Ryszard Krynicki: Stein aus der Neuen Welt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ryszard Krynicki: Stein aus der Neuen Welt

Krynicki-Stein aus der Neuen Welt

AUF DEM DURCHFLUG

Ein Paar Turteltauben auf einem blattlosen Baum:

wenn Ihr auf dem Durchflug
wund und hungrig in der Taubenstadt Warschau seid,
findet Ihr selbst zu meinem Meister

Herrn Cogito,
dem Dichterfürsten

 

Anmerkung:
Als ich im Februar 1982, während des Kriegsrechts, Zbigniew Herbert in seiner Wohnung in Warschau besuchte, fütterte er eine vereinsamte Lachtaube, die von den Stadttauben schikaniert wurde.

 

 

 

Die Speisen sondern tödliches Gift ab

– In einem tristen Weiler namens „Neue Welt“ hat der polnische Lyriker Ryszard Krynicki den Stein des Zweifels gefunden. –

Fast ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Ryszard Krynicki bei uns mit dem – bei Suhrkamp erschienenen – Gedichtband Wunde der Wahrheit vorgestellt wurde. Nun legt der Hamburger Rospo Verlag eine Auswahl älterer, hier erstmals übersetzter und neuester Gedichte des Autors vor, der mit Adam Zagajewski und Stanislaw Baranczac zu den wichtigsten poetischen Stimmen seiner Generation zählt.
„Nach Empedokles“ ist das erste Gedicht des Bandes Der Stein aus der Neuen Welt benannt, nach jenem Vorsokratiker, der, anders als Heraklit oder Parmenides, das Wesen der Welt nicht aus einem Monismus erklärte, sondern als Mischung und Sonderung der vier Elemente. Für die Vermittlung seiner Philosophie wählte der antike Wanderguru, der an der Spitze einer zahlreichen Jüngerschaft gegen die herrschende Oligarchie seiner Vaterstadt putschte, die Form des epischen Lehrgedichts.
In ihrer aphoristisch zugespitzten Knappheit nehmen sich auch einige dieser Gedichte wie Katharmoi, wie Reinigungslehren, aus, deren Duktus und Moral allerdings mitunter Kalendersprüchen entlehnt scheint:

Den Ärmsten dieser Welt
erspart die Schwerarbeit
nicht einmal das Sterben

oder

Das Zeitalter des Fortschritts hat Dämonen entfesselt,
von denen dem Mittelalter
nicht einmal träumte

Doch die „Mischung der Elemente“ macht sich glücklicherweise nicht nur an der Auswahl unterschiedlich stark durchkomponierter Gedichte fest, sondern vor allem in einer inhaltlichen Symmetrie, die den Band nach kontrapunktischem Prinzip strukturiert. Indiz hierfür ist eine weitere, quasi als Widmungsadresse installierte Persönlichkeit, Max Hölzer. Gemeint ist offenbar Max Hölz, jener Politiker, der an der Gründung der KPD und der Räterepublik beteiligt war. Zwar lasten auf diesem Gedicht die großen Begriffe etwas schwer, (die Liebe folgt dem Tod schon mal in einem Abstand von einer Zeile – in eben dieser Reihenfolge), doch bieten bereits die Titel einen ersten Hinweis auf das kalkulierte Risiko eines Lyrikers, für dessen Werk die existential-philosophische Fragestellung noch immer mindestens ebenso wichtig ist wie die poetologische: „Nach Empedokles“, „Nach Max Hölzer“. Nach, nicht über.
Es ist die Haltung der Empathie, die diesen Texten zugrunde liegt. Empedokles und Hölz: Beide waren vom hohen Ideal befeuerte Revolutionäre, beide Beobachter, Beteiligte und Opfer politischer wie weltanschaulicher Umbrüche. Beider Ende ist von Legenden umwoben, ihre Todesarten wiederum – der eine stürzte sich der Überlieferung nach in den Krater des Ätna, der andere ertrank unter ungeklärten Umständen – spiegeln symbolhaft das Wirken gegensätzlicher Elemente auf einen gemeinsamen tödlichen Nenner hin.
Vor diesem Hintergrund lesen sich die Gedichte aus den 80er Jahren neben denen vom Ende der 90er als Texte über Zeiten, geschrieben an den Kanten von Epochen, historischen wie inneren gleichermaßen, an den Rändern der Alltagswirklichkeit auch, an welche die Verlierer des Wandels gedrängt werden:

und hartnäckig wiederholte ratlose Beschwörung
Kilroy was here wie eine Gravierung
im Fels. Im Innern des Dämmers legt der Obdachlose
seine Kartons für die Nacht zurecht. Niemand

spiegelt sich in der Wand

heißt es in dem von Karl Dedecius übertragenen Gedicht „Ich war hier“.
Es sind Protokolle über Fallzeiten:

sowohl im Winter,
als auch im Sommer,
(die Steilwand des Sturzregens eine Nachahmung fallender Mauern),
währte die Reise so lang wie der Fall von einer hohen Brücke: un
endlich und doch begrenzt von Traum und Zerfall der Sätze,
unschreibbarer Sätze

Um die Offenlegung jener Unschreibbarkeit geht es auch in den Fragmenten aus dem Jahr 1989:

stumm,
mit bedecktem Haupt,
stehe ich, den Kiesel im Mund,
vor der Mauer aus Feuer
und Vergessen

Das mag von Krynicki schon mit außergewöhnlicheren Metaphern deklariert worden sein, doch macht gerade der weitgehende Verzicht auf glanzvolle Effekte ein Gedicht wie das wunderbare zu Tadeusz Peiper so eindringlich:

Arbeitslose
lasen keine Gedichte, der Staatsanwalt und die Geheimpolizei doch
sehr wohl, auf die nur ihnen eigene Art. Das Kalbskotelett
wurde lebendig unter dem Messer, schmeckte nach Fahne, die Speisen
sonderten tödliches Gift ab.

Tadeusz Peiper glaubte, die Kunst bringe Ordnung
ins Chaos

Der Stein aus der Neuen Welt markiert die Distanz zu diesem Glauben umso deutlicher, als mit der Neuen Welt keineswegs die der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten gemeint ist, und schon gar nicht ein way of life, dessen ungebrochener Fortschrittsoptimismus und rücksichtsloser Wille zum individuellen ökonomischen Erfolg in Zeiten der Globalisierung zum Religionsersatz avancieren. Vielmehr fand Krynicki in einem tristen Weiler dieses Namens einen Grabstein mit verstümmelter Inschrift, einen Stein, der hier für Worte steht, die „immerzu korrigiert, nach so vielen Kriegen, wer weiß wie treu sind“.

Sylvia Geist, Süddeutsche Zeitung, 10.2.2001

Spitzentier am Morgen

Neun Jahre nachdem ein von Karl Dedecius übersetzter Band das Werk Ryszard Krynickis dem deutschen Publikum zugänglich gemacht hatte, liegt nun eine zweite Gedichtsammlung vor. Krynicki ist neben Adam Zagajewski der bedeutendste der um 1945 geborenen polnischen Lyriker. In einem Gedicht hatte Krynicki vom „Lärm / des Störsenders“ gesprochen: „Das Nichts arbeitet.“ Dichtung ist für Krynicki Arbeit gegen das Vergessen. Aus den Texten Krynickis, der in der „Solidarno¿sc“-Bewegung aktiv war, dessen Werke von 1976 bis 1980 nicht gedruckt wurden und der oft inhaftiert wurde, spricht die Überzeugung, daß der Dichter mit seiner Lyrik politische und gesellschaftliche Mißstände benennen müsse. Dies ist, auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, noch immer der Fall: Der Störsender ist in Betrieb.
Auch in Stein aus der Neuen Welt, wo die Sentenzen nicht selten einen ironischen oder sarkastischen Ton haben:

Ich bemerke seit einiger Zeit,
wenn ein Besitzer nach seinem Hund pfeift,

dreht sich die Mehrzahl der Passanten um.

Krynicki ist ein direkter Nachkomme der Litérature engagée, ein Moralist ohne Erstarrungen, dem in seinen längeren Texten eine Mischung aus Nüchternheit und lyrischem Sprechen gelingt. Dichtung als rationales Abtasten der Welt und der menschlichen Existenz, ohne das Bild und die Metapher zu vernachlässigen, geschult sicherlich am Werk Zbigniew Herberts. Was Herbert und Krynicki neben der Mischung aus kritischem Verstand und lyrischer Kraft verbindet, ist die Tatsache, daß sich beide nicht nur als polnische Lyriker, sondern als Bewahrer und Vermittler eines gesamteuropäischen Kulturerbes verstehen lassen. Wie präsent dieses Erbe in Krynickis Gedichten ist, macht das Bild vom „rosenbrustwarzenen Morgen“ deutlich, eine Abwandlung der Homerschen Wendung „als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte“.
In Krynickis Lyrik klingt die Hoffnung an, daß, wenn auch das Individuelle verschwinden muß, doch alles in veränderter Form erhalten bleibt – nicht umsonst ist das erste Gedicht des Bandes mit „Empedokles“ betitelt. In einem früheren Gedicht, „Poesie lebt“, hört sich diese Hoffnung so an:

Poesie – ist
wie eine Blutübertragung für die Arbeit des Herzens: Sind auch die Spender längst tot
durch plötzlichen Unfall, so lebt
ihr Blut – macht fremde Kreisläufe verwandt

und belebt die fremden Lippen

So führt ein Kreislauf von Catulls „Odi et am“ – „Ich hasse und ich liebe“ – zu der Anrede „Geliebte Verhaßte“ bei Krynicki – eine paradoxe Formel, die die zahlreichen Liebesgedichte in Stein aus der Neuen Welt prägt. Auch sie sind im Grundton melancholisch, und in ihnen zeigt sich neben der politischen die existenzielle Seite von Krynickis Lyrik.
Nur selten findet der Dichter in der Liebe die „Gnade der Augen und Lippen“ und einen Augenblick der Geborgenheit. Liebe, Kindheit, Unschuld, das Leben – all das ist flüchtig, und das Glück der Ruhe währt nicht lange:

Kaum erhebst du dich vom Kniefall,
wirst du zum Bannfluch.

So ist für Krynicki in der Liebe wie in der Welt die grundlegende Gegebenheit ein Gefühl des Fremdseins und der Entfremdung von den Dingen; der Mensch ist „in fremden Traum gefaßt, in den Gefängnisdrillich der Haut“.
Im Politischen wie im Zwischenmenschlichen zwingt die Wunde zum Erinnern und ist demnach willkommen. Hieraus entsteht die Dialektik in Krynickis Gedichten, und deshalb muß „diese eine, körperlose / am schmerzlichsten entblößte, / die dich nicht leben läßt – und dich doch / am Leben hält, diese einzige, auf / immer unverkrustete, allein dir / gegebene“, diese für Krynicki notwendige Wunde offenbleiben. Seinen Gedichten wohnen auch Humor und Selbstironie inne, etwa wenn „die Spitzentiere / aus dem landwirtschaftlichen Musterbetrieb / die Ausflugsgruppe unserer herausragenden Kunstschaffenden betrachteten“. Die Eleganz der Gedichte läßt hoffen, daß viele von ihnen außerhalb der Reichweite des Störsenders liegen, daß Krynicki selbst einer der „Schamanen“ sein möge, von denen Herbert in seinem in Verse gefaßten Brief „An Ryszard Krynicki“ sprach:

Nicht viel wird bleiben Richard wirklich nicht viel
von der Dichtung dieses Wahnsinnsjahrhunderts sicherlich Rilke und Eliot
auch ein paar andre würdige Schamanen, die das Geheimnis kannten
widerstandsfähige Wörter gegen die Wirkung der Zeit zu beschwören
ohne die es keine erinnerungswerte Phase gibt und die Sprache wie Sand ist.

Jan Wagner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.9.2000

Auf der Höhe des Abgrunds

– Ryszard Krynickis lakonische Lyrik. –

Seine Gedichte heißen „Nach Empedokles“ und „Nach Meister Eckhart“, „Buddha“, „Christus und Hiobs Schuld“, „Bei der Lektüre Fromms“ oder auch „Blindes? Taubes? Stummes?“. Es handelt sich um lyrische Notate mit aphoristischem Einschlag und existenzphilosophischer Thematik, um lakonische (Selbst-)Befragungen, Gedankensplitter, Zustandsbeschreibungen. Die Sprache als Vehikel von Profanem und Heiligem, die Liebe als Medium verstörend glückhafter Nähe, das Skandalon der zum Stadtbad umfunktionierten Synagoge – darüber dichtet Krynicki auf denkbar schlichte Weise, im Ton spröder Feststellung, elegischer Reminiszenz oder gebetshafter Invokation. Hinter der gelassenen Konzentriertheit seiner Verse ahnt man Schwerarbeit: die Kunst des Sondierens und Sortierens, der Aussparung.
Ryzard Krynicki (Jahrgang 1943), alles andere als ein Vielschreiber, verfügt über ein schmales, doch konzises Œuvre; damit ist er zu einer der wichtigsten lyrischen Stimmen Polens geworden. Hinzu kommen seine bedeutenden Übertragungen von Paul Celan, Nelly Sachs, Bert Brecht und anderen, für die er kürzlich in Krakau mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde. Und dass er seit zehn Jahren den exquisiten kleinen Verlag A5 leitet, erfährt man eher auf Umwegen. Ebenso bescheiden wie wortkarg gibt Krynicki wenig über seinen Aktivitäten preis. Dem deutschen Leser wurde er 1991 mit der bei Suhrkamp erschienenen Gedichtauswahl Wunde der Wahrheit bekannt. Der von Esther Kinsky betreute Band Stein aus der Neuen Welt versammelt ältere und jüngere Verse, was aus den spärlichen Datierungen freilich nur diskret hervorgeht. Ohnehin wäre es müßig, Krynickis lyrische Miniaturen unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung zu lesen; in ihrer wesentlichen Reduziertheit sperren sie sich gegen Launen und Trends, gleichen vielmehr zeitlosen Stenogrammen im Kontext abendländischen Literaturdialogs.
Was nicht heißt, dass Krynicki dem Thema der Historie, zumal der politischen, ausweicht. Vor allem der Holocaust ist in vielen Gedichten traumatisch präsent, so in den Paul Celan gewidmeten „Fragmenten aus dem Jahr 1989“:

stumm,
mit bedecktem Haupt,
stehe ich, den Kiesel im Mund,
vor der Mauer aus Feuer
und Vergessen

gezählt
zu den Helfern
des Todes

nimm die Asche von mir
nimm mir die Last nicht meiner
Schuld, lass mich ans
andere Ufer der Wunde
bringen: die Buße,

die Trauer

Morgengrauen, in der Farbe der Seine,
Farbe von Wermut und Galle

dein nunmehr Niemandskörper
fließt vom Nirgends ins Nirgends.

Feuer, Vergessen, Wunde, Asche gehören zu den wiederkehrenden Chiffren einer Verstrickung, die sich allenthalben sichtbar-krass manifestiert:

… auf dem Messeparkplatz
ist keine Spur mehr vom jüdischen Friedhof.

Krynicki setzt der Verdrängung seine leisen, mitunter (selbstan-)klagenden Sätze entgegen, die sich über Negation und Paradoxie an eine mögliche Evidenz herantasten. Trotzdem bleibt jede Aussage vorläufig und prekär, weil das sprechende Ich keinerlei Autorität für sich reklamiert.

Jemand, Kaspar Hauser?
Nicht mehr, jemand wie eines von meinen
gescheiterten Ichs, stummer Minotaurus,
träumte mir, träumte mich heute
nacht, auf der versteinerten Wanderschaft
durchs Labyrinth der unterirdischen Bahnen, Flöte

aus Bandagen und Schlacke.

Vielleicht liegt das luzide Geheimnis von Krynickis Poesie darin, dass sie die Feuerprobe des Zweifels passierte und daraus gehärtet hervorging. Nirgends Hysterie, emotionale Aufwallung, Zeitgeist-Hektik; nirgends das Bestreben nach formalen Spielereien, ja auch nur nach sprachlicher Originalität. Ästhetik gehorcht hier der Ethik strenger Selbst- und Fremdwahrnehmung, einem lakonischen Essenzialismus ohne Marotten. Und mag manches allzu schlicht anmuten, es soll uns – mit Empedokles – recht sein:

eines ist das Sehen beider Augen
Verführerin Tod
Liebe
Meer Schweiß der Erde
Erde die den Menschen umgibt.

Ilma Rakusa, Die Zeit, 19.10.2000

Wege in eine steinerne Welt

Der Titel zu den 61 minimalistischen Gedichten entstammt, wie der Autor in einem kurzem Nachwort uns mitteilt, einer Begegnung mit einem Stein, der sich im Hof eines Weihers befand. Auf der Suche nach einer Heimstätte für ihn, die möglicherweise auf einem nicht mehr existierenden jüdischen Friedhof lag, beginnt das lyrische Ich eine Reise, auf der die elementaren Dinge dieser Erde stets die wesentliche Rolle spielen. In den Eingangsversen „Nach Empedokles“ sind es zunächst Meer und Erde, Tod und Liebe, dann erweisen sich die Jahreszeiten Winter und Sommer als Begleiter einer Reise, die „so lang wie der Fall von einer hohen Brücke“ ist. Die äußeren Gebilde sind in der lyrischen Wahrnehmung so „unendlich und doch begrenzt von Traum und (vom) Zerfall der Sätze“. Auch der Abstieg in die Kindheit bringt keine Geborgenheit: „Am gegenwärtigsten sind wir in der Trennung“, heißt es da. Erst die anschließenden lyrischen Bilder offenbaren ein Ich, das sich zu erkennen gibt:

und verbergen darf ich mich nicht unter den Lidern
wenn du den Blick von mir abwendest.

Krynickis lyrisches Ich sucht hinter den unaussprechbaren Worten eine Ahndung von Erkenntnis, die es im Augenblick des Erkennens nur noch als Spiegelung wahrnimmt. In „Das Banner des Surrealismus“ will sich ein dichterisches Ich in der Literaturgeschichte wiederfinden. Ein Versuch, der scheitert.
Im Zwiegespräch mit seinem (wiedergefundenen) Gedicht erweist sich dieses als skeptischer Kommentator seines Strebens, eine gemeinsame Sprache zu finden. Kurz entschlossen schneidet es ihm die Zunge ab und erkundigt sich danach, was sein Autor noch zu sagen habe. Irritierend in solchen poetischen Konstrukten ist die lakonische Stimmlage, die auch in dem Gedicht über den polnischen Dichter Tadeusz Peiper als Traktat über die falschen Prophezeiungen zum Ausdruck kommt.
Peiper „glaubte an die Sendung der neuen Kunst. Er hatte den Verdacht. / daß die Rivalen seinen Einfällen auflauerten. Daß sie falsche Boten / schickten, Frauen, verführerische Agentinnen fremder / Literaturen. Dämonen der Schnelle. Vampire mit unsichtbaren Fängen / bewaffnet.“ – so beginnt Krynickis Poem, in dem der geniale Dramatiker, Theatermacher und Romancier, Ignacy Witkiewicz, sich als der große Gegenspieler von Peiper erweist.

Der zweite Teil des Gedichtbandes besteht aus aphorismenartig gestalteten lyrischen Entwürfen, die sich ganz unterschiedlichen Themen – in aller Kürze – widmen. Buddha und Christus werden verglichen, jedoch ein Unterfangen, das vergeblich ist:

umsonst verbirgst du dich
in so vielen Verkörperungen.

Hiobs Schuld steht neben biographischen Reminiszenzen, und bei der Lektüre der Schriften von Fromm fällt dem lyrischen Ich nicht mehr ein, als:

Der Nekrophile hat verloren
und der Sadist hat die Herrschaft über uns erlangt.

Na und, fragt sich der Rezensent, der immer schneller durch das Bändchen mit dem konzeptuell anregenden Einband blättert. Dann und wann aber taucht das lyrische Ich wieder auf, nimmt Positionen an, wenn es sich zum Beispiel um die Poetik von Zbigniew Herbert handelt. Ihm verdankt der Lyriker Krynicki vor allem in den siebziger Jahren wertvolle Anregungen. In einem kurzen Text aus dem Jahre 1987 blitzen diese Gedankenassoziationen wieder auf. In einem Zitat aus dem Werk des 1998 verstorbenen, sicherlich bedeutendsten polnischen Lyrikers, setzt sich Krynicki mit der „sündigen Zunge“ auseinander, „mit der ich nicht mehr sprechen will“, weil er sich der heiligen Sprache nicht würdig fühle.
Leider verliert der Leser – nicht zuletzt – auf Grund der Verknappungen in der lyrischen Diktion immer wieder den gedanklichen Faden, der in der Übertragung von Esther Kinsky nicht immer überzeugend gezogen ist. Dennoch: ein kleiner Band voller unerwarteter Reflexionen, die sparsam aneinander gefügt, den Leser in eine neue steinerne Welt führen, deren Geheimnisse nicht gelüftet werden.

Wolfgang Schlott, die horen, Heft 202, 2. Quartal 2001

 

 

Friedrich-Gundolf-Preis 2000 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Ryszard Krynicki mit der Laudatio von Karl Dedecius, der Dankrede von Ryszard Krynicki und dem Urkundentext.

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

Zum 80. Geburtstag von Ryszard Krynicki:

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Ryszard Krynicki liest Gedichte bei einem Gala-Abend in der Nationalbibliothek in Warschau am 29. Oktober 2014.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00