Rüdiger Görner: Zu Franz Werfels Gedicht „Der Reim“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Werfels Gedicht „Der Reim“ aus Franz Werfel: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Gedichte aus den Jahren 1908–1945. –

 

 

 

 

FRANZ WERFEL

Der Reim

aaaDer Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren
Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.
Sind wir nicht selbst mit Aug’-, Ohr-, Lippenpaaren
Gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?

aaaDas Reimwort meinst du mühsam zu bestechen,
Doch wird es unversehens offenbaren,
Wie Liebeskräfte, die zerspalten waren,
Zum Kuß des Gleichklangs durch die Fernen brechen.

aaaAllein nicht jede Sprache hat geheiligt
Den reinen Reim. Wo nur sich deckt die Endung,
Droht leeres Spiel. Der Geist bleibt unbeteiligt.

aaaDieselben Silben lassen leicht sich leimen.
Doch Stämm’ und Wurzeln spotten solcher Blendung.
Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen.

 

Ein sprachliches Siegel oder ein Paarungsvorgang

Man mache sich einmal einen Reim auf das, was ein Reim so alles kann: Entlegenes, Paradoxes, Extremes miteinander verbinden, sofern es der sprachliche Gleichklang erlaubt. Reimen nach Herzenslust war das Privileg der Dichter, wenn sie sich nicht mit Klopstock und Hölderlin zu Elegien, Oden oder Hymnen aufschwangen, in denen man nach griechischem Muster tunlichst nicht reimte, sondern vorbildlich klagte, rhapsodisch aufsang und rühmte. Der Reim roch nach Moritat, Lyrik für den Hausgebrauch, nach Gedichten für alle Jahreszeiten und Gelegenheiten. Wer freilich kunstvoll zu reimen verstand, brachte es zum „Meistersinger“: „Was euch zum Liede Richt’ und Schnur, / vernehmt nun aus der Tabulatur“, verkündet Kothner in Wagners reimtrunkenster Oper.
Stabreim, Schüttelreim, Kreuzreim, Reimschemata variantenreichster Art: alle dienen dem Lob der Gebundenheit, dem Klangzauber poetischer Sprache. Die Renaissance brachte regelrechte Reimlexika hervor, auf daß der Dichter sich im Dickicht der sprachklanglichen Möglichkeiten echter und falscher Reime nicht verliere. Man nehme aber einmal Maß an den Reimkünstlern, Reimvirtuosen unter den Dichtern von Goethe bis Heine, von Rilke bis Brecht, ohne kleinmütig zu werden. Allein das Reimarsenal von Goethes Faust – mit seinen gewichtigen und mephistophelisch subversiven Wortpaarungen: Es suggeriert eine bei allen Polaritäten und Extremen der Lebenserfahrung noch in sich stimmige Welt. Und ebendiese Voraussetzung ist uns gründlich abhanden gekommen: Wer heute reimt unter den Lyrikern, unternimmt dies oft in parodistischer Absicht.
Und Franz Werfel? Als junger Dichter galt er Rilke als Offenbarung; Stefan Zweig nannte ihn den „lyrischen Menschen“ schlechthin. Als er wenige Monate vor seinem Tod im kalifornischen Exil (im August 1946) seine Gedichte einer letzten Auswahl unterzog, zählte er auch das Sonett „Der Reim“ zu seinem gültigen lyrischen Vermächtnis. Gedichte über poetische Stilmittel sind selten; seltener noch gelungene Verse über ein fragwürdig gewordenes lyrisches Verfahren, die sich ebendieses Verfahrens bedienen.
Werfels Gedicht spricht zunächst vom scheinbar Sakralen des Reims, greift zu physiologischen Vergleichen, findet zur existenzbezogenen Formel, daß wir in unserer „Zwieheit“ selbst „gepaarten Reimen“ gleichen; es sucht im Reim die Überwindung von Spaltung, die Analogie zu liebender Paarung. In den beiden Terzetten ändert sich der Ton. Was folgt, erinnert an, ja, Rilkes Kritik am Reim, die er Werfel konnte davon nicht wissen, einer jungen Dichterin gegenüber 1920 ausgesprochen hatte:

Ich kann gar nicht genug warnen vor der Suggestion des Reims, der unmerklich vergewaltigt und entfremdet, was man ihm anzuvertrauen meint, was aber, strenggenommen, auf dem Wege in die nicht gekonnte lyrische Verwandlung verlorengeht.

Werfel verwirft den Reim als bloßes Sprachkunsthandwerk, als Wortornament, das keine Bedeutung trägt. Doch die eigentliche ironische Volte schlägt er erst im Schlußvers: Keine Sprache verlange mehr nach dem Reim als die deutsche. Warum? Weil sie harmoniebedürftiger sei? Weil sich in ihr leichter „leimen“ lasse als in anderen Sprachen? Das Gedicht „Der Reim“ ist das vorletzte in Werfels letztem lyrischen Zyklus „Kunde vom irdischen Leben“ (1943). Es steht zwischen zwei Gedichten, die das Verlorene erinnern, die „Begegnung mit einer Toten“ und „Auf alten Stationen“, die sein „eigner Zug schon längst verlassen“ hatte. Werfel, so scheint es, erinnert in der ihm fremden Sprachwelt Tugend und Untugend deutscher Verse, seine eigene Liebe zum Reim, von dem er selbst nie lassen konnte.
Was ist der Reim? Das sprachliche Siegel auf den poetischen Urkunden, die Sehnsucht nach Harmonie verbriefen? Ein sprachlicher Paarungsvorgang? Für Werfel blieb er Anlaß, bis zuletzt, für ein Gedicht, ein sehr deutsches, dem man nicht anmerkt, daß er es mit dem Rauschen des Pazifiks im Ohr geschrieben hat. Denn auf diesen reimt sich im Deutschen ohnehin nur wenig.

Rüdiger Görneraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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