigen, hier in Auszügen zitierten Brief: 

Liebe zeitlose niemals verblühende Rose, 

weil Du so lange gedarbt hast, bekommst Du einen Jokostromo-Brief auf Vorzugspapier. Alle anderen amigos y amigas werden nur mit Schmierpapier bedient. Das geht auf conto der Wucherpreise für Papier und andere Genitalien. Alors, Dein neuer Gedichtband mit dem gewidmeten Rezensionswunsch ist angekommen, es sind wieder echte Rose-Gedichte mit der unverwechselbaren Handschrift, die mir so vertraut ist […]
Weißt Du, ich möchte Deine letzten beiden Publikationen – ich habe ja noch ein Buch von einem Verlag, den ich nicht kannte, bekommen, was ich im Augenblick nicht finden kann […], gern besprechen. […]
So lange Du Gedichte denkst und schreibst, lebst Du – und ich behaupte gut. Denn Leben und Gedicht sind doch eine Einheit in Deinem Leben der Ausschließlichkeit. […]
Du bist – was die Rezensionen betrifft – bei Wallmann in besten Händen, er kann flott und pointiert schreiben. […]
So vergehen die Jahre und wir mit ihnen. Annemarie betreibt weiterhin Musik und hat viele Schüler, denn Hausmusik ist seit einigen Jahren in Teutonien „in“, voilà, das war es für heute. Bald einmal wieder! Ja?
Gib ein Blinkzeichen, wenn Du kannst und magst. Vive la revolution ökologique! Vive Rose Ausländer! con un abrazo 

Dein Pjotr Prinz Kasuar de Ekuador (das ist mein Albtraumname) y familia
Pjotr de Oblomowka
8

Auch diese beiden die Korrespondenz rahmenden Briefe zwischen 1963 und 1980 geben einige bemerkenswerte Hinweise auf die Schreibhaltung Peter Jokostras: Seine überförmliche Anrede „Sehr verehrte gnädige Frau“ geht in eine schwärmerische, künstlich verspielte Ansprache „Liebe zeitlose niemals verblühende Rose“ über. Von dem sachlich präzisen und begriffsbewussten Sprachstil Rose Ausländers setzen sich die emotionalen, sporadisch vulgär gebärdenden Kommentierungen Peter Jokostras ab, so z.B. „Das geht auf conto der Wucherpreise für Papier und andere Genitalien.“ Die Kommunikation zwischen den beiden Schriftstellerkollegen hatte sich zwar familiär und freundschaftlich angenähert, doch konnte der scheinbar selbstsichere ,Psychoakrobat‘ Jokostra Stilbrüche nicht immer beziehungsadäquat kalkulieren. Rose Ausländer ignorierte diese Ausfälle höflich sowie das persönliche Pathos und Imponiergehabe des Kollegen freundschaftlich, aber spürbar. Der Schreibstil Jokostras soll wohl Unsicherheit überspielen, wirkt stark selbstorientiert und neigt zu emotionaler Dramatik. In den 1960er Jahren wird die Korrespondenz noch beherrscht von der erhofften Förderrolle des Literaturagenten, die im ersten Antwortbrief auch bereits in Aussicht gestellt wird. In den 1970er Jahren dominiert die Frage nach der literarischen Kritik u.a. auch gegenüber der Publikationsauswahl von Gedichten Rose Ausländers. Die lyrische Abstinenz Peter Jokostras drängt den Rezensenten in eine einseitige autoritätsbetonte Gutachterrolle. Bei genauerer Prüfung spielt jedoch Rose Ausländer den souveräneren Part. Sie präzisiert die Stilansprüche an Gedichte, während Jokostra es in der Regel bei allgemeinen Einlassungen und Kommentaren belässt. Der gegenseitige Austausch von Gedichten und Publikationen stimulierte zu poetologischen Aussagen. Mit Rose Ausländers Buchveröffentlichungen (bis 1980 erschienen im Zeitraum des Briefwechsels sieben Gedichtbände) wurde die Rolle des literarischen Mentors bedeutungsloser und nahm Jokostras kompensatorische Selbstdarstellungsinteresse zu, was eine gehaltliche Ausdünnung der Korrespondenz Ende der 1970er Jahre zur Folge hat, die, wie im letzten Briefdokument ablesbar, auf eine beginnende Kommunikationsabstinenz hindeutet.
Verunsichert gegenüber dem Beziehungsinteresse seitens der schwesterlichen Freundin fragt Jokostra:

Bald einmal wieder! Ja?

Bei Rose Ausländer bemerkt man die offensichtliche Betonung der familiären Freundschaft gegenüber der anfänglichen Kollegen-Korrespondenz. Jokostras euphemistischen Selbstbestätigungen, die er mit lobpreisenden Rezensionen und zahllosen Leserbriefen begründet, ein europaweites Echo wie er selbstüberschätzend formuliert,9 steigern sich in dem Maße, wie Rose Ausländer öffentlich wahrgenommen und geehrt wird.10 Der letzte erhaltene Brief Jokostras anerkennt schließlich die öffentliche Reputation und den unbestreitbaren literarischen Rang der Lyrikfreundin, den er treffend als Ausdruck einer Symbiose von Leben und Schreiben charakterisiert: 

So lange Du Gedichte denkst und schreibst, lebst Du – und ich behaupte gut. Denn Leben und Gedicht sind doch eine Einheit in Deinem Leben der Ausschließlichkeit. (18.8.80) 

Die Zitatstellen des letzten Briefes zeigen auch, dass er die Mentorenrolle seines Literaturkritikerkollegen Wallmann, anfangs eifersüchtig beäugt, nun anerkennend toleriert, wohl weil Jokostra selbst einsieht, dass er seinen Einfluss, im Literaturbetrieb für die Lyrikerin Rose Ausländer zu wirken, weitgehend verloren hat. Und noch eine letzte Beobachtung zum Schreibstil Jokostras, den neben vulgären Entgleisungen auch stilistische Unstimmigkeiten charakterisieren, die auch in seinen Gedichten zu beobachten sind. So benutzt er eigenwillig einen veralteten, zum Teil militärsozialisierten Wortschatz (vgl. das Verb zernieren) oder einen mündlich geprägten Sprachjargon, der souveräne Lässigkeit vorspiegeln soll, aber eher Unsicherheit und egozentrische Züge vermuten lässt. Besonders die zitierte Autobiographie Das große Gelächter benennt Jokostras Lebensdefizite und Beziehungsprobleme und gibt Hinweise auf seine psychischen Belastungen.
Wenn man die Eckpunkte dieser Briefkorrespondenz in der Gegenüberstellung der jeweils ersten und letzten Zeugnisse ausleuchten, fragt man sich, wie ein poetologischer Diskurs des Duos Rose – Pjotr angesichts der komplementären Schwankungen, der unterschiedlichen literarischen Interessenlagen und Selbstdarstellungsabsichten überhaupt fruchtbar sein konnte. Das führt zu folgenden Hypothesen, die sich auf eine synchrone Betrachtung der Korrespondenz beziehen. 

1. Die Rollenkonstellation der Briefpartner kehrt sich im Verlauf der Briefpartnerschaft um. Zu Beginn des Dialogs 1963 stellt Jokostra in der Rolle eines Schriftstellers, Herausgebers und bekannten Literaturrezensenten dar, der auf dem Markt der Eitelkeiten, wie Jokostra die Buchmesse und den Literaturbetrieb apostrophierte, eine für Rose Ausländer verheißungsvolle Vermittlerfunktion. Dies veränderte sich Anfang der 1980er Jahre, als Rose Ausländer durch die literarische Qualität ihrer Lyrik von Mentoren unabhängig und erfolgreich publizierte. Aus der unbekannten Exilschriftstellerin Rose Ausländer, die ihren eigenen poetischen Stil zu reflektieren wusste, wurde eine als Person öffentlich immer noch unbekannte, aber überdurchschnittlich gut verkaufte deutsche Nachkriegslyrikerin mit eigenständigem, selbstwertbewusstem Lyrikstil. Jokostra hingegen, der aus dem durch Nachkriegs- und DDR-Schicksal anfangs populäre, vor allem autobiographisch arbeitende Romancier, Prosaist und Literaturkritiker entwickelte sich zu einem sich isolierenden Zeitpessimisten und egozentrischen und wirklichkeitsfliehenden Schriftsteller und eigenbrötlerischen Lyriker. 

2. Die Beziehungskonstellation konnte sich aufgrund einer beiderseitig traumatisch eingebetteten Lebens- bzw. Schicksalskonstellation dennoch immer wieder ausbalancieren. So wurde eine Metakommunikation über literarische Wertungen, Stilkategorien, Wirkungskriterien und Schreibmuster sowie ihre einordnende Positionierungen innerhalb der Literatenmatrix im Nachkriegsdeutschland möglich. Diese komplementäre Wahrnehmung der Schriftstellerkollegen näherte sich in den 1970er Jahren einer symmetrischen an und kippte in der Spätzeit der Korrespondenz um in eine komplementär rollenvertauschte Beziehung. Während Jokostra sich einerseits als publikumswirksamer Autor aufspielte und einen einflussreichen Literaturagenten suggerierte, vermeldete er andererseits seinen depressiv gestimmten Rückzug aus dem von ihm angepöbelten Literaturmarkt. Rose Ausländer gewann dagegen an Selbstsicherheit sowie an selbstkritischer Positionierung ihres lyrischen Schreibens, war mit Selbstdisziplin kreativ produktiv und entwickelte eine eigenständige poetische Werkstattkompetenz und ein Schreibkonzept, mit dem sie einen „modernen“ eigenständigen Lyrikstil generierte. Schriftstellerei blieb bei ihr trotz Krankheit, eingeschränkter Lebensbindung und Heimatlosigkeit ein „Trieb“, wie Rose Ausländer es selbst bekannte, gewann existentiellen Halt und Selbstbestimmung. Eine identitätsbildende Einheit von Leben und Schreiben konstituierte und reflektierte sich in der Zeit des Briefwechsels. 

3. Die unterschiedliche Schreib- und Beziehungskompetenz der beiden Briefautoren wirkte sich anregend auf das Wahrnehmungsinteresse aus und wurde zum qualifizierenden Milieu des Austausches. Rose Ausländer vertauschte die höfliche geschäftliche Schreibhaltung mit einer persönlichen, vertrauensvollen, bediente jedoch immer eine substantiell auf das Schreiben und Publizieren fixierte Kommunikation. Selbstbewusst und kooperativ wagte sie nach dem familiären Kennenlernen das bei ihr seltene Du. Zugleich ignorierte sie indirekt die z.T. vulgären, pauschalen und depressiv gestimmten Einlassungen bzw. Flüchtigkeiten, Geschwätzigkeiten ihres Partners und animierte sich und ihren Kollegenfreund zu metakommunikativer Auseinandersetzung über poetisches Schreiben. Dies entwickelte sich im Verlauf des Briefkontaktes so weit, dass die Anmahnungen zu Rezensionen begleitet wurden mit literarischen Statements. Diese lesen sich so, als wären sie für Rezensionen ihres Freundes formuliert worden. Im Gegensatz dazu stehen die ungenauen und pauschalen Wertungen Peter Jokostras, der vor allem mit Kreuzchen Rangwertigkeiten für Rose Ausländers Gedichte verteilte und seine einschränkenden Indizes für einzelne Gedichte ohne konkrete Hinweise, die immer wieder litaneihaft die Subjektivität des Urteils bekennen und relativierend in Rechnung stellen. Sprachdifferenzierende und wortfindende Gegenentwürfe zu Rose Ausländers Gedichten erarbeitete sich die Autorin sprachschöpferisch selbst. Die Überarbeitungsfassungen ihrer Gedichte im Nachlass belegen dies. 

4. So stellen sich dem Leser die poetologischen Fundstücke vor allem in Rose Ausländers Briefrede als wertvoll für die konzeptionelle Bestimmung ihrer eigenen Gedichte dar und können in Bezug gesetzt werden zu Rose Ausländers anderen poetologischen Einlassungen und Bekenntnissen. Gleichwohl, das Anregungs- und Initiativmilieu dazu lieferte der Briefkontakt mit Peter Jokostra, vor allem auch wegen seiner das Lebensschicksal korrespondierenden Konstellation und literar-biographischen Wechselbeziehung. Als sich die depressive Situation Peter Jokostras zuspitzte, fand Rose Ausländer zu einem vornehmen Rückzug und freundschaftlichen Abstand, ohne ihre Selbstwahrnehmungsenergie in poetischen Fragen zurückzunehmen. Beide gerieten während dieses Schriftverkehrs in eine Umbruchsituation. Das betraf ihre Selbstvergewisserung der Rolle von Literatur in der Gesellschaft und führte zur je eigenen schriftstellerischen Neupositionierung nach Abschluss der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Im Zusammenhang mit der Ost-West-Auseinandersetzung und der DDR-Problematik spiegelt der Briefwechsel auch einen Wandel des literarischen Anspruchs aufgrund eines sich wandelnden gesellschaftlichen und damit auch intellektuellen Selbstverständnisses in der Literaturszene der sich auch kulturell selbstbewusster darstellenden Bundesrepublik. Dies war besonders für die Autoren schwierig, die in biographisch bedingter Entfremdung die Exilerfahrung noch verarbeiten mussten. Rose Ausländer durchlief ihren Selbstfindungsprozess in selbstbestimmter Isolation und poetischer Konzeptionierung. Dieser Wandlungs- (nicht Anpassungsprozess) seiner Lyrikfreundin gelang Jokostra nicht. Er geriet in polemisch geführte Isolierung, seine psychische Beziehungsfremdheit belastete ihn schriftstellerisch und später auch als Literaturkritiker. Diese Isolierung, Egozentrik und Beziehungsangst wirkte vermutlich auch kommunikativ entfremdend und könnte ausschlaggebend für das Ende der Briefkorrespondenz geworden sein. 

Exemplarisch am Briefwechsel belegend sollen diese Thesen gestützt werden. Bereits in Ihrem zweiten Brief an Jokostra führte sich Rose Ausländer mit einem poetologischen Statement ein. Damit reagierte sie auf die Lektüre des Gedichtbandes Magische Strasse von Peter Jokostra. 

In Ihren Versen finde ich ausgesprochen, was ich als das Eigentliche einer mir verwandten Vorstellungswelt empfinde: geistige Wesenheit zu dichterischen Konstellationen gestaltet. Ihre Lyrik bezaubert, die Metaphern stimmen, jedes Wort ist notwendig. Bei aller Farbigkeit der Muster wirken sie nicht dekorativ, sondern beschwoeren Visionen herauf, die ueberzeugen. Es ist Ihrer poetischen Intuition gegeben verdraengte, verschwiegene Zusammenhaenge in die richtige Belichtung und Perspektive zu ruecken. Ihre Dichtung regt an, bereichert – ich bin Ihnen dankbar, sie erleben zu duerfen. 

Neben den persönlich gewidmeten Höflichkeiten gegenüber dem zukünftigen Kritiker ihrer eigenen Lyrik markierte Rose Ausländer doch auch einige handwerkliche und Wirkungs-Qualitäten, die ihr in der Suche nach einer zeitgemäßen Aussprache der zu verarbeitenden Lebenswirklichkeit selbst Richtschnur wurden. Authentische Imagination versus dekorativer Vergegenwärtigung, gestaltete Strenge (dichterische Konstellation) eines geistigen Willensaktes, Evokation verdrängter, verschwiegener Lebenszusammenhänge durch sprachliche Inszenierung und Wortstrenge bzw. Sprachdisziplin: jedes Wort ist notwendig und in die richtige Belichtung und Perspektive zu rücken sind Schreibpositionen, die Maßstäbe setzen, da die evozierte Innerlichkeit nicht vorrangig die Qualität bestimmt, sondern die sprachliche Dramaturgie der Wortinszenierung zählt.
Wir haben bereits in unseren Untersuchungen über Rose Ausländers „Poetische Werkstatt“, wie sie sich im Nachlass darstellt, nachgewiesen, dass diese Schreibkriterien zu Überarbeitungsmaßstäben werden. Jokostras Reaktion (24.12.1963) ist von einer jargonhaften Gespreiztheit, die dem rhetorischen Anspruch seiner Gesprächspartnerin nicht gerecht wird, indem er in erotomaruschem Duktus gegen die Kritikerszenerie polemisiert, weil sein Werk nicht die erwartete Resonanz findet.

Aber auch ich habe einen ,Nerv‘ für Ihre Arbeiten, die ich seismographisch aufgenommen habe. … Die meisten dieser Herren Literaturgewaltiger haben keine Ahnung von Dichtung. Es sind mehr oder weniger Literaturvergewaltiger. Ignoranten beherrschen die Bühne und inaugurieren eine makabre Szene. Überall, wo sie hinblicken, herrscht Impotenz. Und die verhinderten Lyriker schreiben Bücher über Dichtung wie zum Beispiel ein gewisser Hasselblatt, der alles verreißt, was nicht von ihm selbst ist. Aber von ihm ist – nichts. Der hat auch an meiner „Magischen Straße“ kein heiles Wort gelassen. Solche geistigen Kretins beherrschen das Schlachtfeld und geben bei den Rundfunksendern den Ton an. Holthusen hat diesen Stümper mit Recht geschlachtet, aber er sitzt obenauf, verbreitet seinen Dilettantismus. 

Seine Kompetenz beweisend würdigt Jokostra Rose Ausländer: Sie sind eine Lyrikerin und stellt sie – ohne böse Absicht – in eine Reihe von literarischem Mittelmaß (Margot Scharpenberg und Gertrude Schwebell), was einen Blick auf seinen Vergleichsmaßstab wirft. In dem zitierten Brief polemisiert Jokostra neurotisch aufgeputscht weiter: 

Undiskutable Lektoren und Chefs mit atomverseuchten Hirnen, vorpubertäres Stadium, ich goutiere nur Penner und Besoffene, da sollen sich die Demiurgen zu Tode zappeln etc. … 

Rose Ausländer antwortet von New York aus am 22.2.1964 mit diplomatischer Distanz und sachlichem Engagement. Sie umschreibt sein Poltern mit dem „Mut zu rueckhaltloser Offenheit… ich brauche eine Wartezeit zur Ueberwindung meiner Briefscheu, besonders Menschen gegenueber, die ich persoenlich nicht kenne. … Ich gehoere keiner Clique, keiner Koterie an, lebe hier abseits vom literarischen Getriebe… Sie ermutigen und entmutigen mich in einem Atemzug.“
Jokostras Entgleisungen provozieren die auf deutschem Terrain unerfahrene Exilantin zu einem schriftstellerischen Bekenntnis: 

… das Fabulieren ist zwar eine Zwangshandlung, aber der Dichter spricht zum Spiegel, er will gehoert werden, er steigt „hinab zu den Sternen“, verwandelt sie, die hellen und dunklen, in Sprachfiguren, nicht nur, um sie selbst zu bestaunen, sondern um sie zu verschenken. Trauer und Vereinsamung: wenn sie nicht angenommen werden.

Rose Ausländers Bedürfnis zum Dialog mit den „Menschen“, mit der Wirklichkeit wirkt authentisch gegenüber der rhetorischen Eitelkeit ihres Briefpartners. In den Jahren ihrer Europareisen motivieren sie sowohl der Schreibtrieb als auch das Dialogbedürfnis zu einer Korrespondenz mit der literarischen Öffentlichkeit, um eine literarische Identitätsbestimmung zu finden und wie in den 70er Jahren zu formulieren.
Den von Jokostra zitierten Vorwurf „surrealistische Rhetorik“, mit dem ein Kritiker seine lyrischen Sprache stigmatisiert hatte und den Jokostra emphatisch zurückgewiesen hatte, greift Rose Ausländer auf, um sich selbst von modernistischen Tendenzen zu paradoxen, grotesken, abstrakten, symbolischen und surrealistischen Aussagen abzugrenzen. Diese Wertungen Rose Ausländers überzeugen umso weniger, da sie in gleichem Atemzug auf ihre Vorbilder Celan und Bobrowski verweist und an anderer Stelle Heine, Hölderlin und Kafka als Orientierung gebend zitiert. Leitend im Zusammenhang dieser Diskussion ist für Rose Ausländer die verletzend empfundene Bewertung ihrer Dichtung als konventionell (vgl. Brief vom 9.6.1966). Seit dem Neubeginn ihres Schreibens im amerikanischen Exil und der Überwindung der englischsprachigen Schreibphase sucht die Exillyrikerin identitätsbildend nach einem zeitgemäßen Selbstverständnis ihres Schreibens und nach einem modernen Schreibkonzept, für das Paul Celans Lyrik leitend wirkt. Auch ihre Begegnungen mit dem Czernowitzer Freund in Paris sind motiviert von der erhofften Rückversicherung, einen eigenständigen Stil bestätigt zu bekommen und von Celans Urteil als moderne Poetin autorisiert zu werden.
Motiviert durch die Lektüre der beiden Jokostra Bücher Hinab zu den Sternen und Die Zeit hat keine Ufer (Prosa, die R. A. fast als Lyrik empfindet 22.2.1964) sowie ihre Bewertung seines Gedichtbuches Die magische Strasse perspektiviert Rose Ausländer ihren Brief auf einen Rezensentenblick und verwendet Kritikerrhetorik, die als Spiegelblick auf die eigene Poesie verstanden und als Selbstkommentierung ihrer Gedichte gelesen werden kann. 

Die Metaphern stimmen: als Bild, Rhythmus und Schluessel zu Sinn und Zusammenhang. Sprachoekonomie, akustische und optische Uebereinstimmung geben den Versen jene Straffheit und zurueckhaltende Waerme, die dem guten modernen Gedicht eigen sind. Auch die weicheren Verse sind nicht weichlich, nie pathetisch: immer ist es poetische Inbrunst, nicht Gefühlsduselei. Die geglueckte Verschraenkung von Traumheftigkeit und Fakt, Irdischem und Kosmischem vermittelt ihre poetische Vision. 

Jokostra empfindet diese seine Lyrik aufwertende Charakterisierung als Evokation, die Antworten inspiriert (20.9.1964). Seine Replik auf Rose Ausländers Gedichte erschöpft sich in der Formel stark beeindruckt. Seinen Mentoren-Part spielt er derweil in der Aufnahme von zwei Gedichten Rose Ausländers in seine Liebeslyrikanthologie und in benotende Einlassungen11 auf Gedichtmanuskripte, die ihm die unentdeckte Autorin zusendet.
Rose Ausländer wirbt beständig um Veröffentlichung und qualifizierende Rückmeldung und entwickelt Neugier, Jokostra, ihren Mentor im Literaturbetrieb, persönlich kennenzulernen. Dies ergibt sich zum ersten Mal im Mai 1965. Kurz danach bekommt Rose Ausländer den Preis der Stadt Meersburg, ihren ersten Lyrikpreis in Deutschland, im selben Jahr erscheint der Lyrikband Blinder Sommer in Wien, ihre erste Buchpublikation nach 1939 (Der Regenbogen). Am 25.12.1965 besucht Rose Ausländer zum dritten Mal die Familie Jokostra in Linz am Rhein, im Anschluss daran taucht das brüderliche und schwesterliche Freundschafts-Du auf: Liebe Rose, Mein lieber Piotr Dudecki, Anredeformen, die sich spielerisch im Weiteren steigern werden. Der Brief Rose Ausländers vom 18. Januar 1966 enthält nach rund zwei Jahren zum ersten Mal wieder poetologische Einlassungen, die sich vor allem auf kritische Anmerkungen zu einer Rezension Hülsmanns beziehen in der die Lyrikerin als „konservativ“ bezeichnet wird, eine Wertung, die sie Jokostra verbietet zu zitieren bzw. selbst zu verwenden. 

Noch eine Bitte: Zitier bitte nicht das Wort „konservativ“ im Hülsmannschen Satz: „Und fern solcher Experimente fast möchte man sagen konservativen Form des Gedichts.“ Es könnte etwa heißen: „… behauptet sich ihre klare Form des ,Gedichts‘“ oder so ähnlich. „Konservativ“ ist heute ein anrüchiges Wort tabu für einen „modernen“ Dichter
Ich freue mich, dass Du mich mit Marie Luise Kaschnitz zusammenspannst – da bin ich in guter sympathischer Gesellschaft.

[…] mein eigentlichstes, zentrales Interesse ist doch das lyrische Erlebnis. Ein Wort, eine Wortkonstellation, eine Verskonstellation – kein anderes Medium öffnet so die Türen zur Welt, zum Leben, zu den Menschen, manchmal sogar zu mir selber. Ein erregendes Spiel – kein Spiel: Weltwerdung, Menschwerdung, Ichwerdung – das klingt scheusslich [?] expressionistisch, ich müsste [?] es anders sagen. Ich kann es aber gar nicht sagen. Mein „Plan“ ist, zu sagen, was sich in mir als poetische Wirklichkeit abspielt. 

[…] P.S.: Das Wort „Plan“ möchte ich durch Absicht ersetzen: meine zentrale Absicht in der Dichtung ob es sich nun um eine Landschaft, Fantasie und glückliche Gedanken handelt, fällt der Akzent immer auf das Immermenschliche, direkt oder indirekt auf Introspektion, auf die Beziehung des Menschen zum Mitmenschen, zur Gesellschaft, zum Kosmos und zu sich selber. Es sind lauter offene (offengebliebene) Fragen – keine Antworten. 

Rose Ausländer bezieht ihrem Kritiker gegenüber einen lebenskonzeptionellen Standort. Dabei weicht sie von ihrer Gewohnheit ab die sprachhandwerkliche Kompetenz zu beschreiben und wird so unspezifischer (klingt scheusslich [?] expressionistisch). Rose Ausländer möchte sich lebensphilosophisch fundieren,12 eingedenk ihres philosophischen Fundamentums, das sie in Czernowitz erworben hat (u.a. Spinoza und Konstantin Brunner).
Die Legendenbildung mit dem Spiel eines gefälschten, sie verjüngenden Geburtsjahres möchte Rose Ausländer aufrechterhalten, ihr eigenes Geburtsdatum verrät sie selbst dem Freund nicht, der sie ein Jahrzehnt jünger einschätzt. Auch das Geheimnis um ihre autobiographische Verwicklung während der russischen Besetzung von Czernowitz 1940, die an anderer Stelle zitierte und in Gedichten angespielte Kerkerhaft nach der Verhaftung durch den russischen Geheimdienstes KGB.13
Man spürt in ihren autobiographischen Notizen noch die Suche nach einer stimmigen existenziellen und poetologischen Selbstbestimmung. Die eigene Zurücknahme des zu konstruiert wirkenden Wortes „Plan“, das für Konzeptionelles nicht taugt, weist auf kritische Selbstreflexion der nächsten Jahre voraus, in denen sie autonomer und authentischer formuliert. Die Vollendung erreicht Rose Ausländers poetologische Identitätsfindung in der Redekonzeption zum Gryphius-Preis 1977, dem sogenannten poetischen Credo: 

Ich habe, was man Wirklichkeit nennt,
auf meine Weise geträumt,
das Geträumte in Worte verwandelt
und meine geträumte Wortwirklichkeit
in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt.
Und die Welt ist zu mir Zurückgekommen
.14

Die Buchpublikationsmöglichkeiten (Blinder Sommer 1966, 36 Gerechte 1967) verstärken im Briefwechsel die vordringliche Bitte Rose Ausländers um literarische Aufmerksamkeit durch Rezensionen. Ihre kritischen Einlassungen beziehen sich auf Korrekturen des veröffentlichten Meinungsbildes und der literarischen Einordnung als „stilistisch unstete“ Lyrikerin ausgerechnet durch ihren Mentor Peter Jokostra. Wohlüberlegt und spielerisch, den Himmelsöffner „Petrus“ bemühend, wagt die schwesterliche Freundin zum ersten Mal unbeholfen in bemühter Metaphorik Kritik in ihrem Brief vom 9.6.1966: 

Mein strenger Kritiker […] Erlaub mir zum „ Vorbehalt“ einen kritischen Kommentar: Das „Schallende Schweigen“ und viele andere Verse im Buch […] sind vor 20–25 Jahren entstanden, „Pruth“, „Der Vater“, „Cummings“ u.a. vor etwa 3 Jahren. Auf den Unterschied zwischen den alten und neuen Gedichten der mir überaus sympathischen M.L. Kaschnitz ist in sehr rücksichtsvoller Weise hingewiesen worden. Die frühen Gedichte der Nelly Sachs beispielsweise sind konventioneller und wenn man will, „banaler“ als die gerügten – aber die Kritik deutet nicht mit dem Finger auf sie – die unantastbaren Berühmtheiten werden nicht kritisiert, nur gerühmt und Stilunterschiede werden ihnen nicht als „Unstetigkeit der poetischen Mittel“ angekreidet. – Dies ganz privatim. Aber ich bin sehr froh, dass in die blinden Augen Licht einzudringen beginnt und meinem lieben Petrus dankbar – der mir hoffentlich meine „Kritik an seiner Kritik“ nicht übelnimmt. 

Rose Ausländers Zurückhaltung seit ihrer „Kritik an der Kritik“ des Freundes beschwichtigt der Zurechtgewiesene: Es besteht zwischen uns weder eine Meinungsverschiedenheit noch eine latente Spannung. (18.8.1966) Anlässe werden sich kaum noch stellen nachdem Wallmann den Jokostra zugedachten Part übernommen hat, in der feuilletonistischen Öffentlichkeit für Rose Ausländer den Mentor zu spielen. Anfangs misstrauisch beäugt (Ich selbst wurde von dem biedren Wallmann mit der lila Fliege scharf angeschossen. 7.12.1967), doch am Ende des Briefwechsels anerkennend gelobt. Tatsächlich verdankt Rose Ausländer ihm und Hans Bender den großen Durchbruch in der Literaturkritik. Die Nachfrage nach Jokostras Ratschlag konzentriert sich schließlich auf die Hilfe bei der Auswahl von Gedichten für den Lyrikband 36 Gerechte, die Rose Ausländer pragmatisch bei einem Blitzbesuch bei Jokostras persönlich in Linz im November 1966 einholt. Rose Ausländer bedankt sich hinterher zwar für seine „Zeitopferbereitschaft“, verlangt aber zugleich von Jokostra Stillschweigen über seine Hilfestellung.

Eine Bitte: über diese Beratung mit niemanden zu sprechen – es bleibt eine vertrauliche Sache unter uns ja? (9.12.1966)

Eine von Rose Ausländer substantivierte Aussage zum lyrischen Schreiben erfolgt erst wieder als Reflex auf die Lektüre von Jokostras Gedichtband Die gewendete Haut (1.5.1967). Dies jedoch zugleich vor dem Hintergrund der Erwartung, dass sich Jokostra mit einer Rezension zu den 36 Gerechten revanchiert:

Eine absolut „objektive“ Kritik gibt es ja nicht – immer spielt auch das Wohlwollen oder die Antipathie eines Kritikers eine Rolle, sehr oft die Hauptrolle. Nun, ich bin zuversichtlich, dass Du den 36 Gerechten gerecht werden wirst.

Rose Ausländers Kommentierung von Jokostras Gedichtband fällt merkwürdig aus der Gewohnheit, das Schreiben handwerklich und konzeptionell zu qualifizieren. Eine sehr vitalistische, körpermetaphorische Wortwahl wirkt wesensfremd gegenüber ihrer sonstigen eher spröden Rede, die körpersinnliches Sprechen vermeidet. Rose Ausländer versteckt sich zwar hinter metaphorischen Assoziationen, die der Titel Die gewendete Haut ihr zuspielt, und sichert sich mit Referenz auf Karl Krolows Briefbesprechung auffällig ab, um wohl die Reverenz an den psychisch angeschlagenen Freund plausibel erscheinen zu lassen. 

Diese starken, anschaulichen, atmenden Gedichte sind ganz DU, echt und vital. Sie halten eine schöne Balance zwischen Erregung und Beruhigung, Härte und Zartheit, sind immer naturverbunden – das liebe ich sehr an Deinen Versen – aber die körperlich wahrnehmbare, die sinnliche Landschaft ist zugleich nach innen verlegt – so entsteht eine wunderbare Doppelwirkung. Deine Lyrik ist zwar „heiß“ aber auch verhalten, sie ist: Deine Dichtung hat ihre eigene Physiognomie, ihren eigenen herben, erfrischenden Geruch. Sie ist dicht und doch transparent, das ist so schön! … Noch habe ich sie mir nicht ganz einverleibt „einverseelt“, ich muß ein Gedicht oft und in RUHE lesen, bis ich ganz davon Besitz ergreife. Momentan, in dem körperlich und seelisch reduzierten Zustand, ist es mir nicht möglich, SO zu lesen. Aber das Buch ist mir teuer, ich bin Dir dankbar für dieses Geschenk und die liebe Widmung.
Karl Krolow hat Dir über diese „heißen“ Gedichte einen großartigen Brief geschrieben, eigentlich gegen seine sonstige Haltung „warmer“ Lyrik. Er betont hier gewöhnlich seine Sympathie für unterkühlte und lakonische Dichtung. Wie schön, daß er bei Dir eine Ausnahme machte!
 

Man spürt in dieser zitierend absichernden Zueignung, dass Rose Ausländer mit Krolow die Kritik subjektiviert, und dass Rose Ausländer wie Krolow, Peinlichkeiten vermeidend, eine Rhetorik für Jokostra wählen, mit der sie ihre eigene Selbstwertigkeit behaupten. Dieser Brief und der Zeitgeist der 1960er Jahre bedeuten eine Wende, eine gewisse Verabschiedung Rose Ausländers aus dem poetologischen Dialog mit Jokostra. Sie führt ihn mit sich selbst und wenigen anderen Brieffreunden wie Ursula Ratjen und Gerhart Baumann. Auch ihre Auszeichnungen15  geben Anlass poetologische Standortbestimmung zu formulieren. Auf der anderen Seite markiert diese Wende einen steigenden Bedarf Peter Jokostras zu kommentierenden Einlassungen über das lyrische Schreiben und zu literaturkritischen Anmerkungen, die Rose Ausländer durch ihre große Zahl von Publikationen herausfordert. In einem Brief Jokostras um den Mai 1967, seinem 55. Geburtstag und einer Zeit tiefenpsychologischer Behandlung, findet Jokostra zu Rose Ausländers 36 Gerechte, deren Rezension er den Titel „Gespräch mit dem Wind“ geben würde, zu Charakterisierungen, die Rose Ausländer in einer seperaten Abschrift als bemerkenswert festhielt: 

… ich würde Ihre Gedichte genuin und welterfahren nennen – (O Persönliches) – – – Ich wollte sagen, dass Ihr Band, Ihr Gespräch mit dem Wind das gehalten hat, was ich mir versprochen habe. Sie haben Ihr artistisches Feld abgesteckt und keinen Tanzplatz der Eitelkeit angeboten, wie sollte es anders sein bei den Fundus an Weltwissen, den Sie treuhänderisch verwalten.
Ich bewundere, wie knapp und präzis Sie die Bilder setzen, wie sparsam Sie mit Metaphern umgehen.
[…]

Ausgelassen hat Rose Ausländer in der Abschrift die weitere Briefpassage:

Ja, das muß Krolow geschmeckt haben. Er hat die barocke Fülle seiner fruchtbaren Jahre (die Zeichen der Welt Wind und Zeit) sicher auch (obgleich sich auch bei mir das Sparsamkeitsprinzip mehr und mehr durchsetzt, es darf nur nicht zur Austrocknung, zur Dürftigkeit führen, aber da besteht bei Dir keine Gefahr. Denn Du hast ja das Weltwissen als Gegenprinzip, es ist wirksam und mächtig in Dir).
„Schnee im Dezember“ (das ist mein einziger Einwand als „Kritiker“) hätte ich nicht mitgenommen. Du bist da einen Fußbreit zu weit ins Experiment geraten, obgleich dieses Gedicht seine immanenten Schönheiten hat.
[„Schnee im Dezember“ wurde ausgewählt für den Preis der Stadt Meersburg.] 

Die Zitatauswahl aus Jokostras Briefbelobigung charakterisiert Rose Ausländers Interesse an Formulierungen, die ihrem Selbstbild als „moderne“ Dichterin entsprechen und die sich konkret auf die lyrische Gestaltung und Spracharbeit beziehen. Jokostras psychatrische Behandlung und ausdauernd psychische Angeschlagenheit sowie Rose Ausländers Reisezeit und die Genesungszeit nach ihrem Unfall 1972 dünnen den Briefkontakt aus bzw. lassen ihn pausieren. Erst die Vorbereitungen der entscheidenden Veröffentlichungen der kommenden Jahre16 lassen die kommentierenden Einlassungen Jokostras zu Rose Ausländers Gedichten wieder aufleben. 

Ich fiel sofort über Dein großes Skript her. Nur kam es nicht eher zu diesem Brief, den ich mir zwischen allerlei häuslichen Störungen (Handwerker, Kinder etc.) abringe – aber gern, weil DU es bist, an die ich schreibe. Ich habe meine Kringel und Zeichen unter Deine Gedichte gesetzt. Absolument schlechte fand ich kaum (mein subjektives Urteil ist keineswegs bindend, wer könnte sich anmaßen, über Gedichte verbindlich zu urteilen? Ich werde da immer vorsichtiger, auch unschlüssiger. Denn bei den meisten Gedichten sind zwei Kreuze nur Zurückhaltung, weil ich drei Kreuze nicht zu setzen wage. Wer bin ich denn, daß ich das Recht zu solchen Direktheiten hätte?). Also hier meine persönliche absolument unverbindliche Meinung. Da wollte ich drei Kreuze schon unter das der Kaschnitz gewidmete Poem setzen.
Ich tat es nicht, weil es zwar in der Form vollkommen ist, aber die Form eine Kaschnitz-Form und keine Ausländer-Form ist, aber es ist gelungen. Weniger glücklich bin ich mit den anderen Widmungs- oder Nachrufgedichten, z.B. das für Paul Celan. Das finde ich am wenigsten gut. Du wirst sagen, aber das wurde ja mehrmals publiziert. Das hat nichts zu bedeuten. Publiziert wird meist bei solchen auf den Leib geschriebenen Gedichten aus aktuellen Anlässen, also entweder 80. Geburtstag oder Tod oder ein anderes markantes Datum. Ich finde jedoch, ganz im Gegensatz zu Dir, daß „Mit feinen Messern“ Dein bestes Gedicht in dieser imponierenden Kollektion ist, auch „Gericht“ und andere sind ausgezeichnet
.
Deine Titelvorschläge finde ich alle nicht gut, nicht wirksam genug, nicht anregend für den Leser. Vielleicht ist „Auf Flügeln der Luft“ besser, aber es macht mich auch noch nicht glücklich. Ein Titel muß plastisch und nicht abgegriffen sein. „Pulsschlag der Zeit“ ist z.B. so ein abgegriffener Titel (Klischee). Die anderen Vorschläge sind nicht viel besser. Sind unsinnlich und nicht originell genug – da muß Dir noch etwas Reizvolleres, Verführerisches einfallen. (21.5.1973) 

Der Rückzug auf eine Benotungsmarkierungen und die emphatische Kommentierung von Gedicht- und Buchtiteln animieren Rose Ausländer nicht mehr zu einem poetologischen Diskurs, sie nützen ihr nur noch zur kommunikativen Verständigung.

Deinen Concept-Band werde ich sicher besprechen und vorstellen können. Es wird ein guter Band werden, ich kenne ja Deine Texte echte Rose Ausländer-Gedichte, mit dem großen und reichen Erfahrungshintergrund Deiner gefährdeten Existenz geschrieben und vor allem erlitten. Aber der Titel „Mit feinen Messern“ ist brillant, wäre brillant gewesen. „Andere Zeichen“ ist nicht gut, weil nicht originell, er sagt gar nichts. Krolow schrieb vor Jahren „Die Zeichen der Welt“, und bei Dalp gibt es Bände mit ähnlichen Titeln. „Zeichen“ ist einfach abgenutzt, gibt nichts mehr her. Na, das ist nicht so wichtig. Was im Buch steht, ist wichtig. Und da hast ja etwas zu bieten. [Anfang 1975] 

Zum Zeitpunkt des publizistischen Höhepunktes von Rose Ausländer (die Gesammelten Gedichte sind projektiert) kontert Jokostra unerwartet mit einem ungewöhnlichen Vorbehalt: 

Liebe Rose – unvergänglich, am 2.10.75 

hier Deine Gedichtproben, einiges gut/sehr gut, einiges ungestaltet (nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten). Man hat ja als erfahrener Leser (Experte) einen jeweils veränderten Standpunkt zu Gedichten (ich bin mir selbst der schärfste Kritiker). Du stehst mit Deinem lyrischen Werk fest in der Zeit, eine wichtige Stimme mit Deiner reifen Erfahrung, schicksalsträchtig. Vielleicht solltest Du den „Strom der Strophen“ etwas drosseln und statt der eminenten Fülle mehr intensive Spracharbeit leisten. Ich habe mein lyrisches Werk jetzt fast 8 (acht)! Jahre zurückgehalten. Wenn man rückblickt, gefällt einem manches nicht mehr und man ärgert sich über die Voreiligkeit der Publikation. Ich habe bisher auch dem Drängen der Verlagsanfragen nicht nachgegeben. Und so sondere ich immer wieder aus. Was dann nach so langer Prüfungszeit bleibt, ist hieb- und stichfest, also im nächsten Jahr dann. Du mußt anders verfahren. Ich verstehe Deine komplizierte Lage und wir alle hoffen nur, daß Du noch lange nahe bist und mit Gedichten Kunde von Dir gibst. 

Kaschiert Jokostra mit seinem empfohlenen Schreibvorbehalt sein eigenes langes lyrisches Schweigen? Auffällig ist, dass er im Gegenzug zu Rose Ausländers Gedichtsendungen keine eigenen Gedichte zur Kommentierung an seine geliebte „Immerdarrose“ schickt. Er stilisiert seine Abstinenz zur Stärke: 

Das sind Zäsuren, die den Kampf ums Überleben erleichtern. Anders sehe ich das nicht. Ich bin und bleibe mein schärfster Kritiker und manchmal auch – Widersacher.
Bleiben wir dabei:

Die Zukunft
schreibt ein Gedicht
an mein Gedächtnis

Das sind unvergeßliche Rose-Worte, Worte ihres spezifischen Gedichts. Daran erkennt man DICH! 

Die seit den Gesammelten Gedichten uneingeschränkte Anerkennung der Lyrikerin Rose Ausländer beruht seitens Jokostras auf der beginnenden Wahrnehmung des Gesamtwerkes, die einhergeht mit der erst jetzt allmählich sich vervollständigenden Kenntnis über Rose Ausländers Lebensbiographie. Begreift der Freund erst am Schluss der Briefkorrespondenz Leben und Werk seiner Freundin? 

Du bist fürwahr eine immer blühende Dichter-Rose. Das Körperliche schwindet, aber der Geist weht, wohin er will, der Geist ist unzerstörbar. Das denke ich beim Lesen Deiner Verse, die nun chronologisch die ganze Breite und Tiefe Deines Wesens, Deiner poetischen Natur zeigen, eine Enthüllung im besten Sinn. Das ist ein großes und beständiges Werk, das bleiben wird, weil es nicht abhängig ist von Moden, sogenannten „Wellen“ und Trends. Du hast solche Augenblicks-Modernismen nie nötig gehabt. Du bist frei! Das ist das Äußerste, was man erreichen kann. Nun weiß ich auch mehr Biographisches von Dir, habe Dein ganzes Leben mit seinen Fährnissen, aber auch seinen Siegen vor mir. Warum bist Du angesichts dieser großartigen Publikationen „schrecklich deprimiert“? Ist es so, weil Dein geistiges Kind nun geboren ist und sichtbar vor allen Dir damit auch entglitten ist? Sei stark, liebe Rose! Du bist es! Du besitzt eine unglaubliche Energie, einen großen geistigen Lebenswillen, eine Kraft, die auch Dein Volk, das ich so bewundere, überleben und siegen ließ. 

Das Lob zum Lyrikerfolg seiner „Dichterrose“ klingt fast wie ein Abschiedsbrief. Die uneingeschränkte Laudatio steht am Ende des Briefwechsels, beendet auch unseren Durchgang durch die Briefkorrespondenz und endet zugleich am Ausgang unserer Betrachtungen, als wir die brieflichen Eckpunkte ausgewertet haben. Eine bei den Besuchen erhoffte freundschaftliche und symmetrische Beziehungskonstellation scheiterte an der Persönlichkeitsdiskrepanz der beiden unterschiedlich disponierten Persönlichkeiten und Autoren. Der komplementäre Rollenwechsel ließ nicht lange auf sich warten und das distanzsuchende Ende war voraus zu ahnen. Beide Partner sind dennoch ein großes persönliches Wagnis eingegangen.
Rose Ausländer verließ ihre sorgsam gehütete Kommunikationsdistanz, obwohl sie die psychische Gefährdung des neuen Freundes wahrnahm. Peter Jokostra ließ sich auf eine literarisch und intellektuell sowie in der Schreib- und Lebensenergie starke und wie sich herausstellte weit überlegene Künstlerfreundin ein, die seine Lebensbalance gefährden konnte. Beide profitierten von diesem Wagnis und deshalb ist wohl auch dieser umfangreiche Briefwechsel möglich geworden. Ihr Dialog, so unterschiedlich er von beiden Partnern motiviert, initiiert und qualifiziert worden ist, hat zu einer Wahrnehmungsverdichtung des eigenen Künstler- und Lebenskonzeptes geführt. Darin wird Erfolg und Rückzug der beiden Protagonisten transparent, wenn auch nur ausschnitthaft und in selektiver Aufklärung, die durch Kontextrecherche ergänzt und abgesichert werden muss. Am Ende des Briefwechsels versuchte Jokostra zu stabilisieren.

Heute nur dieses kurze, aber ganz herzliche und treue Blinkzeichen. Wie es mit einer Rezension wird – gut ist auch, was DU selbst über Deinen Weg schreibst, was Fritz und Frau Kaschnitz schreiben – weiß ich noch nicht. Ich kann nur sagen, daß ich mich kümmern werde. Das weißt Du ja. Aber bestimmt werden Fritz und Wallmann schreiben. Das ist ja auch gut. 

Die Briefinitiativen und in Folge auch Besuche brechen ab. Letztere auch durch Rose Ausländers Krankheit in Folge ihres Sturzes und ihrer Entscheidung zur Bettlägrigkeit (ab 1978) verursacht. Bis 1988 durfte sie Ihr Schreiben vollenden und mit ihrem Werk ihr Leben. Peter Jokokastra hat sie um 19 Jahre überlebt und starb am 21. Januar 2007 in Berlin. Leben und Werk erreichten jedoch bei ihm nicht jene Stimmigkeit. Einen sensiblen und liebevoll freundschaftlichen Ausklang stellen seine letzten überlieferten Briefe an seine vielfältig titulierte Rose dar. 

Liebe trotz Krankheit unerschöpfliche Rose, 

zuerst danken wir Dir brüderlich und schwesterlich für Deine lieben Grüße, und nun auch den neuen Gedichtband Noch ist Raum. Der Raum ist ja Deine magische Größe. Von dort her verstehe ich Deine Lyrik, auch diese Gedichte, gehe sie an, setze bei Ihnen an – in DEINEM magischen Raum. So möchte ich über sie schreiben, wenn ich eine Möglichkeit dazu finde, eine Chance bekomme. Aber wo wird das sein? 

Jokostra 

am 8.5.1977 

Liebe hell leuchtende Rose, 

auch in der Zukunft wünschen wir Dir die Standhaftigkeit des Staubkorns. Denn noch ist Raum. Du hast ein imponierendes Werk geschaffen, das sich durchgesetzt hat. Mehr kann ein Mensch zu Lebzeiten nicht erreichen. Dieses Blinkzeichen – sichtbarer als ein dem Papierkorb überantwortetes Telegramm – möge Dich ermutigen und Dir unsere beständige Freundschaft bekunden. Bleib uns erhalten. Möge der Tag Dich mit lebendiger Stille umgeben. Alors, auf ein Neues – ein junges Jahrzehnt, das ab überübermorgen für Dich beginnt. 

Es grüßt Dich in Herzlichkeit und Treue
Deine vierköpfige Jokostra-Bande
Jokostra

Harald Vogel, in Jedes Wort ist notwendig. Zum literarischen Briefwechsel von Rose Ausländer und Peter Jokostra. Jahrbuch der Rose Ausländer-Stiftung 2003, Aphorisma Verlag

 

IM TURM
für Rose Ausländer

So hellem Grauen bin ich schon entgangen.
Und hab mich schon geborgen in der Ferne.
Und denke mich ins Unheil mit Verlangen
nach Gegenwart. Ich sehe nicht mehr gerne. 

Zu schönen Morgen bin ich blind gekommen.
Und lebe längst verloren in der Nähe.
Und diese Zeit, geschenkt, zurückgenommen,
war meine Zeit. Wenn ich sie immer sähe.

Werner Söllner

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Porträt 1 & 2 +
Archiv + ÖM + KLGInternet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Rose Ausländer: die horen

Zum 10. Todestag der Autorin:

Harald Vogel: „Schreiben war Leben. Überleben“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Harald Vogel: „Immer zurück zum Pruth“
Harald Vogel, Michael Gans und Kerstin Klepser: Werkstatt Lyrik Rose Ausländer, Verlag Ralf Liebe, 2017

Erika Schuster: „… von einem Strahl irdischer Gnade“
Die Furche, 9.5.2001

Angelika Overath: „Ich wohne nicht, ich lebe“
Neue Zürcher Zeitung, 11.5.2001

Zum 30. Todestag der Autorin:

Lothar Schröder: „Der Tod macht mich unsterblich“
RP.online, 3.1.2018

Katja Nau: Mach wieder Wasser aus mir
taz, 3.1.2018

Gisela Blau: Immer unterwegs
tachles, 2.1.2018

Stefan Seidel: Worte zum Leben
Der Sonntag, 3.1.2018

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