Ruth Klüger: Zu Heinrich Deterings Gedicht „Becher“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Heinrich Deterings Gedicht „Becher“ aus Heinrich Detering: Wrist. –

 

 

 

 

HEINRICH DETERING

Becher

er will zu was Großem gehören
er findet sich selber zu klein
er will zu der Fahne schwören
seine Stimme im Chor zu hören
heißt nicht allein zu sein
und es klingt wie ein unreiner Reim

die Großen lassen ihn machen
solange er mitmacht wie sie
sie lassen den schwierigen Schwachen
sich bewähren gewähren bewachen
zu ihnen gehörte er nie
so lebte er hin, irgendwie

(ihn hörte kein Mensch wenn er schrie)

 

So lebte er hin

Johannes R. Becher war so etwas wie der Poeta laureatus, der Nationaldichter der DDR. Schulen und Straßen wurden nach ihm benannt, es gab sogar eine Briefmarke mit seinem gequälten Gesicht. Er war der Dichter der Nationalhymne („Auferstanden aus Ruinen“) und ein hohes Tier in diversen literarischen und kulturellen Gremien und Instituten, Nachfolger von Arnold Zweig als Präsident der Deutschen Akademie der Künste, schließlich sogar Kulturminister der DDR. Gleichzeitig war er psychisch angeschlagen und seit seiner Jugend suizidgefährdet.
Ein Gedicht von einem angesehenen Germanisten, das von der politischen Situation und dem Geisteszustand eines solchen Dichters handelt, mag auf den ersten Blick wie Fachsimpelei aussehen. Tatsächlich sind es Verse von einer ungewöhnlichen Kompaktheit und gleichzeitiger Komplexität über Mitläufertum, über das fragwürdige Bedürfnis eines innerlich unsicheren Zeitgenossen, einer großen Sache dienen zu müssen, und über die minderwertige Rolle des Künstlers in einer Diktatur. Minderwertig findet der Becher dieses Gedichts sich selbst, darum seine Anhänglichkeit ans System. Mitglied eines großen Chors zu sein bedeutet untertauchen, die ungeliebte Individualität aufgeben. Dass die Stimme nicht in den Chor passt, wird schlagartig und prägnant hervorgehoben durch den Vergleich mit einem unreinen Reim, den Vers 6 selbst veranschaulicht.
Doch der Anpassungsversuch misslingt, denn für die Machthaber gehört Becher nicht dazu, er ist ein „schwieriger Schwacher“. Die Alliteration erinnert an „schwanken“ und betont das prekäre Gleichgewicht des Betroffenen und die Überheblichkeit seiner Gönner. Diese lassen – und nun folgen drei Infinitive von ganz verschiedener Bedeutung: Sie lassen ihn „sich bewähren“ heißt, er kann noch etwas leisten; sie lassen ihn „gewähren“ heißt, er ist ihnen ziemlich egal; aber sie lassen ihn „bewachen“ heißt, sie sind ihm nicht unbedingt wohlgesinnt, er wird bespitzelt. In dieser letzten Konstruktion ist Becher nicht mehr Subjekt, sondern passives Objekt. Das alles in vier Wörtern. Ebenso knapp ist die Misere einer solchen Karriere im vorletzten Vers zusammengefasst, der natürlich auf das Ende von Büchners „Lenz“ anspielt, diese klassische Novelle über einen anderen Dichter, der das Leben nicht bewältigen konnte. „Irgendwie hinleben“ ist ja kaum mehr als eine Form des Vegetierens. Wie eine Hommage an den zweitrangigen Dichter Becher enthält der letzte Vers, in Klammern wie ein Nachtrag, noch eine weitere Anspielung auf hochwertige Literatur, nämlich auf den berühmten Anfang von Rilkes erster Duineser Elegie:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn…

Bei Rilke sind es die Engel (der Vers geht bekanntlich weiter: „aus der Engel Ordnungen“), die vermutlich nicht hinhören würden, wenn das lyrische Ich seine Stimme erheben würde. Rilkes Verbum „schriee“ ist Konjunktiv, das heißt, der Sprecher überlegt sich’s und unterlässt das Schreien. Für Deterings Becher ist es wohl umgekehrt. Da sind es die Menschen, die taub sind, denn „hörte“ kann zwar Konjunktiv oder Präteritum sein, „schrie“ mit nur einem „e“ ist aber eindeutig Präteritum. „Wenn“, das bei Rilke die Bedeutung von „falls“ hat, kann bei Detering „als“ oder „wann immer“ bedeuten. Fazit: Dieser Mensch hat geschrien und niemand kam ihm zu Hilfe.
Am Anfang hat er im Chor mitgesungen, auch wenn er falsch gesungen hat; am Ende ist er ein einsamer Schreier in einer Wüste voller Menschen – ein tragischer Ausgang für einen, dessen Beruf die Sprachkunst war. Das Gedicht ist ein Nachruf, in dem viel Sympathie, wenn auch keine Hochachtung steckt. Es bezieht sich zwar auf ein vergangenes System, aber unterschwellig schwingt ein allgemeiner gültiges Thema mit: der Drang zur Grenzüberschreitung der persönlichen Identität und die Flucht in eine Gemeinschaft, die enttäuschen kann. Vor allem ist es beispielhaft für die Aussagekraft von Verkürzungen, die so nur in der Lyrik möglich sind.

Ruth Klüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012

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