Rudolf Bussmann: Zu Monika Rincks Gedicht „Der See“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Monika Rincks Gedicht „Der See“ aus dem Lyrikband Monika Rinck: Honigprotokolle. −

 

 

 

 

MONIKA RINCK

Der See

Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, diese beiden jungen Männer
stachen in den See auf einem Trampolin. Es hatte ein federndes Deck,
worauf sie lagerten, drei Masten, und ja, die Masten lüpften und kippten
das Ding über die Ecken, und nein, die beiden gingen nicht über Bord.
Als Erstes sah ich das alles von unten, da war ich Alge. Dann sah ich es
schraffiert von der Seite, da war ich Schilf. Später, als ich Himmel war,
sah ich die beiden von oben. Sie segelten stochernd und zügig, schienen
ein Thema zu haben. Dann aber sah ich, wie sie kippten und sanken!
Der See nahm sich das Trampolin zu Herzen. Als das geschah, war ich
das Ufer gewesen. Ich schwöre, der See war ich nie! Was sollte ich tun?
Ich wurde Grund und wühlte mich hinein. Dann schnellte ich zurück,
ja beinah wie ein Trampolin, und spuckte die beiden in hohem Bogen
auf die Promenade. Der See kam zu sich, lief wieder in mir zusammen.
Nur das Schilf, sonst nichts, bewegte sich. Der Himmel ruhte darüber.

 

Wochengedicht #32: Monika Rinck

„Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle“, mit diesem Satz beginnen die meisten der in Monika Rincks Band Honigprotokolle versammelten Texte. Als Protokolle halten sie etwas fest, als Höhnende halten sie es auf Distanz. Sie bewegen sich in der Spannung von Setzen und Widerrufen, von Sagen und Infragestellen. Protokolle sind der Wahrheit verpflichtet, und die Wahrheit ist in ihrem Fall eine unendliche: Sie berichten über Geschehenes wie Erfundenes, Reales und Unmögliches, machen keinen Unterschied zwischen Sachlage und Hirngespinst. Alles darf in ihnen behauptet werden, kann für die Länge des Textes eine neue, unerhörte, unglaubliche Wahrheit setzen. Den Rest besorgt der Honig. Denn es sind ja Honigprotokolle. Ihr Honig ist die Sprache. Jedenfalls bestehen sie aus einer Sprache beweglich und gleichzeitig konsistent wie Honig.
Das Gedicht beginnt mit einer Erzählung, zwei Männer fahren auf einen See hinaus in einem Gefährt, das garantiert wasseruntauglich ist. Schon im zweiten Satz wird die Erzählung zum Märchen oder zum Wunderbericht. Dann macht sich in einer unerwarteten Wendung die Erzählerin selber zum Thema. Gleich einer antiken Göttin tritt sie als verschiedene Wesen auf, wird zur Alge oder zum Schilf. Sie beginnt in das Geschehen einzugreifen, rettet die Männer, setzt sie zurück an das sichere Ufer.

Wunderland
Die Vorgänge, so spektakulär sie erscheinen mögen, sind beiläufig erzählt. Im Zentrum steht das Geschehen im Erzählmedium selber, stehen die abenteuerlichen Verschiebungen der Perspektive, die Verwandlungen der Erzählerin, die Umschwünge in der Thematik („Ich schwöre, der See war ich nie!“). Die vom erzählenden Ich erschaffene Welt gleicht Alices Wunderland, wo nichts unmöglich scheint: Die Sprechende, zum Grund des Sees geworden, wühlt sich in sich hinein und verschluckt dabei auch die beiden Männer, die sie anschliessend ausspuckt. Gesetzmässigkeiten wie Logik, wie Ursache und Wirkung, die für das verständliche Sprechen konstituierend sind, bleiben aussen vor oder sind nur zum Schein gewahrt.
Die Sprache sucht sich ihren eigenen Weg, erlaubt sich schiefe Metaphern („Der See nahm sich das Trampolin zu Herzen“), Übertreibungen, Sprünge. Dennoch bleibt, wovon sie berichtet, erstaunlich genau vorstellbar. Im Übrigen hält sie sich strikt an die Regeln von Syntax, Tempora, Zeichensetzung und Orthographie, genau so wie der Honig, bei aller Eigenwilligkeit und Formlosigkeit, der Schwerkraft und den Kohäsionsgesetzen gehorcht. Die Sprache führt sich in einer Unbekümmertheit und Keckheit vor, welche Vernunft und Zweckmässigkeit aus allen Protokollen der Welt längst getilgt haben.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 12.11.2012

Fakten und Vermutungen zum Autor

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