Sandra Kerschbaumer: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Über die einen…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Über die einen…“ aus Peter Rühmkorf: Gedichte – Werke I. 

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Über die einen…

Das ist die Schande, das ist der Dreck,
das sind die uralten Lieder:
Über die einen geht man hinweg,
vor den andern wirft man sich nieder.

So einzig bist du nicht auf der Welt,
Verlierer aller Klassen –
siehe Tantalus, wenn ihm der Zweig wegschnellt
und er mag ihn nicht fahren lassen.

So ist es, der Gottesfürchtige klebt
beschaulich am Pappnen und Blechnen.
Wer dagegen im Blickfeld der Obenda lebt,
muß schon mit Ausfällen rechnen.

Mein emeritierter Vesuv steht leer
wie mein Bett, mein unbeweibtes;
ich leiste mir kein Pompeji mehr,
kein berauschtes und kein bestäubtes.

Zum Gaukler fehlt mir die Handvoll Glück,
zum Jeremias die Weitsicht;
und der Kummer bewirkt diesen bösen Blick,
vor dem sich die Unschuld bekreuzigt.

Das wird immer sichtbarer least not last,
daß ich mich verlustreich zermartre.
Viel lieber blickte ich bleiverglast
und blöd in den Domchor zu Chartres.

Ich frage mich nur, was lässet mich
so krampfhaft mit Engeln ringen?
Die Geister sind auch gewerkschaftlich
nicht recht zum Schweigen zu bringen.

Das fährt aus Pandoras Musicbox
in Fortunats Unglückssäckel:
stirnauf – stirnab – Paradies – paradox,
und ich find nicht den Dichtungsdeckel.

 

Der Kummer des modernen Zweiflers

Peter Rühmkorf hat die alten Lieder neu geschrieben und damit die Kluft überwunden, von der die erste Strophe spricht. Auf der einen Seite steht der über die Zeiten hinweg bewunderte Gesang, auf der anderen Seite das schnell vergängliche Alltagsbefleckte. Kein deutscher Poet der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Formen der Tradition so ernst genommen und gleichzeitig so gründlich zersetzt.
Dieses kreuzgereimte Lied mit seinen drei oder vier Hebungen in jedem Vers, mit seiner forschen Musikalität dient wie viele vor ihm dem Ausdruck von Gefühlen. Aber es sind nicht mehr die einfachen heiteren oder traurigen Gefühle des alten Volksliedes. Wie schon Heine und Benn, Tucholsky und Brecht verändert Rühmkorf die Form und den Inhalt. Er singt vom Kummer des zweifelnden Menschen, und sein Lied ist dabei nicht mehr schlicht und klar, sondern rauh und rätselhaft. Es zwingt verschiedene Sprachen zusammen: Das Vokabular der griechischen und christlichen Mythologie wird so anspielungsreich mit dem Umgangston verbunden, dass man das Gedicht nur schwer versteht.
Deutlich wird, dass der Sprecher sich als Verlierer fühlt – und dieser Gedanke wird in zwei Richtungen fortgeführt. Zum einen ist da die Sorge um den Stellenwert und die Haltbarkeit der eigenen Dichtung. Wird sie als der Dreck wahrgenommen, über den man einfach hinweggeht?
Zum anderen denkt der Sprecher über seine mangelnde Gottesfurcht nach, über den fehlenden Glauben in seiner Literatur. Das ist ungewöhnlich, denn eigentlich ist Peter Rühmkorf ein Dichter des Diesseits, der sich seit seinen Anfängen in den 50er Jahren der Sinnenwelt, der Feier ihrer Lust und ihrer Vergänglichkeit verschrieben hat. Doch in einer Phase melancholischen Nachdenkens während der langsam scheiternden politischen Hoffnungen der 70er Jahre schreibt er dieses Lied, das er in den Band Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich aufnimmt und das später noch einmal in seiner Werkausgabe erscheinen wird.
In diesem Lied findet sich der ausgediente Vesuv als extravagante Metapher für das Ende der kreativen und sinnlichen Ausbrüche, und in den folgenden Strophen sucht das beunruhigte Ich nach Gründen für den Rückgang seiner Eruptionen. Viele Dichterrollen stehen ihm nicht mehr zur Verfügung, die des reinen Artisten oder die des Propheten. Gleichwohl bewegt sich der Sprecher in der Tradition religiöser Selbstbefragung, wenn er in der siebten Strophe ein Ringen „mit Engeln“ und Geistern beschreibt, die „auch gewerkschaftlich / nicht recht zum Schweigen zu bringen“ sind. Er fühlt, dass er sich „zermartre“, und reimt das auf „Chartres“. Bei aller Ironie durch diesen artifiziellen Reim und andere sprachliche Kontraste entsteht der Eindruck, der Sprecher würde an einem Zustand leiden, in dem er nur noch von außen durch die berühmtesten Fenster der Hochgotik in den Chor der Kathedrale sehen kann.
Es ist also nicht nur eine Befreiung, es gibt auch Verluste, wenn man sich von den Göttern lossagt. Das bezeugen die mythologischen Spiegelfiguren am Anfang und am Ende des Gedichts. Tantalos hatte den olympischen Göttern Nektar und Ambrosia gestohlen und wurde von Zeus mit Qualen bestraft, die schon Homer beschrieb: Bis zum Hals im Wasser stehend, musste er dürsten. Fruchtbare Zweige voll balsamischer Birnen, Granatäpfel und grüner Oliven wirbelten davon, wollte er sie pflücken. Wer wie Tantalos, wer wie das sprechende Ich handelt, muss mit Folgen rechnen.
Zum Werk Peter Rühmkorfs gehört das Ringen mit dem eigenen Wert, mit Engeln und mit Widersprüchen. Es gehört aber auch ganz grundsätzlich zum menschlichen Dasein: seit der Vertreibung aus dem Paradies oder, mit dem Sündenfall der griechischen Mythologie gesprochen, seit dem Öffnen von „Pandoras Musicbox“. Denn Zeus stattete die erste von ihm erschaffene Frau mit großer Schönheit und einer stets verschlossen zu haltenden Büchse aus. Sie blieb nicht zu und so entwichen ihr alle Plagen der Welt. Zu diesen zählt das Zaudern und Suchen, das der moderne Zweifler hier vorführt, einer, über den man „hinweggeht“, der an nichts mehr glaubt und der keinen „Dichtungsdeckel“ – im spielerisch-doppelten Wortsinn – mehr hat, um all die sprunghaft angerissenen Gedanken und Fragen unter Verschluss zu halten.

Sandra Kerschbaumeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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