Sascha Anderson & Michael Wildenhain: Waldmaschine

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sascha Anderson & Michael Wildenhain: Waldmaschine

Anderson/Kerbach & Wildenhain/Schleime-Waldmaschine

ich bin die kreuzung vieler
unbeschrittener wege
ich bin das verlangen von auge
und ohr
ich bin die sehnsucht von mund
und auge
und ich bin auch die komödie
von mund und ohr
ich bin die begegnung derer
die sich nie begegnen
ich bin der handel von hand
zu hand
ich bin der fortschritt von fuss
zu fuss
und ich bin natürlich die tragödie
von der hand in den mund
ich bin der schnittpunkt zwischen
form und farbe
ich bin das medium im nirgendwo
der elemente
ich bin der zwitter aus dem beischlaf
der systeme
und ich bin selbstverständlich das drama
zwischen schwarzen herzen und roten handschuhn

Sascha Anderson

 

(BIS MORGEN IST MONTAG)

1
ein kleines klirren legt die stille um
schrill stirbt der ort auf eingefaßten wegen
in aufgebrauchten uhren rinnt die zeit und gegen
die ausgedehnten punkte sind alleen stumm.

2
aus deiner stummheit tropft der regen blind
gierige sätze sind der feind von wächtern
die steif gestärkten kittel an den schlächtern
finger sind ringelnattern falb
und ohne wind

3
wir schwiegen vor den tischen auf den zeigern
die lampe im zement macht jedes auge groß
die lippen werden vor den gesten bloß
und trocken
stickt das reden dürr von allen leibern;

4
die kabel stehen quer vor luft
aus eisen
gestänge schlägt aus kehlköpfen die schneisen
durch weißen rost verspricht die wand
den schnelle raum 1 nichts im dunklen sand.

Michael Wildenhain

 

 

 

Anti-Sätze, vierhändig

– Waldmaschine – eine Gesamt-Berliner Kollaboration. –

Waldmaschine ist ein Buch ohne Rückseite. Dafür hat es zwei Titelseiten und die beiden Wort-Bild-Sequenzen stoßen in der Mitte zusammen. Diese „Übung, vierhändig“ – wie sie der Untertitel etwas mißverstehbar nennt – ist eine Gemeinschaftsarbeit junger Künstler und Autoren aus Ost und West: je zwei Maler, zwei Poeten, je zwei Männer, zwei Frauen, und je ein Beiträger aus West-Berlin und einer aus Ost-Berlin. Der Titel dieser – wenn man will – Gesamt-Berlin-Übung ist Referenz und Reverenz an Heiner Müller und seine „Hamletmaschine“. Wald als Thema erscheint in Ralf Kerbachs „Hirschkampf“-Graphiken und in Cornelia Schleimes Postkarten-Übermalungen, partiell auch in den Texten Michael Wildenhains.
Wildenhain, der eine Erzählung aus der Hausbesetzerszene veröffentlichte, bietet mit „stock werk“ eine Collage aus eigenen und zitierten Texten (vor allem Hölderlin). Das möchte so etwas wie „wilde“ oder „heftige“ Poesie sein: Texttrümmer gleichsam wie Waldtrümmer: „und es gibt 1 baum und blätter / und 1 baum und blätter gibt 1 hochstand / und der hoch stand ist fürs jagen  und der baum ist 1 Eberesche.“ Aber Rolf-Dieter Brinkmann hat dergleichen besser und witziger gemacht. Angestrengt wirken Wildenhains Dada-Reime („tellur ist die rakete / für deutschland nur alete“) und sein saurer Kitsch („lutsch mir die eichel / zart bitter“). Dazwischen Hölderlin, zerstückelt, geschnipselt und manchmal nicht einmal korrekt zitiert: es gibt einen „Gesang des Deutschen“ aber keinen „Gesang der Deutschen“. Doch die alten Textfragmente leuchten noch aus dem modischen Silbenschutt hervor.
Ernsthafter und diskutabler ist Sascha Anderson, der in Ost-Berlin lebt, behindert und schikaniert und ohne Möglichkeit, dort Bücher zu publizieren. Ein Gedichtband und ein Reisebericht aus der DDR erschienen in West-Berlin. Anderson setzt gegen die literarischen und politischen Konventionen in der DDR die Sprachzertrümmerung seiner „antisätze“. Neben hermetischen Partien steht immer wieder Klartext, etwa: „ich zahl für nichtgestellte fragen.“ Das ist mehr als eine hübsche Paradoxie. Denn gezahlt hat Anderson offenbar auch die Fragen, die er gestellt hat. In seiner Textfrequenz „die Erotik / der Geier“, vor allem in dem Hauptteil „die knaben“, spiegelt sich seine Gefängniszeit in Luckau. In einer Art lyrischem Oratorium artikulieren immer neu auftauchende männliche Figuren Vorstellungen von Bespitzelung, Verhör, Folter – von Qual und Selbstqual, von Desillusionierung und dem Ende aller Utopie. Einmal heißt es: „Als ich drin war war draußen / die illustrierte ,freie Welt‘.“ Aber diese illustrierte Welt oder diese Welt als Illustrierte ist durchaus keine Alternative zu dem System, in dem Anderson lebt und leidet und an das er sich schmerzhaft gebunden fühlt. Der Schluß bringt die Paradoxie der Situation auf poetische Formeln:

ich bin der zwitter aus dem beischlaf
der systeme
und bin selbstverständlich das drama
zwischen schwarzen herzen und roten handschuhn.

Das erinnert an Heiner Müllers Positionsbestimmung in „Hamletmaschine“: „Mein Platz, wenn man Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.“ Bei Sascha Anderson scheint solches Drama noch oder wieder möglich – vielleicht weil er noch zwischen den Fronten steht und nicht darüber. Sein Text gibt dem Bändchen Waldmaschine Sinn und Gewicht.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1985

Schizophrenie zwischen aufgelösten Fronten? Sascha Anderson

Sascha Anderson war eine der schillerndsten Figuren der neuen Literatur in der DDR und ist es noch mehr seit seiner Enttarnung als Stasispitzel. Geboren 1953 in Weimar, lernte er Schriftsetzer und lebte in Dresden, bevor er 1981 nach Berlin zog. In Dresden und Berlin war er einer der ersten und aktivsten Organisatoren von Untergrundpublikationen. 1986 siedelte er nach Westberlin über. Eigene Bände von ihm erschienen bis 1990 nur im Westen. Nach dem Offenkundigwerden seiner Rolle als Mitarbeiter der Staatssicherheit fällt es heute schwer, seine literarischen Arbeiten unvoreingenommen zu lesen.
Als Einstieg in seine Poetik diene ein Text aus dem Reiseband totenreklame 1:

dann werden die dinge zeichen, und sie als das zu sehen, was sie sind, ist unmöglich. die errichteten denkmale werden spiegel, der weitere weg, schritte im labyrinth. die scherben spalten deine erscheinung und werfen deine abbilder in den sammelnden raum. „der wind, der von aussen kommt, bestimmt die richtung“.

Die poetologische Essenz der Sätze wiederholt die Erfahrung der Moderne, daß ein einheitliches Weltbild nicht möglich ist. Angespielt wird auf Philosopheme der postmodernen Diskussion. Unter der Flut der Signifikationen gebe es keinen Zugang zu den Bedeutungen und Sachen, nur ihre Bilder, ihr diffuser Abschein, sei wahrnehmbar, aber welche Eindrücke im Chaos Welt zu bevorzugen, wie Erfahrungen zu ordnen seien, könne nicht bestimmt werden. Dennoch bestünde ein Residuum der Unmittelbarkeit:

manchmal, wenn wir unsere sinne beieinander haben, hat die natur, wenn wir sehen, dass nicht alles durch uns vermittelt werden muss, die kraft, sich auszudrücken.
ihre stimme ist vielsprachig. sie hat niemanden an sich zu fesseln, und die kriegsgeschichte nicht in moralischen vereinbarungen zu halten.
die natur hat die wellen des Meeres, „die nichts erklären, aber alles ausdrücken“.

Wache Sinnlichkeit könne also Umwelt – Natur und Gesellschaft – partiell noch unvermittelt erkennen, aber nicht etwa Dichtung. „Meer“ als metonymischer Topos2 (Andersons Reise durch die DDR berührte an dieser Stelle die Ostsee) stehe für einen herrschaftsfreien, ungeordneten und unbegrenzten, moralisch nicht disziplinierten Zustand. Beide poetische Reflexionen werden im Schlußsatz in Derridaschem Duktus3 zusammengebracht:

das sind die spuren der schritte am strand, und wir sagen die stimme der brandung löse sie auf.

Das mehrdeutige, den Satz einleitende „das“ bezieht sich womöglich auf die oben erhoffte unmittelbare Sinnlichkeit. Das Paradoxon, in Erkenntnis des schwebenden Zeichencharakters der Sprache auch Unmittelbarkeit nur mit Worten andeuten zu können, wird oben mit einer poetischen Metapher, durch Animatisierung der Natur aufgehoben, denn „ich habe ausser meiner sprache keine / mittel meine sprache zu verlassen.“4 Auch die hier einleitend zitierte zeichentheoretische Passage, die mit „dann werden die dinge zeichen“ beginnt, relativiert die angedeutete Möglichkeit einer Unmittelbarkeit, denn „dann“ läßt sich sowohl kausal – etwa ,wenn wir am Meer sind, dann…‘ – als auch temporal interpretieren, temporal z.B. auch im Kontext der beiden im Band vor- bzw. nachstehenden Gedichte – als zwischen den Festlegungen der Begriffe zwischen Nacht und Tag stehend: „nachts / setzen wir die segel und kreuzen / den zorn / und der wind treibt die wellen / und die politiker setzen sich an die spitze“ bzw. „konzetto“5:

ich weiss“ „wir über
leben“ „ich dich
du mich“ „noch nie ging das geschäft mit fern
gläsern so gut wie heut
zutage

Der von beiden Gedichten eingeschlossene poetologische Prosatext, aus dem eingangs zitiert wurde, spielt sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch mit seinen Bedeutungen, spielt mit seinen Grenzen und Begrenzungen. Anderson führt hier raffiniert Theorie vor, erzeugt in „konzetto“ durch Verwendung von Anführungszeichen und Zeilenbruch einen zyklisch lesbaren Text, weist so auf den uneigentlichen Status und das immer Gleiche aller Rede. Im Gespräch nannte Anderson 1985 seine Position eine zwischen den Fronten, eine Position, „an der eigentlich die fronten aufgelöst sind“, eine Art produktive, aber „unbestimmte Geste“ in der „lücke zwischen wort und wort, wort und bild“ bzw., wie ergänzt werden kann, zwischen Text und Text, die er als „position der zukunft“ wünscht.6
Andersons Texte vermitteln seit seinem ersten Band, dessen Gedichte überwiegend aus den 70er Jahren stammten, eine fatalistische Stimmung. Die verworteten Wahrnehmungen gleichen Schritten in einem meist feindseligen Labyrinth, in dem das Ich sprachlich und gedanklich gefangen ist und dessen Einzelheiten es kaum zu orten, geschweige denn zu ordnen vermag. Die in diesem Band z.B. unter der Überschrift „krieg im tv“ zusammengefaßten Gedichte fügen Sprach- und Gedankenbrocken scheinbar willkürlich aneinander. So montiert Anderson in dem Text „mann kann watzmann geheissen haben“7 Bruchstücke eines frühmorgendlichen Bewußtseinsstroms, unterbrochen und gestört von Zeitansagen, wodurch man sich in die Gedankenwelt eines von äußerlichen Zwängen gejagten Menschen hineinversetzt meint. Die in dem Band oft benutzte Blockschreibweise, bei der bei Satzspiegelüberschreitungen rigoros (und kalkuliert) auch die Wörter gebrochen werden, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Einzelwort und dessen Bestandteile und suggeriert zugleich ein Ein- und Abgeschlossensein von Sätzen, von Sprache und Denken, und ein Ausgeliefertsein an die behördliche Umwelt. Der pessimistische Zug von Andersons Dichtung zeigt sich besonders in Gedichten wie „geh über die grenze / auf der anderen seite / steht ein mann und sagt: / geh über die grenze“ usw. oder dem Titelgedicht „jeder satellit hat einen killersatelliten“.8 Aus der scheinbar ausweglosen Verfassung der Welt leitet das lyrische Ich die Bedeutungslosigkeit moralischer Werte ab:

[…] was
hat das dasein fürn sinn wenn keiner weiss
wer wen verraten wird bin ich da denn noch
meiner worte hirt im sekundenkostüm.
9

Das Lebensgefühl des körperlichen, geistigen und sprachlichen Eingemauertseins, aus dem es ein Entrinnen nur in sprachliche Hermetik zu geben schien, konnten viele Altersgefährten an Andersons Poetik nachvollziehen. Überzeugend war vor allem sein Eintreten für das Etablieren einer Untergrundkultur unterhalb der unabänderlichen Feindlichkeit der staatlichen Instanzen. Wenn er in Waldmaschine den „73. MANN“ sagen läßt, „die form geht in den untergrund. / die funktionäre sind im widerstand“10 ließ sich das als Argument für den Rückzug in die Nische Kunst lesen – ein lebbarer individueller Ausweg angesichts der hoffnungslosen Lage für Künstler und Literaten. Selbstreferentielle Kunst bot die Möglichkeit, nicht mehr reagieren zu müssen „auf repression oder innenpolitische (kulturpolitische) bewegungen“, erlaubte „formal breitgefächerte reduzierung auf allgemein menschliche, elementarste und existentielle probleme.“11 In einem Interview erklärte Anderson 1987:

Ich bin kein Fatalist, aber ich glaube, daß ich so realistisch bin zu wissen daß sich die Dinge so entwickeln, wie sie sind. Wir können nichts dagegen tun, außer die Entwicklung so gut wie möglich zu stören. Das bedeutet nicht, sie zu zerstören, sondern in ihr Risse, Lücken zu schaffen.

Die Lücke zwischen Kunst und Leben sei unter DDR-Bedingungen „ein perverser Zwischenraum“ geworden, in den er „Begriffe wie Manierismus und Dekadenz“ füge.12
Andersons Texte haben sich nie auch nur in der Nähe der in der etablierten DDR-Literatur gängigen Poetologien bewegt. 13 Während man in seinem ersten Band Gedichte findet, die im surrealistischen Sinne mit unbewußten, alltagssprachlichen oder der Literatur entnommenen Komponenten spielten, versuchte er später, die gesellschaftliche Sprachverfassung parasitär und ,cool‘ zu benutzen – eher um sie bloßzustellen, als um innovativ sein zu wollen. („Wahrnehmung von Sprache […] Das sind einfach Zitate des Lebens, der Sprache. Zitate sind Material, was ich ungeheuer schätze. Das ist ein Teil meiner Substanz.“14) Indem er sprachliche Versatzstücke einander konfrontierte, bot er teilweise deutlich politisch opponierende Leseweisen an (z.B. seine „eNDe“-Gedichte15), aber häufig wurden Sprachphrasen so zersplittert und rekombiniert, daß ihre ursprünglichen Kontexte kaum noch zu ahnen sind, daß Texte entstehen, die sich einer sinnhaften semantischen Rekonstruktion weitgehend verweigern. Seine Anlehnung an teils formenaufsprengende amerikanische Vorbilder, teils an den Manierismus als Kunst einer Verfallszeit 16 weckt gelegentlich den Eindruck von „Formeneklektik“ und „Schwulst“. 17 Andersons sich Stiltypologien entziehende Texte lassen sich als Geste des Abschieds aus einem Zustand sozialer Perversität rezipieren, denn Kunst kann sich einer amoralischen Gesellschaft moralisch nur durch Autonomie entziehen. Das heißt, Kunst selber wird dann amoralisch, und zwar in einem doppelten Sinn, zum einen braucht sie keine Moral mehr zu transportieren, zum anderen kann sie sich über eine moralische Angemessenheit von Mitteln hinwegsetzen. Unmittelbar einleuchtend waren daher auch Songtexte von Anderson wie:

ich bin kein artist mach kein spagat
ich häng mit meinem weissen hals im heissen draht
ich bin kein artist also bleibe ich hier
auch wenn mir dabei noch das herz erfriert

Allerdings geben die hierauf folgenden Zeilen „ich bau mir meine mauer selber durch den leib / die eine hälfte fault sofort die andre mit der zeit“18 heute Anlaß, hierin ein Verratsbekenntnis zu wittern. Wenn Kunst sich ausdifferenziert und in ihr alles, was funktioniert, erlaubt ist, heißt dies aber keineswegs, daß – wie Anderson wohl glaubte – die Amoral der Kunst auch Amoral außerhalb des Kunstdiskurses legitimiert. Im Gegenteil, das Individuum muß gerade dann seine Entscheidungen auch selbst moralisch verantworten und kann sich nicht mehr über Einschluß in die stratifizierte Sozialstruktur entlastet fühlen.
Aus Andersons Gedichten und Prosa, seinen Interviews und essayistischen Texten gewinnt man den Eindruck eines Sprechens, das sich jeder psychologisierenden Deutung entziehen will, aber dennoch geradezu zu einer persönlichen Zurechnung herausfordert. Cosentino hat bereits 1986 bemerkt:

[…] ist doch im Großteil der Andersonschen Texte das lyrische Ich vom empirischen Ich kaum zu trennen, selbst dort nicht, wo es unter verschleiernder, obskurierender Maske erscheint.19

Dieser Eindruck wird durch attitüdenhafte Insistenz auf einem dichterischen Sprechen zwischen den Fronten verstärkt:

ich bin nicht schizophren, sondern ich bin der, der schizophrenie als mittel zur verfügung hat. d.h., ich brauche nicht die zwei welten, in denen ich existiere und mich ausdrücke, und ich kann eine immer sterben lassen. welchen sinn das hat, interessiert dabei erstmal weniger als die möglichkeit. ich verfüge über die mittel der schizophrenie, ohne selbst betroffen zu sein.20

Das Rätselhafte oder Ver-rätselte seiner Gedichte, das zu Verstehensanstrengungen zwingt, führt – heute natürlich erst recht – unvermeidlich zu Interpretationsversuchen anhand der Person des Autors. Anderson weist einerseits solche Deutungsversuche, solche ins Individuelle gehenden „Grenzüberschreitungen“ prinzipiell zurück:

Es gibt bestimmte Gründe, einen Text formal so zu schreiben, daß ihn nicht alle verstehen. […] Wenn man das als Demonstration begreift, kann man das Gedicht auch wieder verstehen. Man muß akzeptieren, daß ein Gedicht kein ,an alle‘, nicht der Satz Lenins ist, sondern eine Privatangelegenheit. Wenn man akzeptiert, daß Gedichte privat sind, sind sie jedem verständlich.21

Andererseits unterläßt er in Gesprächen kaum einmal, auf seine Haftzeit zu verweisen, erklärt Texte aus seiner Biographie und gibt ein Versteckspielen zu.22 Als müsse er den Vorwurf der Maskenhaftigkeit vorbeugend entkräften, verwarfen seine theoretisierenden Texte wiederholt jede Ästhetik, die sich als „Maske“ für etwas anderes, z.B. die Psyche, begreift. In Kunst gehe es um das Verselbständigen des Mediums gegenüber dem Schreib-/Malanlaß, um die Differenz von Kunst gegenüber Welt. Kunst sei „das verschwinden der tatsachen“; Bilder – und wohl auch Gedichte – sollte man daher „existenzen nennen […], da sie, von ihren funktionen befreit, an den begriffen nur noch wie am erinnern hängen“.23 Ungeachtet solcher Statements, ließ Anderson nicht ab, in Gedichten gerade mit Maskierungen zu kokettieren, z.B.:

wir schreiben nicht oft gedichte,
die mit niemandem sprechen. wir
schweigen mitunter ein leben
länger als gut
ist, ein gedieht, ist ein bild
das nichts von sich weiß
wie eine maske aus nektarinen
schalen, fleisch
und blutleeres gemäuer
[…]24

Auch in dem wichtigen Gedicht „brunnen, randvoll“ taucht das Motiv auf:

ich will sagen wie es ist, wenn man hört
was man nicht sieht, maskiert die katastrophe
das erinnern, als wären es alles nur worte

[…]

schrei aus dem
fundament, geste aus staub
im gedächtnis, wandernde zone des irren gelächters
ariadnefabrik
25

Andersons Dichtung mag möglicherweise biographische Katastrophen maskiert haben, aber das ist ein Befund, der auf Literatur, seit sie in der Moderne privatisiert und nicht mehr Wahrheitskünder ist, allgemein zutrifft. Eine „ariadnefabrik“ zu sein und unentwegt „das verschwinden der tatsachen“ in Worte, zu Chiffren in Gang zu halten, ist Charakteristikum weiter Teile moderner Literatur überhaupt und nicht Erkennungszeichen von Verratslyrik.
Vergleicht man Andersons frühe mit späteren Texten, zeigt sich eine Zäsur, die nach seiner Haftstrafe 1979 liegt. Um 1980 habe er, wie er sagte, entdeckt, „daß mein ganzer grund vom gesprochenen Satz herkommt“.26 Eine ganze Reihe der Texte aus den 80er Jahren lesen sich wie eine unaufhörliche, aber von vornherein hoffnungslos zum Scheitern verurteilte Identitätssuche mittels poetischen Sprechens, die immer persönlicher wird. In Waldmaschine und dann mit großer Intensität in brunnen randvoll werden Hafterlebnisse als Stoff genutzt. Die in letzteren Band aufgenommenen Prosastücke, in denen sich Monologe mit erzählenden Passagen mischen, schildern Vorgänge schlimmster psychischer und physischer Vergewaltigung und Entmenschlichung:

ALLE SIND GLEICH, AUCH WENN DIE EINEN TIERE UND DIE ANDEREN MASCHINEN SIND, UND WIEDER ANDERE DER GRUND DAFÜR.27

Der „Brunnen randvoll“ scheint gefüllt mit Fäden solcher Erinnerungen, die, einer „ariadnefabrik“ gleich, Text generieren. Die Waldmaschine noch hatte das Ich leer zurückgelassen, Tod erzeugt:

brunnen wie leere brunnen
[…]
da sass ich im café
der marmor das gewendete blatt kälter von wort
zu wort & die geier nisten nahe
„papiermühle & wald“

es waren „die brunnenbauer verdurstet“.28 „papiermühle“ läßt sich im Verlauf des Zyklus als Metapher für den Stalinismus identifizieren, „wald“, als Verbindung von Massenpsychose und Macht, als Metapher für den deutschen Faschismus.29 In dem Panorama von Gewalttätigkeit, Verrat und Tod, das beide Bände entfalten, gehen Faschismus und Kommunismus nahtlos ineinander über.30 In diese Szenerien verstrickt, klingt Andersons jüdische Abkunft als Problem an, als Position eines Außenseiters, eines Parias.31 Als Auseinandersetzung damit ließ sich schon sein erstes veröffentlichtes Gedicht 1978 lesen32, ein Thema, das im Prosatext „Einmal bekam ich ein Paket Eingewecktes ohne Absender“ direkt zur Sprache kommt. Der mitgefangene alte Jude Löwenthal sagt dort zum Ich-Erzähler „BIST AUCH NUR EIN JUD, MEIN JUNGCHEN, EIN PRÄCHTIGES EXEMPLAR DER AUFLÖSUNG“.33 Andersons Texte präsentieren sich aus dieser Sicht wie eine überlebensnotwendige Flucht in ein literarisches Niemandsland jenseits der Moral, zwischen Mittäterschaft und Widerstand, zwischen jüdischer und deutscher Vergangenheit, zwischen Süden und Norden:

Meine jüdische Tante hat ihr haustier
süden genannt,

[…]
[…] wind und fluch wurden
eine familie und ihr nördliches kind
aus eisigen samen nannten sie hölderlin
.34

Den beiden oben angesprochenen Texten mit den Titeln „brunnen, randvoll“ folgt im gleichnamigen Band das Gedicht „1304“35, in dem ein Ich als verfolgter Verfolger spricht, der für die vernichtete und verratene Moral im Ästhetischen Kompensation versucht:

selbstverständlich sind mir die gesetze
bekannt. nicht umsonst leb ich wie
wasser die richtung ändert.
an dieser stelle
halt ich mich fest by icy propositions
flowing verse and evaporated words auf kleiner flamme.
unter dem topf der andere kontinent, laura
entweicht abends
wenn der ventilator sich andersrum dreht.

Das jüdische Trauma dient dazu, Amoral als Überlebensstrategie der Ausgestoßenen auszugeben. Andersons literarische Maskierungen und Chiffrierungen lassen sich als Identitätssuche eines in der DDR in jeder Weise ortlos gewordenen Ichs verstehen, in seinen „Fragmenten irrealer Bildkonstellationen läßt sich bei aller Vieldeutigkeit trotzdem aber suggestiv die innere Beteiligung des Autors erspüren“36, der die Kommunikationsform Kunst dringend braucht, um sich noch als Individuum mitteilen zu können:

ich bin das medium im nirgendwo
der elemente
ich bin der zwitter aus dem beischlaf
der systeme
und ich bin selbstverständlich das drama
zwischen schwarzen herzen und roten handschuhn
37

Die von Anderson poetisch demonstrierte Unmöglichkeit, ein identisches Ich konstruieren zu können, entsprach den Lebenserfahrungen und dem Zynismus vieler Gleichaltriger, die sich bedroht, wurzel- und heimatlos fühlten und sich der dem ganzen Staat inhärenten Schizophrenie bewußt waren, entsprach deren Absage an staatliche Sinnvorgaben und dem Mißtrauen gegen neue ganzheitliche Sinnvorstellungen, entsprach dem privaten Rückzug aus dieser Gesellschaft und der Zuwendung zur autonomen Formfindung in der Kunst. Die Ich-Dissoziation wurde bei keinem anderen Autor so weit getrieben wie bei ihm. An zentraler Stelle in Waldmaschine findet sich die Passage, „jeder, der spricht, stirbt“ (52. Mann). Identität läßt sich zwischen „papiermühle“ und „wald“, zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, für ein Ich gerade noch in zweideutigem, selbstmörderischem Sprechen herstellen:

keiner hört mehr auf zu sprechen.
künstliche pausen.
das bisher formulierte, das aus monologen
marschierende ich schlägt zurück.
erinnern setzt ein.

[…]
die identitätsfabrik öffnet den mund.

Außerhalb seiner selbst ist das Ich dann, wenn es schläft, dann bekommen ,die anderen‘ die Macht über es:

schlaf ein. verweigere dich nicht.
wähle nicht. entwaffne dich und wage
die gewaltsame trennung.

Im Schlaf verliert das Ich gänzlich seine Identität, gibt sich sterbend einem Traum hin:

[…] unter den trümmern
der stadt, bin ich die quelle des verrats
& stürze den staat

in die theoretische wanne,
[…] (77. Mann).

Das ist ein Sprechen, das meint, der Diktatur über Prinzipienlosigkeit, mit ihren eigenen Mitteln, die sinnhafte Legitimation rauben und so zum Erlöser werden zu können, eine Vermessenheit, die als Literatur provoziert, aber jenseits von ihr eben Verrat ist.

Ekkehard Mann, in Ekkehard Mann: Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR. Eine systemtheoretische Analyse, Peter Lang Verlag, 1996

Die Absage in den achtziger Jahren

1980 bis 1984: Apokalyptik und Verweigerung

(…) Sascha Anderson (*1953) wurde offiziell in der DDR erst 1983 literarisch existent. Da hatte er in Westberlin bereits zwei Bücher mit eigenen Texten herausgebracht. 1982 Jeder Satellit hat einen Killersatelliten und 1983 die Totenreklame. Und während ihn die DDR-Literaturbeamten weiterbeobachteten, verschwiegen oder benutzten, erschienen im Westen 1984 die Waldmaschine und 1988 Brunnen, randvoll. Ein Dichter der also im wahrsten Sinne im Underground wirkte.
Er war einst von Weimar aus aufgebrochen. Zu Beginn der achtziger Jahre lebte er in Dresden und mischte dort in der alternativen Szene wesentlich mit (der Versuch, gemeinsam mit E. Erb eine Anthologie mit Szene-Autoren herauszugeben, war an der Zensur gescheitert). Dann Übersiedlung nach Berlin, wo er sich sofort als Lokomotive an die Spitze der Prenzlauer-Berg-Szene setzte. Erst jetzt jene erste DDR-Veröffentlichung in der Vogelbühne. Da war er bereits dreißig und riet.

schulbücher zu den sagen m der ferne
gefallener
aaaaaaaaaaaahelden
wirf über bord kind
der pirol kommt ans fenster
38

und

der fluß muß in den steinen
zu finden sein
39

Gewiß, das nahm sich zunächst noch brav und zahm aus gegen jene Texte, die inzwischen via Westberlin oder in Wohnungslesungen von ihm in die Szene drangen. Da strafte er die DDR – zumindest im öffentlichen Wort – einfach mit Verachtung:

Die DDR als Gebilde interessiert mich nicht.

Er akzeptiere sie lediglich als Landschaft, in der er zu leben gezwungen sei und wo er seine Freunde habe. Er war bereit, sich von der Sprache der Macht zu befreien und die Macht einfach zu ignorieren.40 Für Autoren wie V. Braun war der Sozialismus immerhin noch ein Panzerzug; seine Waffen der Schrecken, und wir darin abgeschirmt und gefangen. Für S. Anderson und seine Szene-Lyriker bestand eine solche Abhängigkeit offensichtlich schon gar nicht mehr. Ein V. Braun, der immerhin noch an eine Möglichkeit der Humansierung des Sozialismus glaubte, war für sie suspekt, sein Panzerzug schon nur noch eine Chimäre und die ganze Bedeutungsträgerliteratur ekelhaft. Man stellte all dem ein  absolutes Nein entgegen: Nein zum erbgut mit seinem grundsätzlichen Ja. Und S. Anderson schrieb und wirkte – zumindest in dem, was er gucken ließ – mit trotziger anarchistischer Geste. 1983 wurde er vorbeugend festgenommen. 1986 verließ er die DDR.
Später gab es Belege, die S. Anderson, den Lokomotivführer in der Prenlauer-Berg-Station, der Konspiration mit den Zugführern des Panzerzugs bezichtigten. Er besaß gar – nach der Maßgabe des Ministeriums für Staatssicherheit, alle Schlüsselpositionen mit IMs zu besetzen – eine Führungsrolle im Kunstkombinat Prenzlauer Berg, durch die er, bald als Aktivposten und Verführer, bald als Bremser und Verhinderer, zeitweise einen stärkeren Einfluß auf die alternative Literaturszene ausüben konnte als die staatlichen Inspizienten.
Und S. Anderson, inzwischen zur Symbolfigur für Verrat avanciert, antwortete nach der Wende mit seinem Jewish Jetset (was für vieldeutige Titelmetapher!): ein handel wars: daß die mühlen den wind bewegen, während die motorsägen halshoch umgingen. Doch die bühne dreht sich, und der marionett legte das höfische brautkleid ab. Er hatte VERIRRT sich am Himmel – was nun? Es waren die Elegien, Lamentationen und aggressiven Selbstbeschuldigungen eines als geisel genommenen und gedienten Schlitzohrs41 vor dem hintergrund mit einem boot namens Simon:

dies ist die geschichte des schreckens des jünglings,
der, was geschah, noch einmal geschehen ließ. nur so
war es möglich, die herzlose frau heim, an den ort der ewigen
jagd, das gedächtnis, zu treiben, hündisch, nestagio,
ein am bildrand nach innereien lechzendes haustier
BÖSE IST DER MENSCH: SCHLECHT RIECHT SEIN FLEISCH
SCHON EIN PAAR TAGE SPÄTER (DOCH WER GUT TRIFFT; DER SOLL AUCH GUT ESSEN):
nun sieh, was du sahst, das hirnrissigste durcheinander
vor der erfindung des feuers
42

Doch S. Anderson blieb uns schuldig, welchen der biblischen Simone er meinte: den Märtyrer Zelotes; den Kreuzträger Simon von Kyrene, Christi schweres Kreuz nach Golgatha schleppend; oder den Lügner Simon Petrus, der seine Jüngerschaft aus Angst verleugnete. Stattdes das Bekenntnis:

wo ich vieh bin
war ich fleischtransport

Und:

Wie jauche stinkt vergangenheit:
einem trick bin ich aufgesessen. der szene
das volk jagt den narren (genauer) den vers
der hermaphrodit, der zuguterletzt
übrigblieb, durch die stadt, der platz
zwischen zwei brandmauern; … das kreuz
an jesu christi genagelt: ja… vergib, daß ich’s nicht
als falschgeld ausgeb was auf mich niederhagelt
43

Ein enttarnter Judas Ischariot bekennt sich zu seiner Not. Er selber – von seinen Führungsoffizieren, denen er sich als Ermittlerknecht verschrieben hatte, als feindlich negativer IM eingeschätzt – lebt nun unterm Trauma des Verrats:

Die Probleme lähmen mich so, daß ich nicht einmal weggehen kann.44 Trotz allem gilt: Ecce poeta! Wir haben es in der Literatur oft genug erfahren: In wunderlicher Schizophrenie verriet der Denunziant den Dichter in sich und den anderen: Jewish Jetset.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der S.anderson“.

 

Sascha Anderson antwortet auf die Standartfragen von faustkultur.

 

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Michael Wildenhain – Videointerview bei LiteraTür.

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